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GLEICHHEIT/6435: Katastrophale Auswirkungen der Sparpolitik auf das griechische Gesundheitswesen


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Katastrophale Auswirkungen der Sparpolitik auf das griechische Gesundheitswesen

Von Tino Jacobson
8. September 2017


Seit der Weltwirtschaftskrise 2008 löst in Griechenland ein brutales Sparprogramm das andere ab. Diktiert von der Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfond hat die Kürzungspolitik eine soziale Katastrophe angerichtet, die in Friedenszeiten ohne Beispiel ist. Sieben Jahre nach Beginn der Krise in Griechenland steht die Bevölkerung vor den Trümmern des Sozialsystems.

Alle Regierungen, ob unter der konservativen Partei Nea Dimokratia (ND), der sozialdemokratischen PASOK oder der pseudolinken Syriza (Koalition der radikalen Linken), haben die verheerenden Sparmaßnahmen gegen den Widerstand der Arbeiterklasse umgesetzt.

Der Kahlschlag trifft sämtliche sozialen Bereiche, Bildung, Renten und öffentliche Infrastruktur. Am schlimmsten sind die Folgen jedoch für das griechische Gesundheitssystem. Die öffentlichen Gesundheitsausgaben wurden laut den aktuellen Zahlen der europäischen Statistikbehörde Eurostat in nur fünf Jahren um 42 Prozent gekürzt - von 14,9 Milliarden Euro im Jahr 2010 auf 8,7 Milliarden im Jahr 2015. Grundlegende Leistungen wurden drastisch eingeschränkt und die finanzielle Eigenbeteiligung der Patienten erhöht.

Das moderne staatliche Gesundheitssystem in Griechenland entstand 1983 unter der ersten sozialdemokratischen Papandreou-Regierung und war ein soziales Zugeständnis an die Arbeiterklasse. Obwohl die staatlichen Krankenkassen eine bedeutende Funktion in der Gesundheitsversorgung übernahmen, mussten Patienten zahlreiche ärztliche Leistungen aus eigener Tasche bezahlen.

Diese privaten Zusatzkosten (Out-of-Pocket-Zahlungen) sind als Folge der Sparmaßnahmen dramatisch angestiegen. Machten sie 2010 noch 28 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben aus, waren es 2015 bereits über 35 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland lagen die Selbstzahlungen 2015 bei 12,5 Prozent. Hinzu kommen in Griechenland hohe Zuzahlungen für Medikamente, die bis zu 25 Prozent des Gesamtpreises betragen können.

Ende 2009 setzte die PASOK-Regierung erste Kürzungen im Gesundheitswesen um, die zu Leistungseinsparungen bei den Krankenkassen und höheren Eigenanteilen bei Medikamenten führten. In den folgenden Jahren wurden die Ausgaben noch radikaler gekürzt.

2011 fand eine "Reform" statt, die die größten Krankenkassen zu einem einheitlichen Gesundheitsträger, der Nationalen Organisation für die Bereitstellung von Gesundheitsleistungen (EOPYY), zusammenfasste. Die Zusammenlegung der Krankenkassen ermöglichte einen weiteren Angriff auf die staatliche Gesundheitsversorgung: Die Finanzierung wurde drastisch reduziert, das Leistungsangebot erneut verringert und 25 Prozent des medizinischen sowie 50 Prozent des administrativen Personals entlassen.

Als die EOPYY mitten in der Finanzkrise 2012 ihre Schulden von über 1,5 Milliarden Euro bei Ärzten, Krankenhäusern, Apotheken und Pharmakonzernen nicht mehr begleichen konnte, mussten die Patienten ihre Gesundheitskosten vorübergehend selbst zahlen.

Eine weitere Entlassungsrunde im Gesundheitsbereich folgte 2014, als unter dem damaligen Premierminister Antonis Samaras (ND) das Nationale Primäre Gesundheitsversorgungsnetzwerk (PEDY) eingeführt wurde, das die medizinische Grundversorgung abdecken soll, aber in Wirklichkeit einen neuen Rahmen für massive Einsparungen schuf. Trotz zahlreicher Proteste wurde daraufhin erneut ein großer Teil des medizinischen Personals abgebaut.

Viele Therapien und Behandlungen müssen seit 2011 aus eigener Tasche finanziert werden, zum Beispiel bei Atmungserkrankungen oder bei der Entbindung. Mehrere Medikamente für chronisch Kranke, die vorher ohne Zuzahlung erhältlich waren, sind seitdem kostenpflichtig: Für Alzheimer-, Demenz-, Epilepsie- und Diabetes-2-Medikamente müssen Patienten 10 Prozent zuzahlen, für Medikamente gegen Erkrankungen an pulmonaler Hypertonie (Lungenhochdruck) fallen sogar 25 Prozent an.

