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GRASWURZELREVOLUTION/1513: 500 x 500 - Kampagne für das Café Klatsch


graswurzelrevolution 403, November 2015
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

500 x 500
31 Jahre Café Klatsch Kollektiv sind nicht genug

Von Ralf Dreis


Der Fortbestand eines der ältesten Kollektivbetriebe der westdeutschen Alternativbewegung der 1980er Jahre, das seit 1984 in Selbstverwaltung betriebene Café Klatsch in Wiesbaden, steht auf dem Spiel. Mit dem Start der Kampagne 500 x 500 will die Initiative LINKSROOM e.V. dazu beitragen diesen für die undogmatischen Linken, anarchistischen und autonomen Bewegungen im Rhein-Main Gebiet wichtigen Raum zu erhalten.


Eine Gruppe Wiesbadener Aktivist_innen trat Anfang der 80er Jahre an, dem bürgerlichen Establishment der Spießermetropole etwas Dauerhaftes entgegenzusetzen. Politisiert bis in die Haarspitzen und engagiert in den verschiedensten Bewegungen waren sie alle. Konfrontiert mit den Prügelorgien der Polizei anlässlich der Hüttendorfräumung an der Startbahn 18 West am Frankfurter Flughafen 1981 oder aktiv bei den Vorbereitungen der Widerstandsaktionen gegen die in Wiesbaden stattfindende, internationale Militär-Messe MEDE, auf der die Créme de la Créme der Rüstungsindustrie den Potentaten dieser Welt die neusten Errungenschaften der Kriegsführung verkaufte. Aus den Sonntagsspaziergängen und den Auseinandersetzungen an der Startbahn-Mauer entstand eine festere Gruppe, die konkrete Pläne zur Schaffung eines eigenen Raumes schmiedete: eines Raumes für die eigene Kultur, für die allgegenwärtigen politischen Diskussionen, für eigene Veranstaltungen, eine eigene Informationspolitik, für selbstbestimmtes Arbeiten und ein selbstbestimmtes kollektives Leben. Für all das, was in Wiesbaden nirgends sonst einen Platz hatte.

1984 gelang es den Aktivist_innen, den düsteren Saal der Bierfestung Barbarossa im Wiesbadener Rheingau-Viertel zu mieten. Unter Mithilfe von Freund_innen und Genoss_innen wurden die gut 150 qm großen und hohen Gasträume aus der Gründerzeit renoviert und eine Kneipe mit gediegenem proletarischen Ambiente und explizit linkem Flair geschaffen. Unter anderem beinhaltete das Konzept ein rauchfreies Spielzimmer für Kinder - ein Novum in der damaligen Wiesbadener Gastro-Szene.

Ab dem Tag der Eröffnung und in den folgenden Wochen und Monaten konnte sich das Klatsch-Kollektiv vor Gästen kaum retten. Der Ansturm war so gigantisch und kaum zu bewältigen, dass die anfänglich elf Kollektivist_innen die Gruppe schnell auf 33 Leute erweiterten. Die Idee eines politischen Szenetreffs im bis dahin bürgerlich-reaktionär geprägten Wiesbaden hatte eingeschlagen.

In den folgenden Jahren und inzwischen mehr als drei Jahrzehnten entwickelte sich das Klatsch zu einem Ort von dem viele Impulse ausgingen und ausgehen.

Politische Diskussionen, Informationsveranstaltungen, Ausstellungen, Musik, Theater, Zirkus, Pantomime und abseitige Kultur jenseits des bürgerlichen Mainstreams werden ergänzt durch ein breites Angebot an anarchistischen, autonomen und linken Zeitungen, Periodika, Flugblättern und der aktuellen Tagespresse. Konkrete Soli-Aktionen für den Bergarbeiterstreik 1984/85 in Großbritannien, die von harten Diskussionen begleitete Spendenaktion Waffen für El Salvador 1985/86, die Organisation des Volkszählungsboykotts 1987 haben im Klatsch einen Platz gefunden.

Als die Häfen in Nicaragua 1984 durch die USA vermint wurden, flogen imperialistische Limonaden aus dem Angebot und haben bis heute nicht zurückgefunden. Klatsch-Kollektivist_innen beteiligten sich an der Durchführung der Libertären Tage 1986 und 1993, engagierten sich in der Anti-Atomkraft-Bewegung, initiierten Hausbesetzungskampagnen oder sind in der lokalen Antifa aktiv. Neuere Projekte wie das Kultur- und Tagungshaus Rauenthal oder das Frauengesundheitszentrum Sirona gingen aus dem Klatsch hervor oder wurden maßgeblich unterstützt.

