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GLEICHHEIT/4803: Russland besorgt über NATO-Truppenabzug aus Afghanistan


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Russland besorgt über NATO-Truppenabzug aus Afghanistan

Von Clara Weiss
23. August 2013



Russland hält den Truppenabzug der NATO aus Afghanistan für verfrüht und fürchtet, dass die ethnischen und religiösen Konflikte im Mittleren Osten auf die Länder der ehemaligen Sowjetunion übergreifen.

Der russische Vize-Verteidigungsminister Anatoli Antonow hat letzte Woche erklärt, der komplette Abzug der NATO-Truppen bis Ende 2014 sei "zu überstürzt". Er warnte, dass in Afghanistan noch keine "heimischen Sicherheitskräfte geschaffen wurden, die in der Lage wären, den radikalen Elementen entgegenzutreten". Antonow kündigte an, Moskau werde "sehr viel" tun, um "unsere Kontingente" in Tadschikistan und Kirgisistan zu verstärken.

Zurzeit sind noch 68.000 US-Soldaten in Afghanistan stationiert. Der von den USA eingesetzte afghanische Präsident Hamid Karzai kündigte im Mai an, dass die USA über 2014 hinaus mindestens neun Militärbasen in Afghanistan behalten werden.

Russland und die zentralasiatischen Staaten Kirgisistan, Usbekistan und Tadschikistan haben den NATO-Krieg gegen Afghanistan umfassend unterstützt, vor allem aus Angst vor einer Ausweitung des Einflusses radikaler Islamisten in der Region. Radikal islamistische Kräfte wie die tadschikisch-usbekische Islamistische Bewegung Usbekistans (IBU) unterhalten enge Verbindungen zu den afghanischen Taliban und operieren größtenteils von Nordafghanistan aus. Auch radikal islamistische Tendenzen im russischen Nordkaukasus werden von den afghanischen Taliban unterstützt und ausgebildet.

Russland hat die US-Invasion Afghanistans logistisch ermöglicht und in den letzten Jahren Waffen und finanzielle Unterstützung für das Karzai-Regime zur Verfügung gestellt. Kirgisistan und Tadschikistan sind neben einer Reihe weiterer osteuropäischer und kaukasischer Staaten Teil des Northern Distribution Network, über das die NATO-Truppen in Afghanistan versorgt werden. Usbekistan hat der NATO seinen Luftraum zur Verfügung gestellt.

Die Zusammenarbeit in Afghanistan stellte jahrelang den Hauptberührungspunkt zwischen den Interessen Russlands und der USA dar und bildete eine wichtige Grundlage für die "Reset-Politik" zwischen 2008 und 2012, die einen "Neustart", eine Verbesserung der Beziehungen anstrebte.

Die imperialistische Besetzung Afghanistans hat die ethnischen und religiösen Konflikte im Land verschärft, von denen auch die Nachbarstaaten in wachsendem Maße betroffen sind. Trotz eines jahrelangen Krieges von enormer Brutalität ist es den USA und ihren Verbündeten nicht gelungen, die Taliban zu besiegen.

Der russische Militärgeheimdienst GRU warnte im Mai, nach dem NATO-Truppenabzug sei mit einem wachsenden Einfluss der radikal islamistischen Taliban in Afghanistan und international zu rechnen. GRU-Chef Igor Sergun meinte, die Situation in Afghanistan stelle "eine ernsthafte Herausforderung für die internationale Sicherheit" dar.

Wladimir Scharichin, Vize-Direktor des russischen Instituts für die GUS-Länder, sagte der Kreml-nahen Zeitung Vzglyad Anfang August: "Wir [Russland] haben praktische keine Grenzen mit den Ländern Zentralasiens ..., deswegen sind unsere Außengrenzen im Wesentlichen die Grenzen der zentralasiatischen Staaten. Das heißt, wir werden diese Länder verteidigen - wir haben gar keine andere Wahl."

Russland unterhält in Tadschikistan, das im Süden an Afghanistan grenzt, seine größte Militärbasis im Ausland, die aus drei einzelnen Basen bestehende 201. Militärbasis. Insgesamt sind dort 7.000 russische Soldaten stationiert. In Kirgisistan stehen 700 russische Soldaten. Zudem liegt in Nähe der Hauptstadt Bischkek die russische Luftbasis Kant.

Der Kreml betrachtet beide Basen als wichtigste Stützpunkte seiner Interessen in Zentralasien. Er reagiert auf den Truppenabzug aus Afghanistan, indem er seine militärische Präsenz in Zentralasien erhöht und Kirgisistan und Tadschikistan aufrüstet.

Der russische Präsident Wladimir Putin und sein tadschikischer Amtskollege haben Anfang August vereinbart, die Laufzeit der 201. Militärbasis bis 2042 zu verlängern. Außerdem stellt die russische Regierung der tadschikischen Armee Finanzhilfen in Höhe von 200 Mio. US-Dollar zur Verfügung. Kirgisistan bekommt vom Kreml zur Aufrüstung seiner Armee eine Milliarde US-Dollar.

Putin hat außerdem die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, zu der neben Russland auch Weißrussland, Armenien, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan gehören, aufgefordert, "einen effektiven Stufenplan praktischer Aktionen" auszuarbeiten, um nach dem Truppenabzug aus Afghanistan "mögliche Risiken für unsere Länder zu minimieren".

