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GRASWURZELREVOLUTION/1269: Der fünfte Weg


graswurzelrevolution 370, Sommer 2012
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

DISKUSSION
Der fünfte Weg

Gegen Israels Kriegs- und Erstschlagspolitik, gegen Irans Atomkurs und gegen Grass



Muss ich nun für Grass sein bzw. mich hinter ihm verstecken, um Israels Kriegsdrohung kritisieren zu können (vgl. die "Grass hat recht"-Transparente auf den Ostermärschen der "Friedensbewegung"), oder muss ich mich ohne Wenn und Aber auf den religiös-fundamentalistischen Flügel der israelischen Netanjahu-Kriegspropagandisten stellen, um keinen Antisemitismus-Vorwurf abzukriegen? Alfred Schobert, der 2006 gestorbene GWR-Autor, würde bei dieser falschen Alternative von einer "binären Reduktion" gesprochen haben - seinem Lieblingsausdruck. Doch diese binäre Reduktion wird in der Iran/Israel-Diskussion ernst genommen und nicht etwa als anmaßende Absurdität zurückgewiesen! (GWR-Red.)


Die binäre Reduktion hatte ihre Hochzeit im Kalten Krieg. Wer aus dem Ost-West-Gegensatz ausbrechen wollte, wurde von - selbsternannten oder tatsächlichen - Großintellektuellen, Medien und PolitikerInnen gleich wieder in das Lagerdenken zurückgeholt.

So erging es etwa Camus, dessen aus dem Binären ausbrechende Utopie einer mittelmeerischen Kulturvermischung (analog etwa Rudolf Rockers Kulturvermischungs-Geschichtsschreibung für Europa in "Nationalismus und Kultur") gleich von Sartre & Co. mittels Begriffen wie "Kolonialist des guten Willens" wieder eingefangen wurde.

So erging es auch uns gewaltfreien AnarchistInnen innerhalb der Linken und der damals viel größeren Friedensbewegung, wenn wir zugleich die Rüstungspolitik der NATO wie die der "Warschauer Vertrags-Organisation" kritisierten.

Die binäre Reduktion funktioniert wie eine Art ideologische Gedankenpolizei.

Große Teile der marxistischen Dialektik sind für mich nur eine weitere "binäre Reduktion" im Sinne Alfred Schoberts. Am weitesten ging dabei Georg Lukács, der in "Geschichte und Klassenbewußtsein" die meisten marxistischen Inhalte verwarf und allein die dialektische Methode bestehen ließ.

Aktuell gibt es durch neomarxistische Autoren wie Alain Badiou, Daniel Bensaïd oder Slavoj Zizek im Marxismus eine Renaissance der Dialektik.

Ich finde ein Denken peinlich, das als einzigen Unterschied zum bourgeoisen "dualistischen Denken" lediglich noch - nach These und Antithese - eine "Synthese" vorsieht, die ich aber nicht selbst, subjektiv, mit anderen zusammen erkämpfen darf, nein, sondern die sich "objektiv" ergibt! Der autoritäre Charakter des binären Denkens wird ganz offenkundig im Begriff des "Objektiven". Was immer ich auch subjektiv vorhabe, "objektiv" gehöre ich doch auf die eine oder die andere Seite des binären Denkens. Bei der Israeldiskussion gilt als binärer Gegensatz der Linken derjenige der "Antideutschen" (aktuell nicht zufällig identisch mit den Regierungspositionen sowohl in der BRD wie in Israel) versus der "Antiimperialisten". Er ist falsch und es gilt, aus ihm auszubrechen.

Der dritte, vierte oder fünfte Weg - er soll mit allen Mitteln verhindert werden. Das geht schon so weit, dass von der ideologischen Gedankenpolizei bereits die Erwähnung eines "dritten Weges", den die AnarchistInnen für sich oft in Anspruch nahmen, mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt wird, weil auch die Nazis mitunter von einem "dritten Weg" gesprochen hatten. Wer seine Gegner an solchen Formalien aufhängt, braucht sich um Inhalte nicht mehr zu kümmern: Die Nazis definierten sich als dritten Weg "zwischen Kapitalismus und Sozialismus" - was real ein nationaler Kapitalismus war, den sie "Nationalsozialismus" nannten.

