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GRASWURZELREVOLUTION/1047: Die Geschmacklosigkeit des guten Geschmacks


graswurzelrevolution 343, November 2009
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Die Geschmacklosigkeit des guten Geschmacks
Eine Replik auf: "Anti-Speziesismus? Schmeckt mir nicht!", Artikel von Rüdiger Haude, in: GWR 340, Sommer 2009 (*)

Von Tim Kröger


Als Beitrag zur Diskussion um Tierrechte erschien in der GWR Nr. 340 Rüdiger Haudes Artikel "Anti-Speziesismus? Schmeckt mir nicht!" (http//www.graswurzel.net/340/tierrechte.shtml). In GWR 341 und GWR 342 haben wir mehrere Leserinnenbriefe dazu dokumentiert sowie in den Libertären Buchseiten (GWR 342) eine an die Diskussion anknüpfende Rezension von Sal Macis zu dem Buch "Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen. Beiträge zu einer kritischen Theorie für die Befreiung der Tiere" veröffentlicht. Diesmal drucken wir Tim Krögers Antwort auf Rüdiger Haudes Artikel.
(GWR-Red.)


Die kritische Reflexion des Mensch-Tier-Verhältnisses ist keine Frage des kulinarischen Geschmacks, sondern der gesellschaftlichen Vermittlung konkreter Individuen unter waren- und rechtsförmigen Verhältnissen. KonsumentInnen lernen Tiere meist als ersetzbare, fachgerecht zerlegte Abpackware im Supermarkt kennen, die sie in einem konditionierten Waren- und Rechtsgeschäft legal aneignen und bald verzehren. Keine Gedanken werden an jene Gewalt verschwendet, die dem tierischen Individuum die Einzigartigkeit seiner Empfindungen absprach.

Die gewaltförmigen Produktionsbedingungen reflektiert der Veganismus unter weitgehender individueller Verweigerung der Tiernutzung, ohne jedoch die besondere gesellschaftliche Vermittlung anzutasten. Die Geschichte der Tiernutzung ist weit älter als jene des Kapitalismus, gleichsam ist dieser zur Bedingung der Ausbeutung von Tieren geworden. Veganismus ist ein Privileg des Wohlstands, daher wäre es absurd, die Moralität derer einzuklagen, die am Hungertuch nagen oder denen der Zugang zu entsprechenden Nahrungsquellen verwehrt bleibt. Die Befreiung der Tiere ist notwendig an die Befreiung der Menschen geknüpft.

Veganismus ist keine Befreiung der Tiere, aber die Bedingung ihrer Möglichkeit. Wenn das Wohl dem Leid, die Freiheit der Gefangenschaft und das Leben dem Tod vorzuziehen ist, dann ist jede Kritik an der Befreiung der Tiere zynisch. Befreiung wendet sich indes nicht an die Tiere, sondern an ihre Schlächter. Sie bedeutet hierbei lediglich, etwas nicht zu tun, also nicht zu nutzen, nicht zu quälen, nicht zu töten. Wenn Rüdiger Haude die Nutzung von Tieren prinzipiell beibehalten möchte, bezieht er eindeutig Position gegen die Idee der Tierbefreiung, auch oder gerade wenn er von einer "Humanisierung" der Tiervernutzung träumt.

Die Nutzbarkeit der Tiere begründet sich nicht in ihrem Sein, sondern im Bewusstsein der Menschen. Leid oder Hätschelei erfahren Tiere je nach verurteilter Nutzenkategorie, indem sie als Haus-, Streichel-, Milch-Lege-, Schlacht- oder Versuchstier ein dumpfes Dasein fristen oder im Zoo und Zirkus dem närrisch-glotzenden Publikum zur Schau gestellt werden. Es entbehrt nicht einer gewissen Schizophrenie, wenn der Tod des geliebten Haustiers zur herzzerbrechenden Tragödie stilisiert wird, während jener des austauschbaren Exemplars im Schlachthaus als rationale Notwendigkeit beschönigt wird; wenn der moralische Zeigefinger auf die vermeintlich fremde Kultur zeigt, die hier den Verzehr von Hunden oder Katzen und dort jenen von Rindern oder Schweinen als barbarisch verurteilt; wenn Tierversuche sich dadurch legitimieren, dass Tiere dem Menschen so ähnlich sind und folglich die Resultate auf den Menschen übertragbar seien, aber zugleich kategorial anders, um moralische Bedenken zu ersticken.

