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GLEICHHEIT/5696: Türkische Regierung versucht die wachsende Protestwelle zu unterdrücken


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Türkische Regierung versucht die wachsende Protestwelle zu unterdrücken

Von Halil Celik
16. Oktober 2015


Als Reaktion auf den Doppel-Selbstmordanschlag auf eine Friedensdemonstration in Ankara am 10. Oktober kommt es überall in der Türkei zu Massenprotesten, Boykotten und Streiks. Bestattungszeremonien für die Opfer des Anschlages in Ankara haben sich zu Protestkundgebungen gegen die Regierung entwickelt, bei denen tausende von Trauernden skandieren: "Mörder Erdogan" und "Der mörderische Staat wird zur Verantwortung gezogen."

Am 12. und 13. Oktober veranstaltete ein Bündnis aus Berufsverbänden und Gewerkschaften, die mit den wichtigsten Oppositionsparteien verbündet sind, einen zweitägigen landesweiten Streik. Zehntausende von Ärzten, Lehrern, kommunalen Beschäftigten und Anwälten legten die Arbeit nieder, Universitätsstudenten boykottierten in einigen Fakultäten ihre Vorlesungen.

Die Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei (DISK), die Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter (KESK), die Vereinigung der Ingenieurs- und Architektenkammern (TMMOB) und die türkische Ärztekammer (TTB) beteiligten sich an dem Streik.

Die amtierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) verschärfte ihren Druck auf die Medien und mobilisierte die Polizei zur Unterdrückung des wachsenden Widerstandes. Die Regierung setzte die Polizei ein, um Demonstrationsverbote durchzusetzen.

Am Dienstag verweigerte die Regierung der Provinz Istanbul die Genehmigung für einen Demonstrationszug von Sirkeci und der medizinischen Fakultät Cerrahpasa zum Beyazit-Platz mit der Begründung: "Das Gouvernement hält den geplanten Marsch und die Veranstaltung angesichts der derzeit angespannten Lage nicht für angemessen." In anderen Teilen der Stadt ging die Bereitschaftspolizei mit großer Brutalität gegen diejenigen vor, die sich dem Verbot widersetzten.

Am Mittwoch verhängte ein Gericht in Ankara außerdem eine Nachrichtensperre über die Ermittlungen im Falle der Selbstmordattentäter von Ankara. Laut der Tageszeitung Hürriyet richtet sich diese Sperre gegen "Jede Art von Berichterstattung, Interviews, Kritik und ähnliche Veröffentlichungen in Presse, Rundfunk, sozialen Netzwerken und allen Arten von Internetmedien."

Der Generalstreik, zu dem Gewerkschaften und Verbände aus dem Umfeld der pro-kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) und der hauptsächlich kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) aufgerufen hatten, konnte nur eine Minderheit der Arbeiterklasse mobilisieren. DISK beschränkte seine Aktionen auf Arbeitsniederlegungen mit Unterstützung durch die Bürgermeister in Kommunen in denen die CHP oder die HDP regieren. Sie organisierte keine Streiks in Fabriken. KESK ließ ihre Mitglieder im Allgemeinen zuhause bleiben.

Die größeren Gewerkschaften unterstützen offen die Regierung. Der Gewerkschaftsdachverband Türk-İş gab sich beispielsweise damit zufrieden, seine "Bestürzung" für den Anschlag zu äußern und rote Nelken am Hauptbahnhof von Ankara niederzulegen. Die Hak-İş, eine weitere regierungstreue Gewerkschaft, verurteilte in einer Erklärung den Terror und sprach "der Nation" ihr Beileid aus.

Vor fast einem Monat nahmen diese Gewerkschaftsbünde zusammen mit Unternehmens- und Industrievereinigungen an einer Kundgebung "gegen den Terror" teil, die von der Regierung organisiert wurde und sich gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) richtete.

Von zahlreichen Seiten wird der Vorwurf erhoben, der Staat sei an dem Anschlag von Ankara beteiligt gewesen und die Regierung habe von den Anschlagsplänen gewusst, oder habe sie sogar direkt inszeniert.

Die Regierung hat in mehreren türkischen Provinzen demonstrativ mutmaßliche Mitglieder des Islamischen Staates verhaftet. Am Dienstag behauptete die Polizei, einen der mutmaßlichen Selbstmordattentäter als Yunus Emre Alagoz identifiziert zu haben, den Bruder des Attentäters, der bei einem Selbstmordanschlag in Suruc im Juli 33 Menschen mit in den Tod gerissen hatte. Auch er stand angeblich mit dem IS in Verbindung. Der zweite Attentäter wurde mithilfe von DNA, die am Explosionsort gefunden wurde, als Omer Deniz Dundar identifiziert. Die beiden standen Berichten zufolge auf einer Liste von einundzwanzig potenziellen Selbstmordattentätern.

Am Dienstagabend erklärte die Regierung, sie habe den Polizei-, den Geheimdienst- und den Sicherheitschef von Ankara ihrer Posten enthoben, um "eine vorurteilslose Untersuchung des Bombenanschlages am Samstag durchführen zu können."

Zuvor hatte sich Premierminister Ahmet Davutoğlu mit dem Führer der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, getroffen. Dieser hatte um den Rücktritt oder die Absetzung von Innenminister Selami Altinok und Justizminister Kenan Ipek gebeten.

