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GRASWURZELREVOLUTION/1556: Prima Klima - Gerechte Übergänge


graswurzelrevolution Nr. 409, Mai 2016
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Prima Klima
Gerechte Übergänge

von Hannes Lindenberg und Dorothee Häussermann


Die Braunkohle im Lausitzer Revier gleicht einer "industriellen Monokultur", so eine Sprecherin des Bündnisses Ende Gelände. Zwar ist die Universität Cottbus-Senftenberg größter Arbeitgeber der Region, doch mit knapp 10.000 direkten Arbeitsplätzen hat auch die Braunkohleindustrie eine enorme wirtschaftliche Bedeutung. Der von Ende Gelände geforderte "Kohleausstieg jetzt!" impliziert somit nicht nur das Ende der deutschen Kohleindustrie, sondern auch eine massive Veränderung der Lausitzer Sozialstruktur.


Tausende von ArbeiterInnen fürchten um ihre Arbeitsplätze und die IG Bergbau, Chemie, Energie setzt sich mit aller Kraft für Braunkohleförderung bis Mitte des Jahrhunderts ein.

Wie kann eine Bewegung, in der sich viele AktivistInnen ebenso sehr dem linken wie dem ökologischen Spektrum zugehörig fühlen, guten Gewissens eine derartige Transformation fordern?

Werden hier hehre globale Ziele verfolgt, für deren Erreichen aber lokale Interessen mit Füßen getreten?

Die deutsche Klimabewegung hat sich das Wort "Klimagerechtigkeit" groß auf die Fahnen geschrieben, das schon im Namen das Ideal trägt, dass ökologischer Wandel unter gerechten Umständen stattfinden soll. Es geht nicht nur um reinen Klimaschutz, sondern um dessen sozial verträgliche Durchsetzung.

Dies bedeutet auf der einen Seite für die VertreterInnen der Braunkohleindustrie und ihre Abhängigen maximale Förderlaufzeiten und damit einhergehend das bewusste Vorantreiben des Klimawandels durch immense CO2-Emissionen. Dies führt jedoch nicht nur dazu, dass weiterhin Dörfer umgesiedelt werden und Lausitzer Landwirte ihre Flächen durch Grundwassersenkungen und Abbaggern verlieren, sondern auch, dass weltweit viele Millionen Menschen die Vernichtung ihrer Lebensgrundlagen durch Dürren, steigende Meeresspiegel oder Extremwetterereignisse in Kauf nehmen müssen.

Ein sogenannter "sozial gerechter Strukturwandel", der nur einen allmählichen Kohleausstieg vorsieht, hat aber leider wenig soziale Konsequenzen: Umsiedlung und gesundheitliche Schäden in der Region, Armut und Hunger vor allem im globalen Süden. Diametrale Forderungen, die BraunkohlebefürworterInnen einerseits und die Klimabewegung andererseits, berufen sich also beide auf den Begriff der Gerechtigkeit und es entsteht ein soziales Dilemma.

Dass diejenigen bei dem Übergang in ein neues Zeitalter der Energieversorgung vorangehen sollten, die einerseits besonders viel emittiert haben und andererseits das technische Know-How für den Wandel besitzen, erscheint nur gerecht.

Unter Annahme dieser Thesen liegt es auf der Hand, dass Deutschland eine Verpflichtung zu klimagerechter Politik hat. Das Outsourcen sozialer Probleme in Länder, die vom Klimawandel besonders betroffen sind, zum Wohle einer veralteten und (leider zu) langsam, aber stetig schrumpfenden Industrie entbehrt hingegen jeglicher moralischer Grundlage.

Momentan verläuft die Argumentation pro Braunkohle vor allem entlang des Strangs, dass die lokal größte Lobby das Sagen hat. Durch die globale Dimension der Braunkohleverstromung verliert dieses Argument jedoch stark an Wert. Ein einfaches "Weiter so!" kann es nicht geben und die Frage, ob der Status Quo geändert werden muss, stellt sich nicht mehr. Vielmehr lautet die Frage, wie ein Wandel in der Lausitz gestaltet werden kann und - darauf wird im Folgenden eingegangen - von wem er gestaltet werden sollte. Direkt damit verbunden ist auch die Frage nach der Verantwortung für die derzeitige Situation.

Das soziale Dilemma lässt sich nicht mit einem patentierten Ansatz lösen. Uns ist weltweit kein Beispiel bekannt, bei dem ein großer Industriezweig, vertreten durch mächtige Konzerne, deren ArbeiterInnen vollständig von ihnen abhängig sind, die ersten Schritte zu einem Strukturwandel antrat. Und während Vattenfall im Beirat der frisch gegründeten "Innovationsregion Lausitz GmbH" sitzt, die sich der ökonomischen Ausgestaltung der postfossilen Ära widmet, verkauft der schwedische Staatskonzern alle Liegenschaften in der Lausitz und damit auch jegliche Verantwortung für einen wirklich von allen AkteurInnen getragenen Transformationsprozess.

