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GLEICHHEIT/7054: Europäische Regierungen fordern Rückkehr zur Arbeit


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Europäische Regierungen fordern Rückkehr zur Arbeit

Von Thomas Scripps
13. April 2020


Die Zahl der Toten durch Covid-19 in Europa steigt weiterhin täglich um mehrere Tausend, die Zahl der Neuinfektionen um mehrere Zehntausend. Die Gesundheitssysteme stehen kurz vor dem Kollaps und Tests sowie Schutzkleidung reichen hinten und vorne nicht. Dennoch bereiten sich die europäischen Regierungen darauf vor, ihre Bevölkerung wieder an die Arbeit zurückzuschicken.

Die Byline Times veröffentlichte ein internes Telefonat des britischen Innenministeriums, das bestätigt, dass die Regierung weiterhin die diskreditierte und nominell aufgegebene Politik der "Herdenimmunität" verfolgt. In dem Gespräch geht es um die Entscheidung des Innenministeriums, 2.000 Beschäftigte nächste Woche wieder in ihre Büros zu schicken. Darin erklärte der stellvertretende wissenschaftliche Berater des Ministeriums, Rupert Shute:

"Es ist völlig in Ordnung, sein Geschäft weiter zu betreiben. Es ist sogar sehr wichtig, weil es eine ganze Menge von Lieferketten gibt und weil die Wirtschaft weiterlaufen muss... Ich komme immer wieder darauf zurück, dass wir dieses Coronavirus irgendwann alle bekommen werden... wir können uns nicht ewig davor verstecken, aber wir können regeln, wie wir ihm ausgesetzt werden...

Wir werden es sicherlich nicht unterdrücken und aus der Welt schaffen können. Bei den derzeitigen Interventionen geht es darum, ob wir in [unverständlich] ein paar Wochen eine Möglichkeit finden, es innerhalb der Bevölkerung zu regeln. Es geht nur darum, es in den Griff zu bekommen, nicht um seine Eliminierung."

Er fuhr fort: "Im Moment geht es um den Höhepunkt und die Bewältigung des derzeitigen Ausbruchs. Das bedeutet nicht, dass es keinen zweiten, dritten, vierten, fünften oder noch mehr Höhepunkte geben wird, da wir von vielen Monaten und Jahren ausgehen... Wir werden uns deshalb an eine andere Lebensweise zu Hause und auf der Arbeit gewöhnen müssen."

Shute sprach offen aus, auf welches Vorgehen sich die Regierungen in ganz Europa verständigen.

In Spanien werden Bau- und Industriearbeiter auch in nicht lebenswichtigen Branchen angewiesen, nächste Woche auf ihre Baustellen und in die Fabriken zurückzukehren. An U-Bahnstationen und Bahnhöfen sollen Gesichtsmasken verteilt werden. Am vergangenen Mittwoch erklärte ein Sprecher der spanischen Regierung: "Ab dem 26. April werden die Bürger wieder ein normales Leben führen können." Man arbeite an "verschiedenen Möglichkeiten, was die Einschränkungen angeht". Der italienische Gesundheitsminister Roberto Speranza erklärte letzte Woche: "Es ist unsere Aufgabe, die Bedingungen für ein Leben mit dem Virus zu schaffen." Der Kolumnist Fraser Nelson vom Daily Telegraph, der für eine schnelle Rückkehr zur Arbeit in Großbritannien eintritt, formulierte es offener: "Das ist eine andere Methode, Italien stark zu machen für eine Erhöhung der Covid-Toten als Preis für die langsame Rückkehr zu einem normalen Leben." Einige Unternehmen und Geschäfte in Italien werden am 13. April wieder öffnen, für Büros ist laut Bloomberg eine Wiederaufnahme der Arbeit am 4. Mai geplant.

In Deutschland arbeiten die herrschenden Kreise am gleichen Plan. Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte ebenfalls: "Wir werden noch lange mit der Pandemie leben müssen." Ein geleaktes Dokument des Innenministeriums schildert eine Reihe von Maßnahmen, die offiziell dazu dienen, eine Wiederaufnahme des öffentlichen Lebens nach einer Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen am 19. April zu ermöglichen. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet (CDU), sprach sich für eine stufenweise Wiedereröffnung von Einzelhandelsgeschäften, Autohäusern und sogar Restaurants aus, solange ein angemessener Abstand eingehalten werden könne.

Der französische Premierminister Édouard Philippe hat die Möglichkeit einer Lockerung der Ausgangsbeschränkungen in einer Region nach der anderen und "eine neue Testmethode, möglicherweise auf der Grundlage von Alter und anderen Faktoren" in Aussicht gestellt.

Professor Daniel Camus vom Pasteur-Institut in Lille erklärte, dies werde "in der Praxis schwer umsetzbar sein". Über den Nordosten Frankreichs, der am frühesten und am stärksten von dem Virus betroffen war, erklärte er: "Selbst hier ist ein Großteil der Bevölkerung noch nicht gegen das Virus immun. Wir können ihnen nicht sagen: Geht auf die Straße und setzt euch dem Risiko aus, euch anzustecken. Die Leute würden sagen: 'Ich will nicht auf diese Weise auf die Schlachtbank geführt werden.' Sie würden auf solch eine Strategie nicht hören."

