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GRASWURZELREVOLUTION/1744: Stichworte zum Postanarchismus - Soziologie


graswurzelrevolution Nr. 427, März 2018
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Soziologie
Grundlagen des Ungehorsams

von Oskar Lubin



Stichworte zum Postanarchismus 2

Anarchie und Soziologie scheinen unvereinbar. Zunächst einmal vor allem deshalb, weil hier natürlich Äpfel mit Birnen in Beziehung gesetzt werden. Es geht um ganz verschiedene Ebenen. Auf der einen Seite (Anarchie) um die Frage, wie Äpfel und Birnen verteilt sein sollen (nämlich gerecht), und wie das Apfelkompott hergestellt werden soll und wie der Birnensaft am besten genossen werden kann (in der Regel kollektiv). Es geht also um Politik. Und diese findet im Hier und Jetzt statt. Sie wartet nicht auf ihre Vertretung durch andere, sie wartet nicht auf Entwicklungen in den Produktionsverhältnissen. Und sie war schon Jahrzehnte vor dem Werbeslogan einer Turnschuhfirma auf Unmittelbarkeit aus: Just do it!

Auf der anderen Seite (Soziologie) geht es darum, erst einmal herauszufinden, warum die einen mehr Birnen und Äpfel haben als die anderen, was sie damit machen, also produzieren, und wer zu welchem Genuss fähig ist. Es geht darum, zu beobachten und um die Wertung dieser Beobachtungen. Wenn man sich ansieht, wie stark verwurzelt nicht nur die Apfel- und Birnbäume sind, sondern auch die Arten und Weisen, auf die sie sich in Besitz befinden, mit denen geerntet, produziert, verteilt, und dann konsumiert wird, dann scheint es recht unwahrscheinlich, dass sich das alles so bald ändert. Oder überhaupt ändern lässt. Aber, das zumindest ist der Anspruch jeder kritischen Soziologie seit Marx: Es geht nicht anders. Man muss erst die ganze Verwurzelung und das ständige Neuaustreiben der Wurzeln verstehen, oder zumindest in Augenschein nehmen, um neue Formen der Produktion, der Verteilung und des Austauschs entwickeln zu können. So zu tun, als ließe sich einfach heute neu beginnen, ist demnach reine Illusion. Der Soziologe Pierre Bourdieu hat das in die paradox anmutenden Worte gefasst: "Die Soziologie befreit, indem sie von der Illusion der Freiheit befreit."(1)

Es ist ein komplexes Netz aus verherrschafteten Zuständen, die Freiheit zumindest unwahrscheinlich machen.

Zugespitzt ließe sich sagen:

Es gibt eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Erst-Verstehen-Wollen und dem Jetzt-Handeln, zwischen Theorie- und Praxisfraktion, zwischen seminarraumtrockenem Salonanarchismus und schlammigen Kommunegummistiefeln. Aber das ist natürlich eine Zuspitzung.

Denn zum einen wurde auch im Anarchismus selbstverständlich theoretisch zu Herrschaft gearbeitet, ohne dass Versuche, konkrete soziale Veränderungen herbeizuführen, damit ausgeschlossen wurden. Schließlich drängt sich diese Arbeit auch auf, wenn der Anspruch der Abwesenheit von Herrschaft im Wort an-archie auf die eigenen Fahnen geheftet wird. "Staat und Kapitalismus", schreibt Daniel Loick in seiner Einführung in den Anarchismus, "sind die beiden Herrschaftsverhältnisse, denen innerhalb des Anarchismus die traditionell größte Aufmerksamkeit gewidmet wird."(2) Dies habe schließlich den Protest von Feministinnen und Antirassist*innen hervorgerufen, die eingefordert haben, Patriarchat, Heteronormativität und Rassismus als ebenso wirksame Formen von Herrschaft zu thematisieren. Die Überkreuzung der verschiedenen Herrschaftsverhältnisse zu verstehen, ist also dringende Aufgabe unserer Bewegung. Auch wegen der Praxis.

Zum anderen ist auch die kritische Soziologie à la Bourdieu der emanzipatorischen Praxis keinesfalls abgeneigt. Im Gegenteil. Didier Eribon, der sich als Soziologe selbst in der Tradition Bourdieus verortet, beschreibt in "Gesellschaft als Urteil" (2017) zwar abermals die krasse und generationenlange Wirkung von Zuschreibungen zu Klassen, Geschlechtern und Ethnizitäten. Und wie sich die Menschen in diese zugewiesenen Orte und Rollen fügen. "Man kann nicht in einem Milieu leben", schreibt Eribon, "ohne sich dessen Funktionsweisen - und seien es nur die Abläufe der täglichen Existenz - zu eigen zu machen. Man wird von jedem Milieu unweigerlich vereinnahmt."(3) Herrschaft reproduziert sich im Alltag. Das erklärt einmal mehr, warum sozialer Wandel so langsam und behäbig von statten geht. Eribon schreibt aber auch: "Dieser primäre Gehorsam ist die unverzichtbare Grundlage für jeden Ungehorsam."(4) Ohne Auseinandersetzung mit den eigenen Verwurzelungen gibt es also keine emanzipatorische Praxis. Radikalität kommt vom Lateinischen radix, die Wurzel. Es meint beides: Die Birnen- und Apfelbaumwurzelkunde. Und die Forderung: Wir wollen nicht nur den Birnensaft, sondern die ganze Apfelbaumplantage, die Kontrolle über die Ernte und selbst noch über den Geschmack der Safttropfen auf der Zunge!


Anmerkungen:

1) Zit. n. Francois Dosse: Geschichte des Strukturalismus, Band 2. Die Zeichen der Zeit, 1967. 1991. Hamburg: Junius Verlag 1991, S. 89.

2) Daniel Loick: Anarchismus zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 2017, S. 215.

3) Didier Eribon: Gesellschaft als Urteil. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017, S. 120.

4) Ebd.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 47. Jahrgang, Nr. 427, März 2018, S. 11
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. März 2018

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