Dem Anarchismus jedoch ging es inhaltlich nie um ein nebulöses Dazwischen, ein Halbe-Halbe, einen Staatskapitalismus, weshalb der von seinen Strömungen in überwältigender Mehrheit vertretene freie bzw. libertäre, antistaatliche Sozialismus auch vierter oder fünfter Weg genannt werden könnte. Das binäre Denken ist auch immer ein Denken in absoluten Gegensätzen. Das Schlimmste dabei, sozusagen die Negativutopie, sind alle Formen der Vermischung, Verschmelzung, Auflösung der Gegensätze, Multipolarität. Edward Saïd hat schon vor langer Zeit dieses binäre Denken als "Orientalismus" oder "Eurozentrismus" denunziert, das dem Kolonialismus und dem Neokolonialismus gute Dienste geleistet habe. Genau genommen hat der Anarchismus mit dem multipolaren außereuropäischen Denken mehr gemein als mit der binären, dialektischen europäischen Tradition - von jüngeren Denkströmungen wie dem französischen Poststrukturalismus und den angloamerikanischen Post-Colonial-Studies abgesehen, die jedoch in großen Teilen das multipolare außereuropäische Denken aufgenommen haben bzw. auf ihnen basieren.


Solche und solche Grass-Kritik

Grass hat also ein Gedicht geschrieben. Mich interessiert dieses Gedicht nicht und ich werde hier auch nur einen Satz davon behandeln. Prof. Moshe Zuckermann aus Tel Aviv hat es kommentiert, vielmehr die Art, wie es in der deutschen Medien- und Politwelt kritisiert wurde.

Ich mag die Analysen von Zuckermann sehr: Er war nicht nur mit Alfred Schobert, einem der profiliertesten Antisemitismus-Kritiker, den die deutsche Linke je hatte, befreundet, sondern schrieb wie dieser auch lange Zeit in der antideutschen Zeitung "Konkret", bevor er aufgrund seiner israelkritischen Positionen bei "Gottseibeiuns" Gremliza und sofort bei allen sonstigen antideutschen Kreisen in Ungnade fiel und nun von ihnen umso bornierter bekämpft wird. Es wäre aber nun auch falsch, Zuckermann einfach der "antiimperialistischen" Position im binären Pol linker Israeldiskussion zuzuordnen:

Er hat sich 2011 zur Zeit der israelischen Indignados-Bewegung in mehreren öffentlichen Stellungnahmen (etwa vom 15.8.2011) mit den arabischen Aufständen solidarisiert, explizit auch mit lybischen und syrischen Revolten, und seine Kritik der israelische Bewegung war immer die, nicht so weit wie diese gegangen und das eigene Militär nicht infrage gestellt zu haben.

In seinen Analysen hat er nicht nur vor den Plänen einer iranischen, sondern auch einer syrischen Atombombe, einer dann entstehenden Situation des "Ballance of Horror" gewarnt (vgl. Neues Deutschland, 25.10.2008)

Zuckermann ist auch nicht einfach Antizionist geworden. Mit seinem Buch "'Antisemit!' Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument", einer scharfsinnigen, von einem sozialistischen Standpunkt ausgehenden Analyse der Instrumentalisierung der Shoah durch Israels Regierung und zugleich einer Abrechnung mit den absurden Debatten um die antideutsche Strömung innerhalb der deutschen Linken, hat er lediglich einen subjektiven Befreiungsschlag gemacht und sich neu verortet, aber er hat sich politisch keineswegs verändert. (1)

Zuckermann meint, dass sich auf Grass geradezu eine Meute stürzte: "Eine Konstellation aus enthusiasmierten Israelsolidarisierern 'antideutscher' (letztlich neokonservativer) Provenienz, einer stets abrufbereiten, 'jüdischen Intelligenz' (professoraler, publizistischer und offiziell-institutioneller Couleur), einer unter dem geschichtlich konnotierten Tabu keuchenden politischen Klasse, einer in diesem Punkt in der Tat 'gleichgeschalteten' deutschen Medienwelt und einer aktivistisch-durchideologisierten israelischen Botschaft bildet stets eine durch den Eklat gestählte Front, sobald ein Ausscherender etwas, und sei's noch so kümmerlich, an ihrer Selbstgewissheit kratzt." (2)

Die Konstellation Grass versus vereinigte Kritik im Sinne deutscher Staatsraison ist schon die falsche binäre Reduktion. Beginnen wir mit dem angeblichen einen Pol Grass: "Was gesagt werden muss, war bereits gesagt worden", meint dazu Ekkehart Krippendorff in einer Stellungnahme (3), doch 50 Intellektuelle mussten noch kurz vor Grass' Gedicht ihre eindeutige und viel ausführlichere "Erklärung aus der Friedensbewegung und Friedensforschung" in kleingedruckten, selbstbezahlten Anzeigen im "Freitag und der "Süddeutschen" veröffentlichen (31.3.).