Mit der wachsenden Instabilität in Afghanistan und im Mittleren Osten drohen auch ethnische und nationale Konflikte im post-sowjetischen Raum wieder aufzubrechen. Solche Konflikte waren mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder aufgeflammt und werden seit Ende der 1990er Jahre nur notdürftig unter Kontrolle gehalten.

Den unmittelbarsten Einfluss hat die Lage in Afghanistan auf das angrenzende Tadschikistan und Usbekistan. In Tadschikistan herrschte von 1992 bis 1997 ein blutiger Bürgerkrieg, der rund 100.000 Menschen das Leben kostete und die Wirtschaft und Gesellschaft des Landes praktisch vollkommen zerstörte. Hunderttausende flohen damals nach Afghanistan.

In Tadschikistan dominiert die ethnische Gruppe der Tadschiken, eine persische Volksgruppe iranischer Herkunft, die gleichzeitig auch über ein Viertel (27%) der Bevölkerung Afghanistans und bis zu 10 Prozent der Einwohner Usbekistans ausmacht. Im Norden Afghanistan leben in absoluten Zahlen mehr Tadschiken als in Tadschikistan selbst.

Im Bürgerkrieg 1992-1997 kämpften die Eliten verschiedener Regionen des Landes um die politische Macht und die Kontrolle über den Prozess der kapitalistischen Restauration. Gegen die Regierung stellte sich ein Bündnis der Demokratischen Partei, der Berg-Badachschaner Autonomie-Bewegung und der Partei der Islamistischen Wiedergeburt (PIW).

Die PIW war aus dem islamistischen Untergrund der 70er und 80er Jahre in der Sowjetunion hervorgegangen, der vor allem durch die sowjetische Invasion in Afghanistan 1979 radikalisiert worden war. Teile der islamistischen Bewegung in den post-sowjetischen Staaten unterhalten seit Jahrzehnten enge Verbindungen zu den Moslembrüdern und den Taliban.

In den Bürgerkrieg waren auch Usbekistan und Russland verwickelt, die seit 1994 die Regierung von Emomalii Rahmon unterstützten. Der Iran intervenierte zwar nicht militärisch, stellte sich aber politisch auf die Seite der Opposition. 1997 schlossen Opposition und Regierung unter starker Einflussnahme des Kremls ein Friedensabkommen, das nicht zuletzt von der Angst vor dem wachsenden Einfluss der Taliban in Afghanistan motiviert war.

Radikale Tendenzen der PIW, die mit dem Abkommen nicht einverstanden waren, spalteten sich in die Islamistische Bewegung Usbekistans (IBU) ab. Die IBU wird von den Taliban unterstützt und hat gemeinsam mit ihnen in Afghanistan gegen die US-Besatzung gekämpft. Sie ist vor allem im an Afghanistan grenzenden Süden Tadschikistans aktiv, soll aber auch in anderen zentralasiatischen Staaten präsent sein. Die südliche Region Berg-Badachschan stellt auch die Haupttransitroute für Heroin aus Afghanistan nach Russland dar.

In der Region kommt es immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen. Bei den Auseinandersetzungen geht es oft um die Kontrolle über den Drogenhandel, sie werden aber auch von regionalen und religiösen Spannungen überlagert. Letzten Sommer kamen bei Kämpfen in Berg-Badachschan, deren genauer Hintergrund unklar ist, Dutzende Menschen ums Leben. Seit Anfang dieses Jahres geht die Regierung in der Provinz verstärkt gegen Kämpfer der IMU vor, deren Einfluss laut Angaben aus Duschanbe wächst.

Schon zu Sowjetzeiten lebten 60 Prozent der Bevölkerung Tadschikistans in Armut, heute ist das Land eines der ärmsten in Asien. Die Einkünfte von in Russland arbeitenden Tadschiken machen fast die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts aus. Angesichts der enormen sozialen Spannungen fürchtet das Regime in Duschanbe, dass durch einen wachsenden Einfluss der Islamisten die Lage schnell außer Kontrolle geraten könnte.

Modest Kolerov, ein bekannter, Kreml-naher russischer Journalist und Historiker, warnte gegenüber Vzglyad, dass es unter dem gegenwärtigen tadschikischen Regime keine Aussichten auf eine stabile Grenze zwischen Tadschikistan und Afghanistan gebe. Auch der Zerfall des Landes in drei von verschiedenen ethnischen Gruppen dominierte Teile sei möglich.

Gleichzeitig ist das Verhältnis zwischen Tadschikistan und dem westliche angrenzenden Usbekistan seit der Erklärung der Unabhängigkeit beider Länder 1991 vor allem wegen Konflikten über Gaslieferungen und den Zugang zu Wasserressourcen äußerst gespannt. Eine Eskalation der Lage in Afghanistan und in Tadschikistan droht so, regionale und nationale Konflikte wieder anzufachen, die die gesamte Region in ethnische und militärische Auseinandersetzungen stürzen könnte.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 23.08.2013
Russland besorgt über NATO-Truppenabzug aus Afghanistan
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. August 2013