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GRASWURZELREVOLUTION/1622: Für den organisierten Low-Tech-Anarchismus



graswurzelrevolution Nr. 415, Januar 2017
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

es wird ein lächeln sein

Für den organisierten Low-Tech-Anarchismus

Alpine Anarchist Productions antwortet Pierre Michel

In der GWR 411 setzte sich Pierre Michel in seinem Artikel "Für den organisierten High-Tech-Anarchismus"[1] mit einem von uns im Sommer 2016 veröffentlichten Thesenpapier ("Revolution ist mehr als ein Wort: 23 Thesen zum Anarchismus") auseinander. Diese Auseinandersetzung hat uns gefreut, ebenso wie die Einladung der GWR-Redaktion, auf sie zu antworten.


Bei Antwortschreiben dieser Art läuft man leicht Gefahr, sich in Details zu verheddern, denn die Versuchung ist groß, sich an jenen Stellen festzukrallen, an denen man sich missverstanden fühlte. Wir wollen dieser Versuchung widerstehen. Zu schnell wird es sonst für die Leser*innen mühselig.

Wer sich für die Details interessiert, kann jederzeit unser Thesenpapier und Pierres Artikel lesen und sich eine Meinung bilden. Wir konzentrieren uns auf jene zwei Punkte, die uns in Pierres Kritik zentral erscheinen: 1. Die Organisationsfrage. 2. Die Technikfrage.


Zur Organisationsfrage

Pierre meint, unsere Thesen klingen so, als gäbe es keine anarchistischen Organisationen. Wenn dem tatsächlich so ist, haben wir etwas versemmelt. Natürlich gibt es anarchistische Organisationen. Pierre meint weiter, dass "eine Bestandsaufnahme zu den Stärken und Schwächen der bestehenden anarchistischen Föderationen interessanter gewesen wäre als allgemeine Postulate".

Gut, hier lässt sich natürlich flapsig antworten, dass es uns leid tut, nicht den Text geschrieben zu haben, den Pierre gerne gelesen hätte, aber unsere Absichten waren schlicht andere und eine Bestandsaufnahme der Stärken und Schwächen bestehender anarchistischer Föderationen gehörte nicht dazu. Gleichzeitig ist es angesichts unserer tatsächlich sehr allgemein gehaltenen Thesen verständlich, wenn diese Frage aufgeworfen wird und wir wollen versuchen, sie hier wenigstens ansatzweise zu beantworten. Ohne Allgemeinplätze werden wir freilich auch jetzt nicht auskommen. Angesichts des eingeschränkten Platzes, der uns zur Verfügung steht, hoffen wir jedoch bei Pierre und anderen auf Nachsicht.

Lasst uns zunächst festhalten, dass uns trotz der internationalen Dimension unseres Projekts keine einzige anarchistische Organisation bekannt ist, die ernsthaft beanspruchen könnte, gegenwärtig ein gewichtiger Faktor in politischen Alltagskämpfen oder breiten sozialen Bewegungen zu sein. Anarchistische Organisationen sind klein, marginalisiert und wenig einflussreich. (Zur Erinnerung: Wir sprechen von anarchistischen Organisationen, nicht von Bewegungen, deren Ideale oder Aktionsformen möglicherweise anarchistischen Charakter haben.) Die Gründe dafür haben wir versucht, in unserem Thesenpapier zu formulieren: es fehlen Visionen, Strategien und der Kontakt zur gesellschaftlichen Basis. Und, ja, organisatorisches Geschick.

Hier kritisiert Pierre uns dafür, dass wir individuelle Voraussetzungen wie Verantwortung und Zuverlässigkeit ins Spiel bringen. Er meint, dass wir damit unserem eigenen Postulat widersprächen, dem zufolge "Moral nicht das ausschlaggebende Kriterium für revolutionäre Politik sein dürfe". Dem fügt er hinzu, dass "ein solches individualistisch-moralistisches Konzept alle Vorteile der Organisierung zugleich wieder zunichte" mache.

Mit Moral hat unser Hinweis auf die Notwendigkeit gewisser individueller Voraussetzungen aber nichts zu tun. Wir behaupten nur, dass eine Organisation, deren Mitglieder diese Voraussetzungen nicht mit sich bringen, im besten Fall ineffektiv und im schlimmsten Fall repressiv ist.

Pierre schreibt: "Das Wesen der Organisation besteht gerade darin, dass sie Regeln aufstellt, die für alle Mitglieder gültig und transparent sind, so dass Entscheidungen gerade nicht von der moralischen Integrität der einzelnen Mitglieder abhängen. Genau darin besteht auch der Vorteil der Organisation: Ihre Regeln bleiben bestehen, auch wenn die Werte der einzelnen Mitglieder ins Wanken geraten, ihre Strukturen überleben, auch wenn die einzelnen Mitglieder ausscheiden."