Dort heißt es u.a.: "Mit der Tolerierung von Israels Atomwaffenarsenal und gleichzeitiger Bekämpfung des iranischen Atomprogramms tragen USA und EU die Hauptverantwortung dafür, dass kaum ein Oppositionspolitiker im Iran es wagt, die Atompolitik der Islamischen Republik in Frage zu stellen." (4) Diese Erklärung hat Grass übrigens nicht unterzeichnet. Sie blieb von den herrschenden Medien unbeachtet, bevor diese sich dann auf Grass' Gedicht stürzten. "Aber so funktioniert nun einmal die Medienöffentlichkeit" (Krippendorff).

Mensch braucht sich also nicht auf Grass zu berufen, um Israels Kriegspolitik zu kritisieren und natürlich die aggressive Ahmadinedschad-Regierung, die durch die Revolte von 2009 auch innenpolitisch desavouiert ist. Grass ist in meinen Augen durch sein zu spätes, erst 2007 von ihm veröffentlichtes Geständnis, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, als moralisch-mahnende Stimme entlegitimiert. Für mich war Grass nie eine moralische Instanz. Grass unterstützte und unterstützt immer wieder Wahlkämpfe für die SPD, zuerst für Willy Brandt, zuletzt für Heide Simonis. Grass wurde 1982 SPD-Mitglied. Erst 1992 trat er aufgrund der SPD-Asyldiskussion wieder aus der Partei aus.

Heinrich Böll dagegen, war sich zur selben Zeit nicht zu schade, sich an den Blockaden gegen die Stationierung von Atomraketen in Mutlangen zu beteiligen. Bölls frühe Selbstkritik seiner grauenhaften Briefe aus der russischen Front machte ihn für mich glaubwürdig - im Gegensatz zu Grass.

Wie absurd diese bereits falsch polarisierte Diskussion um Grass dann ablief, versuche ich nun an einem Satz aus Grass' Gedicht aufzuzeigen: "Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag, der das [...] iranische Volk auslöschen könnte." Hier meint auch Zuckermann, dass "man in Israel den 'Erstschlag' in der Öffentlichkeit nirgends als nuklearen diskutiert, daher auch die 'Auslöschung des iranischen Volkes' weder thematisiert noch im Blickfeld" (5) hat. Der Begriff "auslöschen" ist von Grass also falsch und unsensibel gewählt - und man/frau muss in der Tat kritisch fragen, warum Grass hier diesen direkt mit der NS-Geschichte verbundenen Begriff benutzt hat?

Doch die zynische Kritik des oben beschriebenen Kartells an dieser Formulierung war ja die wie eine Selbstverständlichkeit vorgetragene, mit schallendem Gelächter begleitete Behauptung, dass das kleine Israel den territorial riesigen Iran mit rund 75 Mio. EinwohnerInnen gar nicht "auslöschen" könne.

Das alles hat mit der historischen Realität des Begriffes "Auslöschung (Vernichtung/Ausrottung) der europäischen Juden" gar nichts zu tun - oder muss erst darauf hingewiesen werden, dass die Nazis faktisch 6. von rund 11 in Osteuropa lebenden Juden/Jüdinnen "auslöschen" konnten, der Begriff "Auslöschung" hierfür aber gleichwohl berechtigt ist? Der historische Begriff der "Auslöschung" hat real noch nie die gesamte als Feind bestimmte Bevölkerung umfasst, er suggeriert das nur. Es ist zynisch zu behaupten, die Gefahr sei lächerlich, dass israelische Atomwaffen iranische Städte treffen könnten, u.a. die 12-Millionenstadt Teheran. Das sei ja noch keine "Auslöschung"! Mensch muss das auch nicht "Auslöschung" nennen, Massenmord genügt.

