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GRASWURZELREVOLUTION/1367: Überwachung im Kapitalismus (Teil 1)


graswurzelrevolution 384, Dezember 2013
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Überwachung im Kapitalismus
Teil 1: Die Erwerblosen

von Simon Schaupp



Die mediale Debatte um die lange Kette der "Überwachungsskandale" schwankt zwischen einer aus herrschaftskritischer Sicht erfreulichen Empörung über die Zugriffsmacht des Staates auf nahezu alle Lebensäußerungen und dem merkwürdigen Unterton eines verletzten nationalen Selbstwertgefühls. Das nationale "wir" taucht in den allermeisten Artikeln auf, meist in Abgrenzung zu NSA und Co.


Was "wir" jetzt tun sollen, ist in fast jedem Kommentar zum Thema die leitende Frage, in der eine aufflammende Identifikation mit der Bundesregierung zum Vorschein tritt. Kaum wird in Erwägung gezogen, dass die deutschen Geheimdienste aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur über einen Großteil der Überwachungsoperationen Bescheid wussten und vermutlich sogar daran beteiligt waren, sondern dass gerade sie ein Interesse an der outgesourcten Überwachung haben, da ihnen die Daten größtenteils zur Verfügung gestellt werden.

Ein anderer, noch weniger beleuchteter Aspekt ist die Tatsache, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung in ihrem Alltag auf Überwachung angewiesen ist, die sich nicht auf "Staatsfeinde" beschränkt. Für einige gesellschaftliche Gruppen stellt nahezu lückenlose Überwachung einen Normalzustand dar, ohne dass darin ein Skandal gesehen würde.

Betroffen sind u.a. Menschen ohne dauerhaften Aufenthaltstitel und Erwerbslose. In diesem ersten Teil des Artikels soll es um letztere gehen.


Die Anfänge der Erwerbslosenstatistik

Das staatliche Bedürfnis nach Registrierung und Überwachung der Erwerbslosen ist keineswegs neu, sondern konstituierte die Rede von der "Arbeitslosigkeit" von ihrem Beginn an wesentlich mit. Während im 19. Jahrhundert in den Industrieländern Lohnarbeit allmählich als einzige Form der Lebenssicherung durchgesetzt wurde und Alternativen verdrängt und kriminalisiert wurden (1), bot sie gleichzeitig keine ausreichende Möglichkeit zur Reproduktion. Strukturelle Armut und Verelendung waren die Folgen.

Erwerbslose, die von dieser Verelendung am meisten betroffen waren, wurden von den Obrigkeiten als besonders gefährlich eingestuft. Schon die erste Debatte über Erwerbslosigkeit im preußischen Parlament kreiste um die Begriffspaare "wandernde Arbeitslose" und "öffentliche Ordnung" (2).

Gefordert wurde immer wieder eine Statistik, die die Verwaltung der Erwerbslosen ermöglichen sollte. In Ermangelung von Daten zur Erwerbslosigkeit wurde jedoch zunächst versucht, von anderen bekannten Daten Rückschlüsse auf die Erwerbslosen zu ziehen.

So wurden beispielsweise noch bis in die 1880er Jahre von der Zahl der Auswandernden oder der Höhe des Fleischkonsums auf die jeweiligen Erwerbslosenzahlen geschlossen.

Eine etwas zuverlässigere Methode bestand darin, die Erwerbslosen beispielsweise in Arbeitshäusern (3) zu versammeln und abzuzählen. Neben dem unverhältnismäßigen Aufwand war interessanterweise das wichtigste Argument gegen dieses Verfahren, dass es die Gefahr einer Selbstorganisation und Rebellion der Arbeitslosen mit sich bringe. (4) Die staatliche Überwachung des Arbeitsverhaltens der Bevölkerung ist also keineswegs die Selbstverständlichkeit, als die sie heute erscheint, sondern musste gegen Widerstände durchgesetzt werden.

In den meisten Industrieländern wurden dafür gegen Ende des 19. Jahrhunderts "Arbeitsämter" gegründet, deren Aufgabe sowohl darin bestand, Techniken zur Erhebung der Erwerbslosigkeit zu entwickeln, als auch Gesetze zu ihrer Verwaltung vorzubereiten.