Eine derartige Transformation anzustoßen, ist das Vorhaben von Bündnissen wie Ende Gelände. Sie auszugestalten, ist teilweise auch ihre Aufgabe, ebenso aber der Parteien, der Gewerkschaften und ArbeiterInnen und schließlich auch - in der Theorie - des großen Gewinners der Lausitzer Braunkohlevorkommen: Vattenfall (dass die einstige Staatsführung der DDR nur noch unzureichend für ihre Verwüstungen belangt werden kann, liegt auf der Hand).

Von der Klimabewegung wird neben dem Begriff der "gerechten Übergänge" immer wieder die "sozial-ökologische Transformation" postuliert. Dahinter steckt die Absicht, den notwendigen Übergang zu einer ökologisch verträglicheren Lebensweise sozial abzusichern, sodass nicht nur verbrannte Erde zurückgelassen wird. Es geht nicht nur ums Klima, sondern auch um die Gesellschaft, die in diesem Klima lebt.

Der dogmatische Kampf des IGBCE-Vorsitzenden Vassilliadis um jedes Jahrzehnt Kohleabbau erscheint unter diesem Aspekt ebenso wenig weiterführend, wie Beteuerungen der Politik, sich für den Kohlebergbau und die Kohleverstromung einzusetzen. Es ist verständlich, ja sogar richtig, dass diese Organisationen und Parteien "ihre" Leute vertreten.

Es ist aber schon heute absehbar, dass die Kohle immer unpopulärer und eher früh als spät im Boden gelassen wird. Doch selbst wenn die deutschen Reviere bis auf das letzte Bröckchen Kohle ausgekohlt werden sollten, wäre die derzeitige Rhetorik politischer Entscheidungsträger fatal: das Beispiel des Ruhrgebiets zeigt, dass das Ende einer Industrie, die eine gesamte Region in ihre Abhängigkeit stürzt, vernünftig vorbereitet werden muss.

Der Klimaschutz gebietet sofortiges Handeln und Minimierung aller CO2-Emissionen aus fossilen Energieträgern. Das im Dezember 2015 in Paris festgehaltene 2°C-Ziel ist ohne eine massive Drosselung der CO2-Emissionen unmöglich zu erreichen. Das ambitioniertere und für Hunderte von Millionen Menschen weltweit eminent wichtige 1,5°C-Ziel würde für die Bundesrepublik bedeuten, bis 2035 sämtliche Emissionen auf Null zu setzen.

Da dies in anderen Sektoren (Beispiel Verkehr) deutlich schwieriger umsetzbar sein wird, muss der Braunkohleausstieg sofort abgeschlossen sein!

Daran dürften auch lokal viele Menschen ein Interesse haben; nicht nur UmweltschützerInnen und von Umsiedlung Bedrohte; nein, spätestens die Generation der Kinder heutiger Beschäftigter in der Braunkohle wird von ihren Eltern eine bis dahin völlig umgegrabene, nicht mehr intakte Umwelt und Industriestruktur überreicht bekommen und sich gleichzeitig mit den katastrophalen Folgen des globalen Klimawandels herumschlagen müssen. Wer heute geboren wird, ist bei Befolgung der IGBCE-Forderungen erst 35 Jahre alt, wenn alle Tagebaue ausgekohlt sind. Dieser Generation bleibt dann die Aufgabe überlassen, mehr als 150 Jahre Umweltzerstörung aufzuräumen; in einer Region, die sich im gleichen Zeitraum stets auf diese eine Industrie verlassen hat - triste Aussichten, wenn nicht sofort gegengesteuert wird.

Das Ende der Braunkohle ist schon heute in Sicht. Dass dieses aus einer Klima- und Generationengerechtigkeitsperspektive unbedingt auch sofort eingeläutet werden muss, dafür steht das Bündnis Ende Gelände. Dass dieses Ende aber auch der Aufbruch in eine postfossile Zukunft ist; dass nicht noch mehr Flächen von der Industrie zerstört zurückgelassen und Menschen umgesiedelt werden; dass auch ohne die Braunkohleindustrie eine funktionierende soziale Infrastruktur entsteht; dass auch zukünftige Generationen eine Perspektive in der Lausitz haben; dass die Transformation aktiv auch von jenen ausgestaltet wird, die lokal von ihr betroffen sind; dafür sollten Parteien, Gewerkschaften und ArbeiterInnen schon heute eintreten. Noch ist es leichter, den Status Quo zu verteidigen, doch ein endlicher Rohstoff wie die Braunkohle erfordert früher oder später große Strukturbrüche.

Je länger wir den Strukturwandel hinauszögern, desto abrupter wird er werden. Es geht darum, ihn gemeinsam zu gestalten und solidarische Lösungen für Betroffene zu finden. Das könnte ein ehrlicher, fast schon visionärer Einsatz der Gewerkschaften für "ihre" Leute sein.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 45. Jahrgang, Nr. 409, Mai 2016, S. 5
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2016

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