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GLEICHHEIT/6044: Dutzende Millionen indische Arbeiter zum Generalstreik bereit


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Dutzende Millionen indische Arbeiter zum Generalstreik bereit

Von Sathish Simon und Kranti Kumara
1. September 2016


Dutzende Millionen Arbeiter werden am 2. September in Indien an einem eintägigen landesweiten Generalstreik teilnehmen. Das Vereinigte Gewerkschaftskomitee (JTUC) hat dazu aufgerufen, um gegen die arbeiterfeindliche Politik der Modi-Regierung zu protestieren.

Der Streik, so heißt es im Aufruf, richtet sich "gegen die arbeiter- und volksfeindliche Politik" der Bharatiya Janata Party (BJP), die in Indien die rechte hinduistische Regierung stellt. Die wachsende Wut und Militanz der Arbeiterklasse wird sich in einer breiten Unterstützung niederschlagen.

Das JTUC besteht jedoch aus zehn prokapitalistischen Gewerkschaftsverbänden. Sie sind alle an politische Parteien gebunden, die seit 25 Jahren das Programm der indischen Bourgeoisie durchsetzen. So ist zum Beispiel der Nationale Gewerkschaftskongress (INTUC) mit der Kongresspartei verbündet. Seit einem Vierteljahrhundert setzen diese Parteien Privatisierungen durch, deregulieren die Wirtschaft, kürzen die Sozialausgaben und gewähren den Investoren Steuererleichterungen und andere Zugeständnisse.

Das gilt auch für die Gewerkschaftsverbände, die unmittelbar die politische Führung des Streiks innehaben: das Indische Gewerkschaftszentrum (CITU), der Gewerkschaftsflügel der Communist Party of India (Marxist), genannt CPM, und der Gesamtindische Gewerkschaftskongress (AITUC), der mit der Communist Party of India (CPI) verbündet ist. Beide stalinistischen Parlamentsparteien unterstützen seit 1991 wechselnde kapitalistische Regierungen, die eine neoliberale Politik verfolgen und versuchen, Indien zu einer Billiglohn-Oase für das internationale Kapital zu machen. Meistens stand die Kongresspartei an der Spitze der Regierung. In den Bundestaaten, in denen die Stalinisten selbst die Regierung bildeten, haben sie offen erklärt, sie verfolgten eine "Pro-Investoren"-Politik.

Das JTUC hat einen Zwölfpunkte-Forderungskatalog vorgelegt, den die Regierung - wenig überraschend - pauschal zurückweist. Zu den Forderungen gehören: "Sofortmaßnahmen, um den Preisanstieg für Reis einzudämmen", "Abbau der Arbeitslosigkeit durch die Schaffung von Arbeitsplätzen", "konsequente Durchsetzung sämtlicher Arbeitsgesetze", "allgemeine Sozialversicherungssysteme", "Ende des Investitionsstopps im öffentlichen Sektor des Zentralstaats und der Bundestaaten" und einen "Mindestlohn von 18 000 Rupien [etwa 240 Euro] im Monat".

Die seit zwei Jahren amtierende BJP-Regierung hat die Sozialausgaben drastisch gekürzt und die Gelder für das marode öffentliche Gesundheitssystem beschnitten. Sie hat das nationale Beschäftigungsgarantie-Programm für ländliche Gebiete eingestellt, das jedem Mitglied eines ländlichen Haushalts mindestens hundert Tage Arbeit pro Jahr garantieren sollte. Gleichzeitig hat die BJP-Regierung die Militärausgaben erhöht, die Privatisierung beschleunigt und in zahlreichen Wirtschaftsbereichen die Obergrenzen für ausländische Investitionen herabgesetzt oder abgeschafft.

Vor kurzem hat sie eine nationale Waren- und Dienstleistungssteuer durchgepeitscht, die benutzt wird, um die Steuerlast noch weiter auf die Bevölkerung abzuwälzen. Sie hat außerdem ein Gesetz vorgeschlagen, mit dem Entlassungen und Fabrikschließungen in Betrieben mit weniger als 300 Arbeitern erleichtert werden. Zusätzlich sollen nach der Verabschiedung dieser "Reform" die BJP-Regierungen in den Bundestaaten ermutigt werden, Gesetze zu erlassen, die das nationale Arbeitsrecht aushebeln.

Premierminister Narendra Modi und Finanzminister Arun Jaitley prahlen zwar, Indien verzeichne unter ihrer Herrschaft ein Wirtschaftswachstum von sieben Prozent, aber in Wirklichkeit schrumpfen die Einkommen der arbeitenden Bevölkerung durch Preiserhöhungen bei den Lebensmitteln und durch die gigantische Beschäftigungskrise.

Wie es in einem Wirtschaftsbericht heißt, treten zwar jährlich etwa zehn Millionen junge Menschen ins Erwerbsleben ein, aber in den letzten zwölf Monaten sind nur gut hunderttausend Jobs in acht wichtigen, arbeitsintensiven Branchen geschaffen worden. Laut dem Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen von 2016, dem Asia-Pacific Human Development Report, haben von den 300 Millionen Indern, die zwischen 1991 und 2013 in den Arbeitsmarkt eingetreten sind, nur 140 Millionen einen Arbeitsplatz gefunden.

Die Krise am Arbeitsmarkt ist so gravierend, dass sich auf eine Ausschreibung der Gemeinde Amroha im nördlichen Staat Uttar Pradesh auf 114 ungelernte Straßenfeger-Jobs 19 000 Menschen meldeten. Viele davon hatten gute Hochschulabschlüsse.

