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GLEICHHEIT/4850: Neue Regierungskrise in Italien


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Neue Regierungskrise in Italien:
Fünf PdL-Minister wollen zurücktreten

Von Marianne Arens
1. Oktober 2013



Fünf Monate nach ihrem Amtsantritt steht Italiens Regierung erneut vor dem Ende. Am Samstag brach die von Enrico Letta geführte Koalition aus Demokraten (PD) und Berlusconi-Anhängern (PDL, Volk der Freiheit) auseinander, als alle fünf Minister der Berlusconi-Partei ihren Rücktritt bekanntgaben.

Kurz vorher hatte Premier Letta (PD) eine Vertrauensabstimmung im Parlament für diese Woche angekündigt, um klare Mehrheiten zu schaffen, wie er sagte. Er reagierte damit auf die Drohung der PdL, bei einem Ausschluss Silvio Berlusconis aus dem Senat die Regierung platzen zu lassen.

Als Vorwand für ihren jetzigen Rückzug aus der Regierung nutzte die rechte PdL ihre Unzufriedenheit mit Lettas Entscheidung, die Mehrwertsteuer am heutigen Dienstag (1. Oktober) anzuheben. Berlusconi forderte die PdL-Minister in einem Brief auf, zurückzutreten, "damit sie und das Volk der Freiheit nicht Komplizen von Maßnahmen werden, mit der die Linke die Italiener unterdrückt".

Mit diesem populistischen Appell an die weitverbreitete Wut über Lettas unsoziale Agenda versuchte Berlusconi, die Folgen seiner Verurteilung wegen Steuerhinterziehung Anfang August zu umgehen, die von Rechts wegen den Ausschluss von allen politischen Ämtern nach sich zieht. Auch seinen Prozess wegen Richterbestechung hat er Mitte September verloren. Weitere Prozesse wegen Sex mit Minderjährigen, Amtsmissbrauch und Abgeordneten-Bestechung stehen kurz vor dem Abschluss. Dennoch will der 77-Jährige seinen Senatorensitz behalten.

Mitte September hatte der Immunitätsausschuss des Senats gegen ihn entschieden, und am kommenden Freitag soll die Abgeordnetenversammlung das letzte Wort haben. Vergangenen Donnerstag haben schon mehrere PdL-Abgeordnete aus Protest gegen Berlusconis Ausschluss aus dem Senat ihren Rücktritt eingereicht.

Letta, der in der vergangenen Woche in New York an der UN-Versammlung teilnahm, kündigte sofort nach seiner Rückkehr die Vertrauensabstimmung an. Daraufhin gab sein Stellvertreter, der Berlusconi-Vertraute Angelino Alfano (PdL), am Samstag die Demission aller fünf PdL-Minister bekannt.

Die Regierungskrise spielt sich vor dem Hintergrund einer neuen tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise ab. Italien erlebt die längste Rezession seiner Geschichte und ist erneut tief in Verschuldung geraten. Der IWF geht davon aus, dass die italienische Wirtschaft in diesem Jahr um 1,8 Prozent schrumpft. Die Staatsschulden betragen über zwei Billionen (zweitausend Milliarden) Euro oder über 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Neuverschuldung wird voraussichtlich über der Maastricht-Grenze von drei Prozent des BIP liegen.

Letta warnte davor, dass die politische Krise die Anleihekosten für italienische Staatspapiere weiter in die Höhe treiben und Italien ins Chaos stürzen werde. In der Tat sind die Zinsen für Papiere mit zehnjähriger Laufzeit zuletzt wieder auf 4,5 Prozent angestiegen.

Allein für den Schuldendienst muss die Regierung jährlich 84 Milliarden Euro aufbringen, das sind mehr als zehn Prozent der gesamten Staatsausgaben (808 Milliarden). Bis zum 15. Oktober muss die Regierung einen so genannten Stabilitätshaushalt für 2014 vorlegen, der den Vorgaben der EU genügen muss.

Im neuen Haushalt 2014 klafft ein Loch von sechs Milliarden. Deshalb hat die Letta-Regierung es eilig, ihr neues Steuerpaket durchzusetzen, und plant erneut scharfe Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung. Die bereits erwähnte Anhebung der Mehrwertsteuer ab 1. Oktober von 21 auf 22 Prozent soll eine Milliarde erbringen. Weitere zweieinhalb Milliarden soll die Immobiliensteuer auf das erste Haus erbringen, welche die Berlusconi-Partei bisher blockiert hat.

Die Regierung will einen Teil des noch verbliebenen Staatsvermögens verkaufen, und Letta hat den Besuch in New York dazu genutzt, um ausländische Investoren für italienische Staatsunternehmen zu gewinnen.

Hauptsächlich sind die Fluggesellschaft Alitalia und die Telecom Italia im Gespräch: Der spanische Konzern Telefonica will bei Telecom Italia einsteigen, und Air France will ihren Anteil bei Alitalia auf fünfzig Prozent steigern. Es ist davon auszugehen, dass beide Verkäufe mit drastischem Personalabbau einhergehen.

Die Telecom, die einst zum Staatskonzern IRI gehörte, hat schon seit Jahren Zehntausende Stellen abgebaut. Durch eine Übernahme sind schätzungsweise weitere 16.500 Arbeitsplätze gefährdet. Bei Alitalia sind mindestens 2.000 Arbeitsplätze bedroht.