Auch die Anzahl der öffentlichen Krankenhäuser wurde laut der griechischen Statistikbehörde Elstat von 142 im Jahr 2009 auf 124 im Jahr 2015 reduziert. Damit einher ging eine Verringerung der stationären Krankenhausbetten um 8.000 - von über 38.000 auf knapp 30.000 Betten.

Notwendige Investitionen in Technik und Ausstattung werden seit Jahren, gar Jahrzehnten nicht getätigt. Zum Beispiel wurden die Geräte zur Computertomographie und Magnetresonanztomographie in den öffentlichen Krankenhäusern, die ohnehin nur in geringer Zahl vorhanden sind, seit Anfang der 1980er Jahre nicht mehr erneuert und entsprechen nicht europäischen Standards.

Die Auswirkungen dieses Zerfalls im öffentlichen Gesundheitswesen sind verheerend.

Aufgrund der steigenden Kosten und der hohen Arbeitslosigkeit haben immer mehr Menschen in Griechenland keine Krankenversicherung. 2013 waren es fast 3 Millionen (bei einer Bevölkerungszahl von etwa 11 Millionen); die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.

Besonders arme und sozial benachteiligte Patienten leiden unter den Folgen. Laut aktuellen Elstat-Zahlen gab 2016 mehr als jeder Dritte aus dem Fünftel mit dem niedrigsten Einkommen an, er könne seinen Bedarf an notwendigen Arztuntersuchungen oder -behandlungen nicht decken. Vor allem im ersten Jahr der Syriza-Regierung stieg die Zahl sprunghaft an - von 19,7 Prozent (2015) auf 36,5 Prozent (2016). Zu Beginn der Krise 2010 lag sie nur bei 8,1 Prozent.

Verletzliche Personengruppen wie Roma, Flüchtlinge, Kinder und Schwangere sowie chronisch kranke Menschen sind ebenfalls stark betroffen.

Tausende Menschen, die vor Krieg und Armut über den gefährlichen Seeweg nach Europa geflohen sind, werden in Griechenland in sogenannte "Hotspots" gepfercht, die unter der Syriza-Regierung eingerichtet wurden und als Haftzentren für Flüchtlinge dienen.

Die gesundheitliche Versorgung und die Lebensbedingungen in den Hotspots sind katastrophal. Hygieneartikel werden sehr unregelmäßig geliefert, das Essen ist miserabel und die Müllentsorgung findet selten statt. Viele Flüchtlinge sind in Zelten untergebracht, wo sie den Jahreszeiten und gefährlichen Tieren wie etwa Schlangen schutzlos ausgeliefert sind.

Es gibt keine Rückzugs- und Freizeitmöglichkeiten und kaum psychologische Unterstützung für die Flüchtlinge, die oft unter Traumata und Depressionen leiden. Dem medizinischen Personal mangelt es an Medikamenten und Ausstattung. In einem Bericht [1] im Juli warnte die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen vor einer krisenhaften Zunahme psychischer Erkrankungen in den Lagern Moria und Kara Tepe auf der Insel Lesbos.

Die Minderheit der Roma leidet in Griechenland unter starker Diskriminierung und den hohen Kosten im Gesundheitswesen. Laut einer Studie der National School of Public Health in Athen sind knapp 80 Prozent der Roma nicht versichert, und ebenso viele wurden noch nie in ihrem Leben geimpft. Wie in vielen anderen Ländern leben sie in Armut und prekären Verhältnissen.

Die radikalen Lohn- und Rentenkürzungen haben zur Folge, dass sich viele chronisch kranke Menschen ihre Medikamente nicht mehr leisten können. Auch die Wartezeiten für Operationen und Behandlungen sind stark angestiegen. Nichtversicherte Krebspatienten können ihre lebensnotwendigen Medikamente, die mehr als eintausend Euro kosten, nicht bezahlen. 13.000 Krebspatienten erhalten jedes Jahr keine Strahlentherapie, weil zu wenige Geräte vorhanden sind. Im August 2014 wurde ein Gesetz erlassen, dass die Vorsorgeuntersuchungen bei Ärzten stark einschränkt.