Charles Booth entwickelte in den 1880er Jahren eine einflussreiche Methode zur Überwachung und Klassifizierung von Armen und Erwerbslosen.

Dabei ordnete er die Arbeiter_innen und Armen Londons in hierarchisch gegliederte Kategorien mit den Buchstaben A bis H ein. Die Kategorien A und B stellten die "sehr Armen" ohne Einkünfte dar, von denen angeblich der schlimmste Unfrieden ausging, während G und H die sog. "Mittelklasse" darstellten. Für Booth war das Resultat der Untersuchung, dass die Gruppe der "sehr Armen" aus London entfernt werden müsse, da von ihnen sozialer Unfrieden und schlechte Beispiele für die Arbeiter_innen ausgehen würden, während er die Kategorien C und D als sinnvolle Adressaten staatlicher Unterstützungs- und Aktivierungsmaßnahmen identifizierte, weil er davon ausging, dass sie "arbeiten würden, wenn sie könnten".

Mit den Untersuchungen von Booth wurde auch erstmals eine genau definierte "Armutslinie" angegeben. Sie wurde so gezogen, dass über die Hälfte der erfassten Personen über der Armutslinie lag. Dadurch wurde die Gleichsetzung von Armen und Arbeiter_innen aufgehoben. (5) Ein Ziel, das dabei verfolgt wurde, war das Auseinanderdividieren der Arbeiter_innen: Wesentliches Merkmal von Booths Statistik war das Unterteilen der Arbeiter_innen in gefährliche und ungefährliche, arme und wohlhabende, das einem sich ausbildenden Klassenbewusstsein entgegenstand.

Noch wesentlicher wurde die Sozialstatistik aber durch die britischen Eugeniker Francis Gaiton (ein Cousin Charles Darwins) und seinen Kollege Karl Pearson geprägt. Sie verknüpften in ihren Arbeiten (ebenfalls 1890 bis 1900) die Darwinsche Vererbungslehre mit der Theorie der Normalverteilung von Merkmalen der menschlichen Spezies nach Quetelet. Beide waren extrem nationalistisch und sozialdarwinistisch eingestellt und vertraten eine entsprechende Rassenlehre.

Pearson sprach sich öffentlich mit dem Argument der Erhaltung des britischen Erbguts gegen den Einlass von jüdischen Immigrant_innen aus (6) und Galton empörte sich darüber, dass "es eine größtenteils völlig unvernünftige Sentimentalität gegenüber der schrittweisen Auslöschung einer niederen Rasse gibt". (7) Analog zu diesen Rassenphantasien stellten sie die These auf, dass Booths Klassifizierung der Arbeiter_innen im Sinne eines angeborenen Bürger_innen-Wertes (civic worth) oder einer "Begabung" (ability) verstanden werden könne. Dieser trete wie andere biologische Merkmale normal verteilt auf, so dass jedes Individuum seinen Platz auf einer stetigen Skala bekam (8).

Die Klassifizierung der Armen in verschiedene Kategorien wie Arbeiter_innen auf der einen und Arbeitslose auf der anderen Seite, die sich die frühen Formen der Armen-/Erwerbslosenstatistik zur Aufgabe gemacht hat, hatte also keineswegs nur beschreibenden Charakter, sondern handfeste politische Folgen.

Darüber hinaus wirkte sie direkt an der Konstruktion des Phänomens der Erwerbslosigkeit mit: In England identifizierte beispielsweise die Kommission zur Reform des Fürsorgerechtes noch 1907 nicht die Erwerbslosigkeit, sondern die Unterbeschäftigung als das Haupthindernis für die Rationalisierung des Arbeitsmarktes. Offensichtlich hat es eine beträchtliche Anzahl von Personen gegeben, die nur gelegentlich einer Lohnarbeit nachgingen und trotzdem überleben konnten.