Zuckermann rückt entscheidend zurecht, was Grass hier falsch dargestellt hat:

"Dass aber Szenarien möglich sind, bei denen der Einsatz von Nuklearwaffen mitgedacht werden muss, wird niemand in Abrede stellen wollen. [...] Die Existenz Israels wird aber nicht durch die (potentielle) iranische Atombombe bedroht, sondern durch die nichtnukleare Dynamik des Krieges, der nach einem nichtatomaren Präventivschlag Israels gegen den Iran folgen dürfte. [...] Eine solche Kriegsdynamik, welche in der Tat den Einsatz israelischer Nuklearwaffen zur Folge haben könnte, wäre nicht das Resultat der realen Bedrohung Israels durch die (vorerst noch nicht existierende) iranische Atombombe, sondern das Ergebnis des von Israel initiierten konventionellen Erstschlags."

In Wirklichkeit, so Zuckermann weiter, sei die Kriegsdrohung nur eine Ablenkung vom wirklichen Unwillen Israels, Frieden mit den PalästinenserInnen zu schließen: "Wer nicht begreifen will, dass die Bedrohung Israels durch die Saddam Husseins und die Ahmadinedschads der Region in erster Linie durch den (noch) ungelösten Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern erst eigentlich möglich wird, muss sich vorhalten lassen, dass sein Gerede über die Existenzbedrohung Israels, gar über eine Israel drohende 'zweite Shoah' manipulativ-ideologischen Charakters ist. Aber genau darin übt sich die israelische Politik schon seit Jahrzehnten: Israel will den Frieden mit den Palästinensern nicht, denn dieser ist ohne Abzug aus den besetzten Gebieten nicht zu haben." (6)


Eingestürzte Pfeiler der israelischen Staatsraison

Die israelische Staatsraison besteht aus zwei legitimen ideologischen Pfeilern, die sich als Konsequenz aus der Shoah ergeben haben: Der Staat soll Zufluchtsstätte für alle Juden/Jüdinnen der Welt sein und er garantiert ihnen, ohne Angst vor erneuter Vertreibung oder gar Vernichtung zu leben.

Für den zweiten Pfeiler gibt es mittlerweile 64 Jahre praktische Erfahrung. Wie lange soll dem israelischen Staat eigentlich noch Zeit gegeben werden, 100 Jahre, 200?

Das Ergebnis der bisherigen Erfahrung kann nur lauten: Der israelische Staat hat es nicht erreicht, seinen jüdischen BewohnerInnen - von den arabischen Israelis und den PalästinenserInnen abgesehen - ein angstfreies und bedrohungsfreies Leben zu sichern. Zu behaupten, dass es nur den israelischen Atomwaffen zu verdanken sei, dass die arabischen Staaten in den letzten 30 Jahren Israel nicht ins Meer treiben konnten, kann nur antideutschen Eiferern einfallen, für die Krieg nicht nur kein Verbrechen, sondern im Vergleich zur Herrschaftsform des Antisemitismus eine vernachlässigenswerte Bagatelle, ja ein emanzipativer Akt der Selbstverteidigung ist.

Sie halten sich dabei keinen Moment an der historischen Tatsache auf, dass die Shoah selbst nur unter den Bedingungen des Krieges (des Zweiten Weltkrieges) und seiner Dynamik über mehrere Jahre hinweg möglich wurde. (7)

Wer die Angst vor einer "zweiten Shoah" verhindern will, muss daher Krieg bekämpfen, nicht ihn schüren. Er/sie muss auch Begegnung schaffen, Bevölkerungsgruppen vermischen, anstatt sie zu trennen. Nur so entsteht Vertrauen aus einer Erfahrung von Kenntnis und Nähe, die eine von Unkenntnis und Vorurteilen gespeiste Angst überwindet.

Spätestens seit 2002, dem Bau einer Barriere/Mauer zwischen Israel und den von PalästinenserInnen bewohnten Gebieten, ist dieser zweite ideologische Pfeiler eingestürzt. Wie schon der Mauerbau der DDR ist auch diese Barriere/Mauer eine für alle sichtbare ideologische Bankrotterklärung des sie bauenden Staates.