Immer weniger Kinder sind komplett geimpft, weil die Vorsorgeprogramme eingedampft wurden und somit viele Impfungen aus eigener Tasche finanziert werden müssen. Eine umfassende Impfung für ein Kind kostet etwa 1.200 Euro. Für nichtversicherte Schwangere sind die Vorsorgeuntersuchungen sowie die natürliche Entbindung, die 2014 jeweils etwa 650 Euro kosteten, kaum zu bezahlen.

Die gesunden Lebensjahre bei Männern und Frauen in Griechenland sind seit 2010 deutlich gesunken. Laut Eurostat lagen sie 2010 für Frauen bei 67,7 Jahren und fielen bis 2014 um fast drei Jahre auf nur 64,8; bei Männern sank die Zeitspanne der gesunden Lebensjahre von etwa 66 auf 64 Jahre.

Auch in der Entwicklung der Sterbe- und Geburtenraten zeigen sich die Auswirkungen der Krise. Während sich die Zahl der Todesfälle laut Elstat von etwa 109.000 im Jahr 2010 auf über 121.000 im Jahr 2015 erhöhte, gingen die Geburtenzahlen im selben Zeitraum von knapp 115.000 auf weniger als 92.000 zurück.

Allein im ersten Krisenjahr 2010 bis 2011 ist die Sterberate bei Herzerkrankungen (z.B. Herzinfarkt) bei Frauen von 41 Todesfällen pro 100.000 Einwohnern auf 67 explodiert - ein Anstieg von 63 Prozent. Bei Männern stieg sie von 97 auf 146 Fälle. Bei Schlaganfällen haben sich die Sterbefälle von 2010 auf 2011 bei beiden Geschlechtern fast verdoppelt.

Die Selbstmordrate, die vor der Krise auf einem niedrigen Niveau lag, ist in den letzten Jahren rapide nach oben geklettert. Im Jahr 2014 haben sich 565 Menschen das Leben genommen, fast 200 mehr als 2010, die meisten davon Männer zwischen 40 und 60 Jahren. Zu den häufigen Ursachen gehören Depressionen, oft eine Folge von Armut und Arbeitslosigkeit. Die Statistik zeigt auch einen plötzlichen Anstieg der Todesfälle aufgrund von psychischen Störungen. Während daran 2010 nur 98 Menschen starben, waren es 2014 mit 669 mehr als sechsmal so viele.

Eine weitere Folge der Gesundheitskrise ist die Zunahme der HIV-Ansteckungen. Im Jahr 2011 starben 47 Menschen an der Immunschwächekrankheit AIDS, 837 Menschen steckten sich mit HIV an und 83 neue AIDS-Fälle wurden verzeichnet. Die HIV-Rate lag bei 7,4 pro 100.000 Einwohner; 2010 waren es noch 4,7 gewesen. Diese Entwicklung hängt mit dem gestiegenen Drogenkonsum und der Einführung einer Zuzahlung von 25 Prozent für Injektionsnadeln zusammen. Zwar ist die HIV-Rate 2014 aufgrund vereinzelter Maßnahmen wieder leicht abgesunken, aber sie liegt weiterhin deutlich höher als vor der Krise.

Nach Schätzungen der Initiative Solidarity4all, die Spiegel Online zitiert, sind in den letzten sieben Jahren 50.000 Menschen gestorben, weil sie sich die Gesundheitsausgaben nicht leisten konnten. Während die Regierungen das staatliche Gesundheitssystem kaputt gespart haben, engagieren sich zahlreiche Menschen ehrenamtlich, um das Leid der Bedürftigen zu lindern. Nichtregierungsorganisationen wie Praxis und Ärzte ohne Grenzen oder Initiativen wie die Solidarischen Kliniken bieten kostenlose Gesundheitsversorgung an.

Trotzdem führten Lohnkürzungen, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit in den letzten Jahren zu einer massiven Abwanderung hochqualifizierter Personen ins Ausland. Von 2008 bis 2013 haben 7.000 ärztliche Spezialisten allein aus Athen ihre Heimat verlassen, die meisten von ihnen Richtung Deutschland. Insgesamt hat sich die Zahl der Menschen, die ausgewandert sind, in den ersten zwei Jahren der Krise mehr als verdoppelt. 2012 waren es rund 88.000, von denen 32.700 nach Deutschland gezogen sind.


Anmerkung:
[1] http://www.msf.org/sites/msf.org/files/msf_lesbos_vulnerability_report1.pdf

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Quelle:
World Socialist Web Site, 08.09.2017
Katastrophale Auswirkungen der Sparpolitik auf das griechische Gesundheitswesen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2017

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