Der Ökonom William Beveridge benannte auf diesem Hintergrund die zentrale Aufgabe der Arbeitsvermittlung wie folgt: "Dem, der nur ein Mal pro Woche arbeiten und den Rest der Zeit im Bett verbringen will, wird die Stellenvermittlung diese Lebensweise nach und nach verunmöglichen. Sie wird ihm diesen Arbeitstag, den er haben wollte, wegnehmen und einem anderen geben, der schon vier Tage in der Woche arbeitet, und ihm auf diese Weise ermöglichen, anständig seinen Lebensunterhalt zu verdienen." (9)


Überwachung als Selektion

Durch die staatliche Überwachung des Arbeitsverhaltens und die daraus resultierende Konzentration der Arbeit auf Vollzeitbeschäftigte wurde die klare Trennung zwischen "Arbeitenden" und "Nicht-Arbeitenden" nicht nur konzeptionell, sondern auch in der sozialen Wirklichkeit mit geschafften.

Die Klassifizierungen schafften eine Legitimation für das Aussortieren derjenigen Personen, deren Integration als unmöglich oder unerwünscht angesehen wurde. Sie konnten nun identifiziert und je nach Menschenbild diszipliniert, isoliert oder vernichtet werden. Nach diesen Prinzipien wurde im Nationalsozialismus die Überwachung der Erwerbslosen weiter verschärft. Seit Juli 1933 hatten die Wohlfahrtsämter täglich an die Polizei Meldung über "Asoziale" zu machen. Zur Überwachung der Fürsorgeempfänger_innen wurden im Nationalsozialismus erstmals Sozialfahnder_innen eingesetzt, um die Lebensführung der Erwerbslosen zu kontrollieren. (10)

Es ging dieser Politik der restlosen Erfassung also nicht mehr nur darum, zusammengefasste Massendaten zu erzeugen, sondern gleichzeitig darum, individuelle Informationen zu erlangen, die zur Grundlage der Behandlung der betreffenden Personen wurden.

Auch heute wird zunehmend auf solche Sozialfahnder_innen zurückgegriffen, die bis in die intimste Privatsphäre von Erwerbslosen eindringen, Zahnbürsten zählen und kontrollieren, welche Betten am frühen morgen zerwühlt sind. Treffen sie niemanden an, so befragen sie Nachbar_innen. "Es gibt auch immer mehr anonyme Hinweise", berichtet ein Fahnder. (11) Wenn Betroffene nicht kooperieren und ihre Rechte auf Zeug_innen und einen Termin einfordern, wird ihnen mit ihrer Pflicht zur "aktiven Mitwirkung" und mit Sanktionen gedroht. Immer öfter werden die Fahnder_innen gleich noch von Kamerateams begleitet, die antreten, um angebliche "Sozialschmarotzer" öffentlich zur Schau zu stellen.

Ebenfalls unter die Mitwirkungspflicht fallen Auskünfte für das sog. "Profiling". Angeblich zur passgenauen Integration werden Erwerbslose ausgefragt. Da gibt es unter anderem die Kategorien "Ressourcendaten" (alles über soziale Netze von Familienkonstellationen über Freundschaften bis zu Nachbarschaftskontakten, einschließlich einer Bewertung der jeweiligen Beziehungsstärke), "Persönlichkeitsdaten" (Selbstbild, Frustrationstoleranz, Leistungsbereitschaft), und "Gesundheitsdaten" (Krankheiten, Regelmäßigkeit von Arztbesuchen). Aber auch Fragen, deren Bezug zur Stellensuche sich wohl hauptsächlich den mit der Auswertung betrauten Psycholog_innen erschließt, wie die Fragen, ob "das Leben in der DDR gar nicht so schlecht war", ob "gern Filme angeschaut werden, in denen viel Gewalt vorkommt" oder ob man es schön finde, wenn "eine Liebe ein ganzes Leben lang hält". (12)

Unter Bedingungen des Internets kann die Überwachung freilich noch weiter getrieben werden: Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, in der auch die Bundesagentur für Arbeit einen Sitz hat, präsentierte kürzlich einen Gesetzesvorschlag, der die Online-Überwachung von Erwerbslosen legalisieren soll. (13)

Schon seit Jahren werden die Betreiber_innen des Erwerbslosenforums immer wieder dazu aufgefordert, IP-Adressen von Nutzer_innen herauszugeben, die die Jobcenter kritisiert hatten. Letztere erstatteten beispielsweise Anzeige gegen die den Autor_in von Beiträgen, die mit folgendem Adorno-Zitat unterschrieben waren: "Ich fürchte mich nicht vor der Rückkehr der Faschisten in der Maske der Faschisten, sondern vor der Rückkehr der Faschisten in der Maske der Demokraten." Die Ermittlungsbehörden klassifizierten diese und ähnliche Äußerungen als Volksverhetzung. (14)