Unser Punkt ist: diese Regeln bleiben Worthülsen, wenn die individuellen Mitglieder es sich nicht zur Aufgabe machen, sie einzuhalten. In praktisch allen anarchistischen Organisationen, die wir kennen, gibt es diesbezüglich enorme Mängel.

Die Mitglieder halten ihre Versprechen nicht ein und erledigen ihre Aufgaben nicht. Die schönen Regeln werden dadurch wertlos. Nicht zuletzt deshalb, weil - zum Glück! - anarchistische Organisationen keine drastischen Maßregelungen kennen, die fehlende Eigenmotivation mit Zwang kompensieren könnten.

Um das Prinzip der individuellen Verantwortung kommen wir nicht herum, wenn es um funktionierende libertäre Organisationen geht. Anarchistisches Handeln beginnt mit diesem. Die Regeln der Organisation schaffen nur den Rahmen, in dem es sich so effektiv wie möglich kollektiv ausdrücken kann. Die Regeln kommen sozusagen nachher. Pierre stellt diesen Sachverhalt, wie wir meinen, auf den Kopf.

Ähnliches gilt für seine Kritik an unseren Bemerkungen zu den unweigerlichen Führungsrollen, die alle soziale Gruppen, auch anarchistische, prägen. Pierre meint, dass sich diese vermeiden lassen, wenn "klare Regeln aufgestellt werden ..., die das Herausbilden einer solchen Führerschaft unterbinden".

Die "wichtigsten Elemente" hierfür seien "klare, gebundene Mandate und das Rotationsprinzip". Mit Verlaub: Wir haben unseren eigenen Erfahrungen gemäß noch in jeder Organisation, die auf klaren, gebundenen Mandaten und dem Rotationsprinzip beruht, ebenso wie in jeder Gruppe, die auf horizontale Organisation und das Konsensprinzip setzt, Führungspersönlichkeiten ausmachen können. Für uns liegt die Gefahr darin, dies zu verleugnen. Lieber wollen wir der Tatsache Rechnung tragen, was Pierre zu empören scheint. Aber nur so lassen sich für uns, wie wir es formulierten, "die autoritären und manipulativen Aspekte eines fehlenden Machtgleichgewichts eindämmen". Daran halten wir fest.

Doch zurück zu den Stärken und Schwächen bestehender anarchistischer Föderationen. Es ist naheliegend, sich exemplarisch die Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen anzusehen. Gleichzeitig ist es auch problematisch, da niemand von uns dieser Föderation angehört und wir noch nicht einmal im deutschsprachigen Raum leben, auch wenn wir mit ihm vertraut sind und ihn oft genug besuchen.

Das birgt die Gefahr in sich, dass unsere Einschätzung als anmaßend empfunden wird. Wir hoffen jedoch, diesem Problem entgehen zu können, indem wir betonen, dass es sich hier tatsächlich um nichts mehr als eine Einschätzung handelt und es in Wirklichkeit ganz anders sein mag.

Unserem Eindruck nach verhält es sich wie folgt: Die Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen hat eine Infrastruktur aufgebaut, die großes Potenzial hat. Mit rund 20 Ortsgruppen, mehreren assoziierten Projekten, einer monatlich erscheinenden Zeitschrift ("Gai Dào"), einem kontinuierlichen Diskussionsprozess, regelmäßigen Treffen und der Mitgliedschaft in einer internationalen Föderation (IAF) lässt sich viel anfangen. Das ist für uns eine offensichtliche Stärke.

Die Herausforderung besteht unserer Ansicht nach darin, diese Form mit Inhalten zu füllen, die sich auch gesellschaftlich vermitteln lassen. Dazu bedarf es konkreter Ziele, koordinierter Kampagnen, einer Präsenz im öffentlichen Raum und einer aktiven Bündnispolitik.

Hier gibt es unseres Erachtens noch einige Schwächen. Ähnlich sieht es für uns in den meisten uns bekannten anarchistischen Föderationen aus. Die grundlegenden Probleme sind sehr ähnlich.


Die Technikfrage

Von unserer These, dass "Technologiekritik ... Teil einer jeden revolutionären Bewegung" sein müsse, war Pierre gar nicht angetan. Allerdings wird auch er uns zugestehen müssen, dass wir nirgends von einer "Ablehnung der Technik" sprachen (Kritik und Ablehnung sind nicht dasselbe), und auch nicht davon, dass "jede Technologie den Zweck der Unterjochung der Menschheit" verfolge.

Gleichzeitig hat Pierre recht, wenn er die Gleichsetzung zwischen Technikkritik und einem Leben in überschaubaren Gemeinschaften infrage stellt.