Der Begriff des (Anti-)Speziesismus ist insofern eine zweifelhafte Kategorie, als dem biologischen Begriff der Spezies eine Konstruktion zugrunde liegt, die sich nicht auf Tiere und Menschen beschränkt. In der Konsequenz mündet der Begriff im Biozentrismus, der alle Lebewesen unabhängig von ihrer Leidensfähigkeit gleichermaßen berücksichtigen und deshalb scheitern muss. Vielmehr liegt die Wurzel des gewaltsamen Mensch-Tier-Verhältnisses im Anthropozentrismus, wonach der Mensch das Maß aller Dinge ist. In dieser Tradition sieht sich Haude, der vom "unsäglichen Leiden unzählbarer Tiere" plaudert, nur um absurd niedrige Preise von Tierprodukten rührselig zu beklagen, die auf Kosten der Qualität gingen - nicht der Lebensqualität unverwechselbarer, leidensfähiger Individuen, sondern der Qualität austauschbarer Exemplare unter warenförmiger Zu- und Hinrichtung.

Haude behauptet ferner, eine vegane Ernährung käme in der "Kulturgeschichte der Menschheit kaum vor", da das "gattungsgeschichtliche Erbe [...] uns wohl eher als Allesfresser mit einem gewissen Hang zum Aas" ausweise. Die Ausbeutung von Tieren ist keine "anthropologische Rahmenbedingung". Was sich als historische Analyse feiert, ist die deterministische Aufhebung von Geschichte. Weil etwas irgendwie ist oder immer war, muss es nicht für alle Ewigkeit so sein. Geschichtlichkeit bedeutete vielmehr, die Dinge als geworden und damit vergänglich zu begreifen. Auch die beste aller möglichen Welten konnte sich in der Kulturgeschichte der Menschheit noch nicht entfalten - kein Grund, sie nicht anzustreben.

Peter Singers utilitaristische Rechenhaftigkeit und der Populismus von PETA sind für die Tierbefreiungsidee so wenig repräsentativ wie der ekelhafte Chauvinismus und Antisemitismus Proudhons für die Idee des Anarchismus. Wenn die Argumentation versagt, hat Haude noch den Joker in der untersten Schublade: Hitler war Vegetarier!

Damit ist die emanzipatorische Idee diskreditiert. Auf diesen Schreck sollten VeganerInnen nun endlich aufhören, am Möhrchen zu knabbern, und ihrer "ethischen Verwahrlosung" inne werden.

Der Holocaust-Vergleich ist indes eine Scheußlichkeit, die zuweilen mittels antisemitischer Stereotype legitimiert wird, wie etwa, dass es Juden wie Isaac B. Singer waren, die durch Aussagen wie "Für die Tiere ist jeden Tag Treblinka" die Shoa entkontextualisierten, enthistorisierten und relativierten. Das erinnert an jene antisemitische Hetze, die sich durch einzelne Fälle jüdischen Selbsthasses legitimierte, denn wenn es der Jude selbst sagt, dann müsse es wohl stimmen. Die notwendige Kritik an dieser Identifikation der Verbrechen verfehlt aber das Problem, insofern der Skandal des Vergleichs im überragenden Wert des Menschen gegenüber Tieren gesehen wird. So schließt Haude, dass "Menschen auf die Ebene von Tieren herabgedrückt" würden, insofern Tiere "auf die Ebene von Menschen gehoben werden". Hier wird Moral als jenes Verhältnis missverstanden, das den ideellen Wertzuwachs auf der einen Seite als Wertverlust auf der anderen Seite verbucht. Wert und Würde leiten sich etymologisch von "wenden" ab und bedeuten "gegen etwas gewendet" im Sinne von "einen Gegenwert habend". Sie sind das abschätzende Verhältnis, das selbstständige Größe setzt.

Daher fällt der Einwand Haudes gegen die Kritik des "Nullsummenspiels", er habe nur von Relationen und nicht von Summen gesprochen, auf ihn selbst zurück. Der Idee der Tierbefreiung ginge es nicht um Auf- oder Abwertung, sondern um die prinzipielle Kritik des wertförmigen Denkens. Der Skandal des Holocaust-Vergleichs liegt vielmehr in jener relativierenden Identifikation, die unterstellt, dass sowohl die Shoa als auch der industrialisierte Tierverbrauch relativ auf das Andere und damit irrelevant an sich selbst seien. Die Erinnerung wird aus dem historischen Kontext gerissen und entfremdet, wenn die PETA-Kampagne "Holocaust on your plate" die Schrecken der Shoa auf populistischen Reklametafeln instrumentalisiert. In der Kulturindustrie hat alles nur eine Qualität, sofern man es eintauschen kann, nicht sofern es selbst etwas ist.