Diese Maßnahmen werden die Arbeitslosenzahlen noch einmal in die Höhe treiben. Die Quote liegt offiziell bei zwölfeinhalb Prozent und ist in einem Jahr um anderthalb Prozent angestiegen. Dabei gilt jeder, der auch nur eine Stunde in der Woche arbeitet, als "beschäftigt". Hinzu kommt, dass drei Millionen Menschen als "inaktiv" gelten und nicht gerechnet werden. Daher ist die Arbeitslosigkeit in Wirklichkeit doppelt so hoch wie offiziell angegeben.

Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt fast vierzig Prozent (39,5), das sind zehn Prozent mehr als noch vor zwei Jahren. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der Arbeitslosen um 600.000 gestiegen.

Dies alles hat dazu geführt, dass die Stimmung zum Zerreißen gespannt ist. Aus diesem Grund will keiner der führenden Politiker, dass es zu Neuwahlen kommt.

Staatspräsident Giorgio Napolitano kritisierte die PdL scharf und forderte die Regierung zur Geschlossenheit auf. Das Land benötige eine stabile Regierung, sagte Napolitano. Neuwahlen seien nur "das letzte Mittel". Und weiter: "Wir brauchen ein Parlament, das debattiert und arbeitet, aber sich nicht immer wieder auflöst. Wir brauchen nicht diesen ständigen Wahlkampf. Die Regierung braucht Kontinuität."

Nur Beppe Grillo tritt offen für Neuwahlen ein. Er schreibt, Napolitano sei selbst Schuld an der Krise und solle sich Neuwahlen nicht entgegenstellen. Dabei ist Grillos Fünf-Sterne-Bewegung, wenn überhaupt, politisch noch weiter rechts angesiedelt als die Regierungsparteien und fordert seit langem drastische Kürzungen des Staatshaushalts.

In einem kürzlichen Interview mit der deutschen Zeit definierte Grillo Italiens Problem folgendermaßen: "Unser Problem ist: Wir haben neunzehn Millionen Pensionäre und fast fünf Millionen staatliche Angestellte; ein Teil von ihnen wählt Berlusconi [1], ein anderer Teil die Linksdemokraten (PD)."

Alle übrigen würden bei Neuwahlen ihn, Grillo, wählen, und er sei bereit, mithilfe des undemokratischen alten Wahlrechts eine Alleinregierung zu bilden. Das bisherige Wahlrecht gibt dem, der die meisten Stimmen erzielt, einen Mehrheitsbonus, auch wenn er nicht die absolute Mehrheit hat. Das Wahlrecht sei "absolut ungerecht", sagte Grillo: "Ich will es abschaffen und das Verhältniswahlrecht einführen - aber erst, nachdem ich mit dem jetzigen Wahlrecht (...) gesiegt habe."

Guglielmo Epifani, Parteichef der Demokraten und ehemaliger CGIL-Gewerkschaftschef, nannte den Rückzug der PdL-Minister den letzten Akt im Auseinanderbrechen der zerstrittenen Regierung. Er saß gerade gemeinsam mit Nichi Vendola und anderen Politikern des Mitte-Links-Lagers auf einem Kolloquium in Torre del Greco bei Neapel, als die Regierungskrise ausbrach.

Auch Epifani warnte vor Neuwahlen, die Italien nur neue Instabilität bringen würden. Zusammen mit Vendola unterstützte er einen Kurs der Umgruppierung der "Linken", um eine Regierung ohne Berlusconi zu ermöglichen. Die Demokratische Partei könne nicht länger in einer Regierung mitarbeiten, die durch Drohungen und Erpressungen gelähmt werde, sagte Epifani.

Vendola, Chef der Rifondazione-Nachfolgepartei SEL und Präsident von Apulien, forderte die PD auf, "eine starke Antwort" zu geben. Er sagte: "Ich appelliere an die PD, die Allianz mit dem Caiman [Berlusoni] zu beenden. Im Parlament muss sich eine Mehrheit sowohl für das neue Wahlgesetz als auch für das Stabilitätsgesetz finden."

Die Demokraten verfügen in der Abgeordnetenkammer über eine Mehrheit, aber im Senat müssten sie Stimmen von PdL-Vertretern oder aus der Opposition hinzugewinnen, um eine neue Koalition zu bilden. Sie hoffen auf Abtrünnige aus der PdL, da auch diese Partei stark zerstritten ist.

Am Wochenende hat Berlusconi seine Partei wieder in Forza Italia umbenannt, um ein Wiederaufleben jener populistischen Partei zu beschwören, mit der er 1994 auf Anhieb die Wahlen gewonnen hatte (2009 hatte sich Forza Italia mit den Postfaschisten zum Volk der Freiheit, PdL, zusammengeschlossen). Nun hoffen Napolitano und Letta, PdL-Mitglieder und Abgeordnete, die nicht in die neue Forza Italia eintreten wollen, für einen Seitenwechsel zu gewinnen.

Anmerkung:
[1] http://www.zeit.de/schlagworte/personen/silvio-berlusconi

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Quelle:
World Socialist Web Site, 01.10.2013
Neue Regierungskrise in Italien: Fünf PdL-Minister wollen zurücktreten
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Oktober 2013