Dass aus der CDU Forderungen nach elektronischen Fußfesseln für "Langzeitarbeitslose" laut wurden, ist die logische Fortführung des Wunschs nach lückenloser Überwachung derselben. (15)

Die Vermessung von Erwerbslosen sollte im Zusammenhang mit der allgemeinen Durchsetzung der Lohnarbeit als ausschließlichem Modell der Lebenssicherung verstanden werden. Überwachung bildet den Kern der Organisation der Arbeitsmärkte.

Durch sie wird die Wertigkeit der Vermessenen entlang den Kriterien der Verwertbarkeit immer neu justiert. Diese exakte Buchführung ist die Voraussetzung für das profitable und flexible Einsetzen von Humankapital. In den Problembereichen, wie im Falle der Erwerbslosigkeit, kommt diese Buchführung verschärft zum Einsatz. Das Ziel der Zählung und Überwachung ist also keineswegs eine bloße Repräsentation dessen, was ist. Stattdessen geht es um die Herstellung und permanente Rationalisierung des Arbeitsmarktes.

Dieser muss durch verschiedene staatliche Zwangsmaßnahmen erst geschaffen und aufrecht erhalten werden. Die verschiedenen Methoden von der Eugenik bis zum Profiling haben vor allem anderen zum Ziel, zwischen verwertbaren und nicht verwertbaren Menschen zu unterscheiden.

Es kann insgesamt also nicht die Rede davon sein, dass "wir" alle gleichermaßen überwacht würden. Überwachung kann stattdessen wesentlich als Selektion verstanden werden.

An diesem Punkt könnte eine emanzipatorische Kritik von Überwachungspraxen ansetzen.


Anmerkungen:

(1) In England wurde zur gleichen Zeit, als die poor laws allen Bürger_innen eine Existenzsicherung garantieren sollten, das Recht abgeschafft, Landwirtschaft auf Gemeindeland zu betreiben.

(2) Zimmermann 2006: S. 60

(3) Arbeitshäuser waren Institutionen, in denen Arme/Erwerbslose eingesperrt und zum Zweck der "Umerziehung" zur Arbeit gezwungen wurden.

(4) Vgl. Niess (1979): Geschichte der Arbeitslosigkeit. Ökonomische Ursachen und politische Kämpfe. Ein Kapitel deutscher Sozialgeschichte. Köln: Pahl-Rugenstein. S. 71 ff.

(5) Vgl. Desrosiéres (2005): Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise. Berlin: Springer. S. 286 f

(6) Vgl. Pearson/Mould (1925): The Problem of Alien Immigration into Great Britain: Illustrated by an Examination of Russian an Polish Jewish Children. In: Annals of Eugenics. 1, 1925/1926

(7) Galton 1907: S. 17

(8) Vgl. Desrosiéres 2005: S. 288

(9) Zit. n. Castel (2008): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. S. 287

(10) Vgl. Brunner (1997): Arbeitslosigkeit im NS-Staat. Das Beispiel München. Pfaffenweiler: Centaurus S. 257

(11) Zit. n. Nowak, Peter (2009): Was Jobcenter mit Kontrolle und Überwachung zu tun haben. In: Leipziger Kamera (Hg.): Kontrollverluste. Münster: S. 149

(12) Vgl. Wompel, Mag' (2009): Big Boss is watching you. In: Leipziger Kamera (Hg.): Kontrollverluste. Münster: S. 155 die letzteren, von der ARGE Hamburg gestellten Fragen, wurden nach Protesten aus dem Katalog gestrichen.

(13) taz vom 15.11.2013: S. 6 (14)
http://de.indymedia.org/2008/03/211722.shtml

(15) 
www.spiegel.de/politik/deutschland/fussfesseln-fuer-arbeitslose-verrueckte-idee-oder-verunglueckte-formulierunga-353819.html

Teil 2 erscheint voraussichtlich im Januar 2014 in der GWR Nr. 385

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Quelle:
graswurzelrevolution, 42. Jahrgang, Nr. 384, Dezember 2013, S. 9
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2013