Für den ersten ideologischen Pfeiler der israelischen Staatsraison gibt Zuckermann ein beredtes historisches Beispiel - ein einziges Beispiel von Hunderten, das aber gut zur Kritik an Grass' Verwendung des Begriffes "Auslöschung" passt: "In einem als 'streng geheim' eingestuften Brief vom 29. April 1958 bat Golda Meir, damalige Außenministerin Israels, den israelischen 'Botschafter in Polen, Katriel Katz, der polnischen Regierung auszurichten, dass Israel die Einrichtung einer 'Selektion' unter den nach Israel emigrierenden polnischen Juden wünsche, da man keine weiteren 'Behinderten und Kranken' aufzunehmen vermag. Meir fragte den Botschafter, ob man dies den Polen vermitteln könne, ohne die Aliyah (die Einwanderung nach Israel) zu schädigen." (8)

Während also Israel Grass wegen des Benutzens eines Begriffs wie "auslöschen" ein Einreiseverbot erteilt, benutzt der israelische Staat seinerseits seit Jahrzehnten vielfach inkriminierte NS-Begriffe ganz ungeniert, wenn es eigenen Interessen dient. Der israelische Historiker Tom Segev hat aufgezeigt, dass die Unterscheidung zwischen willkommenem und unwillkommenem "Menschenmaterial" die Geschichte des Zionismus von Anfang an begleitet habe; dass die "displaced persons" (DP), die nach der Shoah nach Palästina, später Israel einreisten, jene "siebte Million", ganz und gar nicht willkommen waren, dass unter Begriffen wie "Regulierung" und "Selektion" Krankheitslisten ausgearbeitet wurden, welche die Einwanderung von Kranken verhinderten. (9)

Zuckermann kommentiert diese Fakten Segevs so: "Wenn sich herausstellt, dass Führungsinstanzen des politischen Zionismus nicht nur im Jahre 1958, sondern auch vor und unmittelbar nach der Shoah (in den DP-Lagern) bei ihrem historischen Werk der Staats- und Gesellschaftserrichtung von selektierendem Geist beseelt waren, dann war der Zionismus eben nicht die Zufluchtsstätte für alle Juden der Welt, sondern zunächst für die Juden, an denen der Zionismus interessiert war. [...] Der in Realpolitik umgeschlagenen zionistischen Ideologie waren die Juden in erster Linie 'Menschenmaterial'."

Wenn die eingewanderten Shoah-Überlebenden im Staate Israel also überlebten, so Zuckermann weiter, "so war das keine Leistung des Zionismus und seiner Ideologie, sondern vollzog sich trotz seiner instrumentellen, zuweilen dezidiert pejorativen Beziehung zu ihnen als Shoah-Überlebenden."

So sind sowohl die Denunzierung wie die Benutzung solcher Begriffe wie "Auslöschung" oder "Selektion" durch die israelische Regierung für Zuckermann entlarvende Akte "eines bis zum heutigen Tag nicht versiegen wollenden Impulses zur fortgesetzten Instrumentalisierung der Shoah für heteronome Belange". (10)

Hier unterscheidet sich der Staat Israel übrigens in nichts von allen anderen Staaten der Welt und ihrem mit ähnlich zynischen Interessenerwägungen verknüpften Umgang mit Migration und Einwanderung. Die gewaltfrei-anarchistische Kritik an Israel entspringt also nicht besonderen, nur mit Israel verbundenen Erwägungen (was dann antisemitisch wäre), sondern äußert sich gegen Israel ausschließlich insofern, als sie für alle Staaten der Welt genauso gilt.

Dies zeigt sich deutlich, wenn nun die deutsche Staatsraison mit in Betracht gezogen wird.


Was schulden AnarchistInnen der deutschen Staatsraison?

Bundeskanzlerin Merkel hat sich explizit mit der israelischen Staatsraison solidarisch erklärt und diese damit auch zur bundesdeutschen gemacht.

Sie hat sich damit einer unberechenbaren Rechtsaußen-Regierung unter Netanjahu ausgeliefert, deren Kriegspläne inzwischen selbst von Y. Diskin, ehemaliger Chef des israelischen Inlandsnachrichtendienstes, von M. Dagan, ehemaliger Mossad-Chef und vom Armeechef B. Gantz hart kritisiert worden sind. Y. Diskin erklärte am 29.4.2012 öffentlich:

"Ich habe überhaupt kein Vertrauen in die aktuelle Führung [...], die ihre Entscheidungen auf der Basis messianistischer Gefühlslagen trifft. [...] Sie sagen, wenn Israel handelt, werde der Iran keine Atombombe bekommen. Das ist falsch. In Wirklichkeit sagen viele Experten, dass ein israelischer Angriff den Atomkurs des Iran nur beschleunigt." (11)

Eine Aussage, die für Antideutsche den klaren Tatbestand des Antisemitismus erfüllen müsste.