Diese hatten wir tatsächlich in einer etwas zu sorglosen Formulierung suggeriert. Ein notwendiger Zusammenhang besteht hier nicht. Auch überschaubare Gemeinschaften können sich Technologien zunutze machen und sie zur Vernetzung mit anderen Gemeinschaften verwenden. Dagegen haben wir nichts. Primitivismus reizt uns ebenso wenig wie Pierre.

Aber: Es ist naiv, so zu tun, als wäre die Technik ein Hilfsmittel, das in guter wie in schlechter Form angewandt werden kann, abhängig einzig von unseren guten oder schlechten Intentionen. Die Technik bestimmt heute das Dasein in einer Weise, die derartige Entscheidungen gar nicht erst zulässt. Allen sei ans Herz gelegt, einen Monat auf Computer und Smartphone zu verzichten und zu sehen, wie sich das auf ihr soziales, politisches und berufliches Leben auswirkt. Außerdem: die zunehmend zentrale Rolle der Technik in allen Lebensbereichen verschärft gesellschaftliche Gegensätze und Ungerechtigkeiten. Wir meinen, dass es vor allem drei Fragen sind, auf die jene, die von der Möglichkeit einer befreienden Technik überzeugt sind, antworten müssen:

1. Für viele Menschen werden technologische Neuerungen immer undurchsichtig bleiben. Wie lässt sich dies mit anarchistischen Prinzipien von Selbstbestimmung und Selbstverwaltung vereinbaren?

2. Die Tatsache, dass die globale Machtverteilung aufgrund unterschiedlichen Zugangs zu den Wundern der Technologie immer weiter verschärft wird, lässt sich nicht infrage stellen. Dagegen lässt sich natürlich argumentieren, dass Anarchist*innen im Kampf für globale Gerechtigkeit auch für einen gleichberechtigten Zugang zu diesen technologischen Wundern kämpfen werden. Es mag ein idealistisches Argument sein, aber es ist nicht falsch. Doch wie lässt sich selbst in einer egalitären Welt, die sich den Errungenschaften der Technik verschreibt, vermeiden, dass diejenigen, die an deren Entwicklung Interesse und Spaß haben, denen überlegen sein werden, für die das nicht gilt? Plakativ gefragt: Wer stoppt die technokratische Elite?

3. Wie lässt sich die für eine globale Ausdehnung des technischen Apparates notwendige Hardware produzieren, ohne ökologischen Raubbau zu betreiben und unmenschliche Arbeitsverhältnisse zu reproduzieren? Mit anderen Worten: Wer setzt für die Rohstoffe sein Leben aufs Spiel und wessen ökologische Grundlagen werden zerstört?

Dass technische Innovationen für die Erleichterung der Arbeit, den medizinischen Fortschritt und einen angenehmen Lebensstil hilfreich sein können, zieht niemand in Zweifel, und solche Innovationen sollen auch eine befreite Gesellschaft bereichern.

Die Technik als eine unser gesamtes Leben vereinnahmende Maschinerie hat sich jedoch zweifelsohne zu einem Herrschaftsinstrument entwickelt, dessen Kontrolle sich uns immer mehr entzieht. Es ist in unseren Augen unabdingbar, dass Anarchist*innen dies kritisch reflektieren.


Schluss

Gemeinsam mit Pierre Michel sind wir davon überzeugt, "in großen Kategorien" denken zu müssen. Anders kommen wir nicht weiter.

Wir sehen es allerdings nicht als "krassen Kontrast", selbstbewusst aufzutreten und gleichzeitig die Grenzen anarchistischer Politik anzuerkennen. Selbstbewusstsein ist nicht Größenwahn. Wir brauchen solidarische Debatten, eine realistische Einschätzung unserer Möglichkeiten, und den Willen, diese zu verwirklichen.

AAP


AAP (Alpine Anarchist Productions) ist ein anarchistisches Kollektiv, das sich im Jahr 2000 gründete und lange auf die Produktion von Broschüren konzentrierte. Seit 2007 publiziert AAP vor allem auf der Website www.alpineanarchist.org. Dort erschien im Sommer 2016 auch der Text "Revolution ist mehr als ein Wort: 23 Thesen zum Anarchismus", zunächst auf Englisch, dann in deutscher Übersetzung. Die deutsche Version ist als Broschüre von Black Mosquito erhältlich.


Anmerkung:

[1] http://www.graswurzel.net/411/aap.php

Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Im Schattenblick finden Sie den Artikel unter:
www.schattenblick.de → Infopool → Medien → Alternativ Presse
GRASWURZELREVOLUTION/1586: Für den organisierten High-Tech-Anarchismus

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Quelle:
graswurzelrevolution, 46. Jahrgang, Nr. 415, Januar 2017, S. 9
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Telefon: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Februar 2017

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