Mobilisierungen gegen rassistische Angriffe auf Geflüchtete, Treffpunkt zur gemeinsamen Fahrt auf Demos und Konzerte oder das kühle Bier nach der gelungenen direkten Aktion gehören ebenso zum Konzept wie gutes Essen aus möglichst biologisch angebauten Lebensmitteln zu erschwinglichen Preisen anzubieten. War das Klatsch bis Anfang der 1990er Jahre ein sehr autonomer Szenetreff, so hat es inzwischen eine breite Stammkundschaft und ist bis heute eine soziale Institution ohne Konsumzwang geblieben - für Menschen im Viertel genauso wie für Leute, die sich - damals wie heute - mit der bürgerlichen Gesellschaft und dem deutschen Normalzustand nicht identifizieren können.

Seit nunmehr 31 Jahren wird das Klatsch kollektiv betrieben. In wöchentlichen Plena wird sich über das Tagesgeschäft, den Café-, Restaurant- und Barbetrieb, die Unterstützung anderer Projekte, die Durchführung von Veranstaltungen und nicht zuletzt über solidarische, nicht-ausbeuterische Arbeitsbedingungen abgestimmt.

Trotz der im Laufe der Jahre vielen unterschiedlichen Menschen die ein- und ausgestiegen sind, trotz schwieriger Phasen und Auseinandersetzungen, wie sie in den letzten 30 Jahren in der linken und linksradikalen Bewegung stattgefunden haben, hat das Klatsch Kurs gehalten.

Das Kollektiv versteht sich heute als eine für neue Impulse offene und queere Gruppe, die weiterhin für eine freie Form des miteinander Lebens und Arbeitens kämpft, einen Betrieb nachhaltig führt und das Entstehen von Hierarchien verhindern will. Entscheidungen werden mit Konsensbeschluss getroffen, alle Arbeiten nach Einheitslohn bezahlt.

Kein Mensch, der ins Kollektiv einsteigt, muss sich einkaufen, niemand zieht Gelder ab, wenn er oder sie aussteigt. Das Klatsch positioniert sich damit explizit jenseits des allgegenwärtig gewordenen Zwangs der Selbstoptimierung und Selbstvermarktung. Es ermöglicht auch Menschen ohne Kapital, mit ihren unterschiedlichen Biographien, ihren Ideen, ihren Talenten und ihrer Tatkraft Teil zu haben.

Die Kampagne 500 x 500 - von der Bewegung für die Bewegung

Der Besitzer der Immobilie, in der das Café Klatsch sein Zuhause hat, hat nun das Objekt auf dem Immobilienmarkt zum Verkauf angeboten. Das Weiterbestehen des Betriebes ist derzeit in der Schwebe.

Das Klatsch liegt im mittlerweile in weiten Teilen gentrifizierten Rheingau-Viertel. Was nach einem möglichen Verkauf mit dem Café passiert ist nicht vorhersehbar und trotz aller angedachten Aktionen auch von den Plänen etwaiger neuer Besitzer abhängig. Aus diesem Grund sehen die Initiator_innen von LINKSROOM e. V. und die in ihm vereinten Sympathisant_innen, Unterstützer_innen und Kollektivist_innen im Ankauf der Räumlichkeiten die Chance, das Café Klatsch als Raum emanzipatorischer Bewegungen zu sichern. LINKSROOM e. V. will das Objekt auf Dauer dem Immobilienmarkt entziehen, um dem Kollektiv die Ausgangslage zu erstreiten, noch autonomer agieren zu können. LINKSROOM e. V. wird nichts mit dem aktuellen Tagesgeschäft zu tun haben, sondern tritt an einen wichtigen Freiraum in Wiesbaden zu erhalten, neue zu schaffen und den Kollektiv-Gedanken zu verbreiten.

Da der Kaufpreis der Immobilie von 250.000 Euro nicht alleine zu stemmen ist, ruft LINKSROOM e. V. mit 500 x 500 zu einer bundesweiten Spenden- bzw. Unterstützungsaktion auf. Gesucht werden 500 Menschen, die jeweils 500,- Euro spenden oder leihen. (Oder 250 x 1.000,- Euro). Kollektive, politische Gruppen oder einzelne Genoss_innen, die in den letzten 30 Jahren im Klatsch einen schönen Abend erlebt, an guten Veranstaltungen teilgenommen, oder dort die Liebe ihres Lebens getroffen haben und den Erhalt des Cafés unterstützen wollen, können das mit einer Spende oder einem Darlehen tun.


Ralf Dreis (von 1986 - 1996 Mitglied des Klatsch-Kollektivs)

Weitere Informationen:
http://linksroom.de

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Quelle:
graswurzelrevolution, 44. Jahrgang, Nr. 403, November 2015, S. 15
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2015

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