Auf dem Land, wo über sechzig Prozent der 1,2 Milliarden Menschen Indiens leben, herrscht Hunger. Fast die Hälfte aller indischen Kinder unter fünf Jahren sind infolge der chronischen Mangelernährung in ihrer physischen und geistigen Entwicklung zurückgeblieben. Laut einer neueren staatlichen Untersuchung ist die Kalorienaufnahme auf dem Land drastisch zurückgegangen. Der durchschnittliche Landbewohner nimmt heute 550 Kalorien weniger zu sich als in der Zeit von 1975 bis 1979; er erhält dreizehn Gramm weniger Proteine, fünf Milligramm weniger Eisen, 250 Milligramm weniger Kalzium und etwa 500 Milligramm weniger Vitamin A.

Für die Gewerkschaften und die politischen Parteien, denen sie angehören, ist der Streik am morgigen Freitag ein Manöver, um ihr oppositionelles Image aufzupolieren. Sie hoffen, dadurch mehr Stimmen zu bekommen und die Wut der einfachen Mitglieder zu zerstreuen.

Was die Stalinisten angeht, so sind solche eintägige Streiks schon zum Ritual geworden. Seit Beginn der 1990er-Jahre haben sie so gut wie jedes Jahr einen solchen nationalen Proteststreik organisiert. Das gilt sogar für die Zeit zwischen 2004 und 2008, als sie faktisch der wichtigste Koalitionspartner der Kongresspartei waren, auch wenn sie formell der Regierung der United Progressive Alliance (UPA) unter Führung der Kongresspartei nicht beigetreten sind.

Schon im vergangenen Jahr fand am 2. September ein vergleichbarer landesweiter Generalstreik statt. In seinem Vorfeld hatten die CITU und die AITUC dem Gewerkschaftsverband Bharatiya Mazdoor Sangh (BMS), der der faschistischen Partei Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) angehört, Avancen gemacht. Der RSS hat die regierende BJP mit besonders vielen Führungskadern versorgt und zwei Premierminister gestellt.

Die Stalinisten behaupteten damals, es sei ein wichtiger Beitrag zur "Einheit" der Arbeiterklasse, wenn die BMS den eintägigen Streik ebenfalls unterstütze, genau wie die INTUC, die der Kongresspartei nahesteht. Wie vorauszusehen war, zog die BMS ihre Unterstützung für den Streik zurück, sobald die Führer der verschiedenen Gewerkschaftsverbände Gespräche mit der Regierung aufnahmen.

Dieses Jahr hat das Vereinigte Gewerkschaftskomitee (JTUC) seine Pläne für den eintägigen Streik am 2. September bereits Ende März bekanntgegeben. Es verband damit die Hoffnung, Verhandlungen mit der Regierung führen zu können. Die BJP-Regierung ignorierte jedoch die Bitten um Anhörung.

Am 18. August gab das JUTC eine Erklärung heraus, in der es sich beschwerte, dass die kapitalistische und arbeiterfeindliche BJP seine Forderung nach Gesprächen abgelehnt habe. Voller Empörung schrieb das Komitee: "Im ganzen vergangenen Jahr hat sich die Ministergruppe, die mit den Gewerkschaften über den Zwölfpunkte-Katalog diskutieren sollte, nicht ein einziges Mal getroffen."

Derweil betont die Regierung, sie habe sich vor wenigen Wochen mit der BMS-Führung getroffen. Anfangs dieser Woche gab sie eine Reihe angeblich "arbeitnehmerfreundlicher" Maßnahmen bekannt, die entweder kompletter Schwindel oder lächerlich sind.

Die BJP-Regierung weiß sehr genau, dass die Stalinisten ein integraler Bestandteil des politischen Establishments sind. Man kann sich auf sie verlassen, wenn es darum geht, die soziale Wut in parlamentarische Kanäle oder zahnlose Proteste zu lenken. Als Finanzminister Jaitley diese Woche zum bevorstehenden Streik befragt wurde, erklärte er: "Ich denke, unsere Gewerkschaften sind verantwortungsbewusst."

Dennoch wächst in der herrschenden Klasse das Unbehagen über die wirtschaftlichen Auswirkungen, die der Streik haben wird. Er wird große Teile der Wirtschaft betreffen, einschließlich der Kohleindustrie, der Autoindustrie, der Banken und des öffentlichen Dienstes, sowie Einrichtungen der Zentral- und der bundestaatlichen Regierungen. Überhaupt bereitet es der Regierung Sorge, dass sich in der Arbeiterklasse zunehmend eine oppositionelle Stimmung breit macht.

Das gesamte Establishment war bestürzt, als im letzten April Tausende Arbeiter der Bekleidungsindustrie und aus anderen Bereichen in der südlichen Stadt Bengaluru (früher Bangalore) spontan und ohne gewerkschaftliche Unterstützung in den Ausstand traten. Sie traten in Streik, weil die BJP-Regierung das Recht der Arbeiter angegriffen hatte, Geld aus ihren Pensionsfonds abzuziehen. Mehrere Tage lang trotzten sie dem Versuch der Regierung, den Streik durch Polizeigewalt zu brechen.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 01.09.2016
Dutzende Millionen indische Arbeiter zum Generalstreik bereit
http://www.wsws.org/de/articles/2016/09/01/indi-s01.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. September 2016

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