Das folgende Zitat ist übrigens höchstwahrscheinlich nicht von Adorno: "Auschwitz fängt da an, wo einer im Schlachthof steht und sagt, es sind ja nur Tiere." Es sollte nicht nur HistorikerInnen skeptisch machen, wenn sich Aussprüche ohne Quellenangaben hartnäckig verbreiten. Von Adorno kommt hingegen: "Der Trotz, mit dem er [der Mensch, der ein tödlich verwundetes Tier erblickt] diesen Blick von sich schiebt - 'es ist ja bloß ein Tier' - wiederholt sich unaufhaltsam in den Grausamkeiten an Menschen, in denen die Täter das 'Nur ein Tier' sich immer wieder bestätigen müssen, weil sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten." (Adorno, MM, 2003, S. 118) Gerade deshalb ist Haudes Annahme falsch, wonach die ethische Grenze zwischen Menschen und Tieren vor ethischen Grenzen zwischen den Menschen schütze. Adorno als dezidiert deutschen Philosophen gegen den jüdischen Philosophen Adorno auszuspielen, verursacht indes hartnäckiges Fremdschämen. Ist die Rückkehr Adornos ins postnazistische Deutschland seiner deutschnationalen Gesinnung geschuldet? Floß bei all seiner Kritik der Nation doch irgendwie deutsches Blut durch seine Adern? Oder zieht Haude kulturnationalistische Gründe zu Rate, für einen Menschen, der in Auschwitz das Ende von Kultur erblickte?

"Die Besonderheit der menschlichen Kulturhaftigkeit" (Haude) ist kaum zu leugnen. Aber welche Kultur meinen wir? Die Kultur des Schlachthofs, die Kultur des Patriarchats, die Kultur des Rassismus, die Kultur des Kapitalismus oder gar die Kultur, die Auschwitz möglich machte? Eine Kultur, auf die sich berufen ließe, wäre erst noch zu erschaffen.

Der Mensch ist besonders, weil er die Wahl hat, andere Tiere moralisch zu berücksichtigen, also berücksichtigt er sie nicht. Nur in der Unterscheidung vom Tier kann sich der Mensch definieren, wenn er mit dessen Unvernunft seine Würde beteuert (vgl. Horkheimer/Adorno, DdA, 2001, S. 262). Die Tierbefreiungsidee will keinesfalls "eine Auster und einen Orang-Utan auf dieselbe Stufe" stellen. Die Kritik des Anthropozentrismus sensibilisiert dafür, dass die strikte Grenze zwischen Mensch und Tier eine Konstruktion ist, die jene Differenz zwischen Auster und Orang-Utan als tierliche Identität einebnet und den feinen Unterschied im Reich der Primaten als Wächter eines tiefen Grabens betont.

Tiere sollten Rechte haben"? Die Forderung nach Tierrechten ist absurd. Die Ideologie der Rechtsform kann Tiere nicht als moralische Objekte anerkennen, weil einerseits das Recht nicht moralisch ist und andererseits Tiere keine Rechtssubjekte werden können, die das Wesen des Rechts verinnerlichen: Berechtigung fordert immer zugleich die Verpflichtung ein: Daher wird, wo niemand "einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schaden zufügen" dürfe (§ 1 Tierschutzgesetz vom 18. Mai 2006, Dt.), nachgerade jede Scheußlichkeit als vernünftiger Grund verwaltet.

Auch Menschenrechte sind nicht Zeichen der Emanzipation, vielmehr spiegelt ihre Notwendigkeit irrationale Verhältnisse wider. Der Forderung nach "artgerechter" Tierhaltung kann nur entgegnet werden, dass "artgerecht" allein die Freiheit ist, das gilt für Menschen wie für andere Tiere. Moral setzt die Freiheit der Entscheidung voraus. Insofern verfehlt der ethische Diskurs das Wesen der Moral, wenn er aus der Not widerstreitender Handlungsperspektiven eine Tugend für ethische Grenzfälle ableiten möchte. Die Ausbeutung der Tiere ist jedoch keine notwendige Bedingung der menschlichen Existenz.

Wenn wir in keinem ethischen Dilemma stecken, in dem das Tier sterben muss, damit der Mensch überlebt, stehen wir vielmehr vor der Wahl zwischen Tod oder Leben, Leid oder Lust der Tiere.

Wie entscheiden wir uns?


(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Artikel von Rüdiger Haude ist im Schattenblick zu finden unter:
www.schattenblick.de -> Infopool -> Medien -> Alternativ-Presse
GRASWURZELREVOLUTION/1022: Diskussion um Tierrechte - Anti-Speziesismus? Schmeckt mir nicht!


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Quelle:
graswurzelrevolution, 38. Jahrgang, GWR 343, November 2009, S. 18
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2009