Die Regierung hatte anfangs erklärt, der Anschlag auf die Friedensdemonstration, bei der die HDP stark vertreten war, sei vermutlich das Werk des IS gewesen, der in Syrien und der Türkei Krieg gegen die Kurden führt. Mittlerweile spricht sie von einem Amalgam zwischen dem IS und der PKK.

Davutoğlu erklärte, die Regierung und die Polizei hätten "Fortschritte bei ihren Ermittlungen über die Planungsphase dieses Anschlages" gemacht. "Alle Beweise deuten auf die Existenz von zwei verschiedenen Terrororganisationen hin. Wir versuchen herauszufinden, ob diese beiden Banden [der IS und die PKK] zusammengearbeitet haben."

Er fügte hinzu, er habe das Kabinett angewiesen, "unseren ganzen Rechtsrahmen und die Auflagen für öffentliche Demonstrationen zu überdenken. Wir brauchen ein neues Sicherheitskonzept." Diese Äußerungen deuten darauf hin, dass weitere Repressionen geplant sind.

Da die AKP nach der Wahl im Juni keine Koalitionsregierung bilden konnte, hat sie für den 1. November Neuwahlen angesetzt. Angesichts des wachsenden Widerstandes gegen ihre Herrschaft schürt sie Terrorhysterie und antikurdische Stimmungen und betreibt Kriegspropaganda, um ihre Basis zu mobilisieren und die Unterdrückung ihrer politischen Gegner und der Medien zu legitimieren.

Davutoğlu erklärte: "Kurz vor der Wahl am 1. November versuchen einige, den Aufbau langfristiger Stabilität im Land zu verhindern. Die große Frage bei der Wahl am 7. Juni war, ob die HDP die Zehnprozent-Hürde überwinden würde. Die Frage vor dieser Wahl ist, ob die AKP eine Einparteienregierung bilden kann. Das Ziel dieses Anschlages ist es, die Demokratie in der Türkei zu gefährden. Deshalb wurde die AKP bereits vor dem Vorfall angegriffen, um das Wahlergebnis zu beeinflussen."

In herrschenden Kreisen herrscht zunehmend Sorge um die Stabilität des Landes und das Überleben der Regierung. Mächtige Teile der türkischen Bourgeoisie haben Präsident Recep Tayyip Erdogan oder der AKP selbst ihre Unterstützung entzogen. Einige Analysten in den Medien spekulieren über die Möglichkeit einer breiten Koalition aus AKP und CHP, die "wieder für Stabilität sorgen und den Friedensprozess mit den Kurden wiederbeleben könnte."

Doch die AKP wird auch durch zunehmende Konflikte mit den westlichen Verbündeten der Türkei bedroht. Vor allem mit den USA kritisieren Erdogan wegen seiner Beziehungen mit dem IS und anderen Islamistengruppen und seinem Krieg gegen die PKK. Damit stört er Washingtons Bündnis mit den Kurden in Syrien, das ein wichtiges Element bei den Versuchen der USA ist, den IS zurückzudrängen und sich den lange gehegten Wunsch eines Regimewechsels durch die Absetzung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zu erfüllen.

Die USA sichern der Türkei zwar weiterhin ihre Unterstützung zu, haben letzten Freitag aber dennoch begonnen, ihre Patriot-Luftabwehrsysteme aus dem kurdischen Südosten des Landes abzuziehen. Die türkische Regierung, die sich momentan im Konflikt mit Russland wegen der Verletzungen ihres Luftraums befindet, hatte zwar an sie appelliert, den Abzug aufzuschieben, doch dies wurde ignoriert. Deutschland hat erklärt, es werde seine Luftabwehrsysteme ebenfalls abziehen.

Am Mittwoch bestellte die Türkei den amerikanischen Botschafter in Ankara ein, um ihre Bedenken wegen des gemeldeten Abwurfs von 120 Tonnen Waffen und Munition für die Volksverteidigungseinheiten (YPG) zu äußern. Die YPG ist der bewaffnete Flügel der syrischen Partei der Demokratischen Einheit, die mit der PKK verbündet ist.

Davutoğlu erklärte bei einer Pressekonferenz mit dem bulgarischen Ministerpräsidenten Boyko Borisow in Istanbul: "Die Türkei kann keine Zusammenarbeit mit Terrororganisationen akzeptieren, die Krieg gegen uns geführt haben. Die Türkei ist entschlossen, alle mit der PKK verbündeten Organisationen zu bekämpfen, ebenso wie die USA und andere Verbündete nicht nur gegen Al Qaida, sondern auch gegen deren Ableger gekämpft haben."

Bezüglich der Meldungen, dass Moskau ebenfalls Waffen an die Kurden geliefert hat, betonte er: "Diese Haltung haben wird den USA und Russland mitgeteilt."

Die YPG gab die Gründung eines neuen Militärbündnisses mit mehreren arabischen Gruppen bekannt, die sich als Demokratische Kräfte Syriens bezeichnen. Am Montag schickte sie eine Stellungnahme an Reuters, in der es hieß: "Die prekäre Lage unseres Landes Syrien und schnelle Entwicklungen im militärischen und politischen Bereich... erfordern eine vereinigte Militärmacht für alle Syrer, in der Kurden, Araber, Syrer und andere Gruppen vereint sind."

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Quelle:
World Socialist Web Site, 16.10.2015
Türkische Regierung versucht die wachsende Protestwelle zu unterdrücken
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2015

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