Der Ausdruck "Schlachtbank" ist leider angemessen. Während eine erzwungene Rückkehr zur Arbeit geplant wird, steigt die Zahl der Todesopfer in Europa weiter an und beträgt mittlerweile nahezu 80.000 an. In Italien beträgt die Zahl der Toten mehr als 20.000, in Spanien über 17.000 und in Frankreich über 14.000.

Großbritannien verzeichnete letzten Freitag mit 980 Toten den bisher größten Anstieg pro Tag, der sogar über dem bisherigen täglichen Anstieg der Zahlen in Italien oder Spanien lag. Die Gesamtzahl der Toten in Großbritannien liegt mittlerweile bei über 10.000. Der führende wissenschaftliche Berater der Regierung, Sir Patrick Vallance, erklärte, er rechne erst in zwei Wochen mit dem Höhepunkt der Pandemie. Das Militär plant den Bau von neun zusätzlichen Feldlazaretten und ist auf der Suche nach weiteren acht Standorten. Auch Deutschland verzeichnete Ende letzter Woche mit 266 Toten den größten Anstieg pro Tag und mittlerweile eine Gesamtzahl von fast 3000. In den am stärksten gefährdeten Teilen der Bevölkerung könnte die Krise bald eskalieren, da Flüchtlingszentren mit Hunderten von Insassen unter Quarantäne gestellt werden. Die Sterblichkeitsrate durch das Virus ist von 0,6 Prozent vor zwei Wochen auf 2,1 Prozent angestiegen.

Die tatsächliche Zahl der Toten in Europa ist noch beträchtlich größer. Die größtenteils nicht erfassten Todesopfer unter den Tausenden vernachlässigter älterer Menschen in Pflegeheimen in ganz Europa fügen sich zu einem Bild des Schreckens.

In Frankreich entfiel fast ein Drittel der offiziell gemeldeten Covid-19-Todesfälle auf Bewohner von Pflegeheimen. Mehr als 2.300 Heime haben mindestens einen Coronavirus-Fall gemeldet. In einem Heim im südostfranzösischen Mougins sind seit dem 20. März 31 Menschen, ein Drittel der Bewohner, gestorben.

Laut dem italienischen nationalen Institut für Gesundheit (ISS) sind in Pflegeheimen seit dem 1. Februar 3.859 Menschen, die positiv auf das Virus getestet wurden und 1.310 mit möglichen Symptomen, gestorben. Der Chef-Epidemiologe des ISS, Giovanni Rezza, gab später zu, dass diese Zahlen vermutlich zu niedrig liegen, da in diesem Bereich nur wenige Tests durchgeführt wurden.

In Spanien sind zwei Beschäftigte von Pflegeheimen an dem Virus gestorben, weitere 400 wurden infiziert.

In Deutschland werden im ganzen Land Hunderte von Todesfällen in Pflegeheimen gemeldet. Im norddeutschen Wolfsburg sind 32 von 160 Bewohnern eines Pflegeheims gestorben, 74 wurden infiziert.

Der britische Branchenverband Care England schätzt, dass bereits 1.000 Menschen in Pflegeheimen gestorben sind. Branchenverbände und die Hilfsorganisation Alzheimer's Society schätzen, dass das Virus in der Hälfte aller britischen Pflegeeinrichtungen kursiert, in denen 400.000 ältere Personen leben. Aus dem ganzen Land werden Dutzende Infektionen und Todesfälle in Heimen gemeldet.

Die Gesundheitssysteme sind bis an die Belastungsgrenze angespannt. In Italien wurden mindestens 100 Ärzte und 30 Pflegekräfte durch das Virus getötet. Etwa zehn Prozent der Infizierten arbeiten im Gesundheitswesen. In Großbritannien haben 20 NHS-Ärzte und Pflegekräfte das gleiche Schicksal erlitten.

Spanien hat noch keine offiziellen Zahlen darüber veröffentlicht, wie viele Pflegekräfte positiv auf das Virus getestet wurden. Bekannt ist, dass 12 Prozent aller Fälle im Land auf diese Berufsgruppe entfallen. Mindestens fünf Pflegekräfte sind nachweislich gestorben.

Frankreich meldete außerdem mindestens fünf Todesfälle unter Ärzten, die in Zusammenhang mit dem Virus stehen.

Die Ausgangsbeschränkungen haben schwerwiegende wirtschaftliche Folgen, die größtenteils die Arbeiterklasse zu tragen hat. In Großbritannien haben in den letzten drei Wochen 1,2 Millionen Menschen Sozialhilfe beantragt, was eine Steigerung um das Siebenfache seit dem 16. März bedeutet. In Spanien haben im gleichen Zeitraum etwa 900.000 Arbeiter ihre Stellen verloren, und die Banken berichten, dass sie mit Tausenden Anträgen auf Aussetzung von Hypothekenzahlungen überschwemmt werden.

Die fahrlässige Rückkehr zur Arbeit, die in ganz Europa geplant wird, dient nicht der Lockerung dieses Drucks. Vielmehr soll die Arbeiterklasse auf diese Weise die Kosten für die Katastrophe im öffentlichen Gesundheitswesen tragen, um den Profitfluss für die Banken und Großkonzerne wieder in Gang zu bringen.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 13.04.2020
Europäische Regierungen fordern Rückkehr zur Arbeit
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2020

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