Aber ernsthaft: Was bedeutet die Identifizierung der BRD-Staatsraison mit der israelischen durch Merkel für die Position deutscher und israelischer AnarchistInnen zu beiden Formen der Staatsraison? Es kann nur bedeuten, dass beide abgelehnt werden. Es ist eine Selbstverständlichkeit für AnarchistInnen, die Staatsraison abzulehnen, und zwar überall, in jedem Land. Natürlich haben die in Deutschland sozialisierten AnarchistInnen aufgrund der deutschen Geschichte nicht die Absicht, mit der Abschaffung aller Staaten ausgerechnet in Israel anzufangen, nein, sie fangen damit hier in Deutschland an.

Aber wenn sich große Teile der GraswurzelrevolutionärInnen und der gewaltfrei-aktivistischen AutorInnen in dieser Zeitung und unseren Publikationen (12) bewusst mit den israelischen GraswurzelrevolutionärInnen der AATW (Anarchists Against the Wall), der antimilitaristischen Mitgliedsgruppe der War Resisters' International, New Profile, und ähnlichen Gruppen für israelisch-palästinensische Freundschaft solidarisieren, dann solidarisieren sie sich auch mit ihren Zielen, die letzten Endes auch die israelische Staatslegitimation in Frage stellen.

Ob und wann der israelische Staat - wie alle anderen Staaten auch, wie übrigens auch (der dann bestehende?) palästinensische Staat - abgeschafft werden kann, steht in den Sternen - es wird wohl lange dauern, denn im Moment ist die Bewusstseinslage der israelischen BürgerInnen mehrheitlich (oder knapp unterhalb einer Mehrheit) kriegslüstern. (13)

Selbstverständlich können auch die AATW den israelischen Staat nicht heute, aus einer Minderheitsposition heraus abschaffen, sondern ihre Strategie - wie die aller AnarchistInnen weltweit - läuft darauf hinaus, dass ihre Widerstandsaktionen und ihre Öffentlichkeitsarbeit zu einem grundlegenden Bewusstseinswandel der eigenen Bevölkerung führen (vergleichbar dem, den die Anti-Atom-Bewegung von den Siebzigerjahren bis heute erreichte), wodurch dann die überwältigende Mehrheit (mindestens ca. 90 %) der israelischen Bevölkerung die Staatsabschaffung aktiv und willentlich begrüßen wird.

Das ist anarchistische Strategie. Alles andere ist Putsch und Diktatur, die mit Anarchie nichts zu tun haben. Von den herrschenden Medien über die Regierung bis zu den Antideutschen wird aber genau das unterstellt. Es ist jedoch nicht Schuld der AnarchistInnen, wenn die alle keine Ahnung von Anarchie haben!

Aber wenn AnarchistInnen die hier bewusst ineinsgesetzte, von den Antideutschen bis zu Merkel reichende Staatsraison und die israelischen AnarchistInnen die dortige Staatsraison ablehnen, was garantiert dann in der Zwischenzeit die zwei ideologischen Pfeiler der in Israel lebenden Juden/Jüdinnen, die der israelische Staat in seiner langen Praxis nicht erfüllt hat, die als Anspruch aber gleichwohl berechtigt sind?

Die Antwort liegt im gewaltfreien Widerstand, über dessen Hintergrund, Komplexität, Geschichte und strategische Bedeutung sind kaum eine/r unter den Linken der binären Reduktion Gedanken macht, weder die Antideutschen noch die AntiimperialistInnen, ja die beide geradezu für irrelevant oder gar hinderlich halten. Gewaltfreie AnarchistInnen solidarisieren sich mit dem gewaltfreien Widerstand der PalästinenserInnen (nicht mit dem bewaffneten), weil nur dieser den Willen ausdrückt, zwar für eine freie, emanzipatorische Gesellschaft zu kämpfen, dabei aber zugleich ein Lebens- und Aufenthaltrecht der in Israel lebenden Individuen zu garantieren. Und zwar auf persönlicher Ebene, durch persönlichen Kontakte, durch Vermischung - wie es die israelisch-palästinensischen direkten gewaltfreien Aktionen seit dem Barrieren/Mauerbau bewiesen haben.

Wenn auch nicht mehr so eindrucksvoll wie noch vor einigen Jahren, so existieren diese die Trennungspolitik überwindenden Initiativen nach wie vor und in ihnen liegt die Hoffnung.

Wer gewaltfreien Widerstand leistet, garantiert durch die eigene Praxis, durch die Tat das Lebens- und Existenzrecht beider, der PalästinenserInnen und der in Israel lebenden Juden/Jüdinnen. Hier haben Instrumentalisierung und Interessenpolitik keinen Platz mehr. Diese Solidarität mit den gewaltfrei Widerstandleistenden umfasst aber auch die einsetzende Diskussion und Kritik, wenn einzelne Individuen oder Gruppen zum bewaffneten Kampf aufrufen und damit die Inhalte dieses Lebens- und Existenzrechts, die mit dem gewaltfreien Widerstand verbunden sind, in der Praxis, durch die Tat negieren.

Ganz im Gegensatz dazu steht die Identität der BRD-Staatsraison mit der israelischen Staatsraison. Zuckermann dazu: "Günter Grass beklagt die Belieferung Israels mit einem 'weiteren U-Boot' durch Deutschland. Er erinnert sich vielleicht nicht, dass das U-Boot-Abkommen mit Israel ein Erbteil der Schadensabwicklung im 1991er-Golfkrieg ist, als 'wiedergutgemacht' werden sollte, dass 'Deutsche' Saddam Husseins Waffenindustrie mit 'Gas' beliefert hätten." (14) U-Boote als "Wiedergutmachung", 1991 wie heute. Zuckermann fragt sarkastisch danach, wie denn "der Tauschwert an in der Shoah vernichtetem jüdischen Leben für ein U-Boot verrechnet wird"?

Doch wenn's den Interessen beider Formen der Staatsraison dient, lässt sich auch dafür eine angemessene und wortgewandte Instrumentalisierung finden - und lassen sich KritikerInnen als AntisemitInnen denunzieren, die von jeder Staatsraison, die notwendig mit solcher Instrumentalisierung einhergeht, angewidert sind.

S. Tachelschwein


Anmerkungen:

(1): Moshe Zuckermann: "Antisemit!" Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument, Promedia, Wien 2010.

(2): Moshe Zuckermann: Eine gut archestrierte Hysterie", in: hintergrund, online-Version, 6. April 2012.

(3): Ekkehart Krippendorff: "Was gesagt werden muss, war bereits gesagt worden", in: hintergrund, online-Version, 6. April 2012

(4): "Friedens- statt Kriegspolitik im Irankonflikt". Eine Erklärung aus der Friedensbewegung und der Friedensforschung:
www.friedenskooperative.de/cgi-bin/iran.pl

(5): Zuckermann, "Eine gut orchestrierte Hysterie", siehe Anm. 2, a.a.O

(6): Zuckermann, ebenda.

(7): Wie leider auch dem Leserbriefschreiber D. Thesing, dessen kriegspropagandistischer Leserbrief in der GWR 367, auf S. 19 zu finden ist.

(8): Zuckermann: "Antisemit!" Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument, Promedia, Wien 2010, S. 19.

(9): Vgl. Tom Segev: Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Rowohlt, Reinbek 1995.

(10): Zuckermann: "Antisemit!" Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument, a.a.O., S. 21 f.

(11): Youval Diskin, zit. nach Laurent Zecchini: "L'ancien chef du renseignement israélien fustige le discours officiel sur l'Iran", in: Le Monde, 2. Mai 2012, S. 8.

(12): Vgl. dazu Sebastian Kalicha: Barrieren durchbrechen! Israel/Palästina: Gewaltfreiheit, Kriegsdienstverweigerung, Anarchismus, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2008.

(13): Vgl.:
www.hamiltonstrategies.com/events.php?docid=571
Andere jüngere Umfragen sehen derzeit eine Kriegsbefürwortung innerhalb der israelischen Bevölkerung von knapp unter 50 %.

(14): Zuckermann, "Eine gut orchestrierte Hysterie", siehe Anm. 2, a.a.O.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 41. Jahrgang, Nr. 370, Sommer 2012, S. 14-15
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. August 2012