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GRUNDRISSE/036: zeitschrift für linke theorie & debatte, winter 2012


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 44, winter 2012



Inhaltsverzeichnis

Redaktion:
Editorial / Call for Papers

Schwerpunkt: Kritik der Religionskritik

Martin Birkner:
Kritik der Religionskritik oder: Der Glaube an den Kommunismus

Anne Steckner:
Antonio Gramscis Auseinandersetzung mit Religion

Klaus Ronneberger:
An den Himmel verschleuderte Schätze

Sebastian Kalicha:
Anarchismus und Christentum

Maria & José Ignacio López Vigil:
Ein anderer Gott möglich. 100 Interviews mit Jesus Christus

Karl Reiter:
Das imaginäre im Sozialen. (Ein Essay über Castoriadis)

Robert Foltin:
Buchbesprechung: Max Henninger: Krisen Proteste.
Beiträge aus Sozial. Geschichte Online.

Elisabeth Steger:
Gustav Schörghofer; Danke tausendmal.

Philippe Kellermann:
Buchbesprechung: Ton Veerkamp: Die Welt anders.

MigrantInnen:
Forderungen der protestierenden Flüchtlinge

AMSAND:
Klagedrohung gegen AMSAND

Kongress:
Wien wird Anziehungspunkt für solidarische Ökonomie.

*

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser!

Die Auseinandersetzung mit Religion hat (wieder) Konjunktur. Dir seinerzeitigen vollmundigen Aussagen aus dem Umkreis der TheoretikerInnen der sogenannten Moderne, die offenbar als unaufhaltsam gedachte Entzauberung der Welt (zumeist in Überblendung der Thesen von Jürgen Habermas und Max Weber vorgetragen) würde notwendiger Weise das Erlöschen des Religiösen bewirken, sind verstummt. Ebenso dürfte das Mantra von der Religion als das Opium des Volkes seine Erklärungskapazität offenbar eingebüßt haben. Eine differenzierte Auseinandersetzung ist somit angesagt.

Der Artikel von Martin Birkner Zur Kritik der Religionskritik, oder: Der Glaube an den Kommunismus, der auch als Einführung die Problematik gelesen werden kann, trägt programmatische Züge. Gestützt auf seine Begriffsunterscheidung zwischen Gott, Gaube und Religion zeigt er die offenen aber auch verborgenen religiösen Dimensionen sowohl des Kapitalismus als auch vieler kritischer und emanzipatorischer Strömungen auf. Davon ausgehend plädiert er gegen eine allzu schroffe Entgegensetzung von Glauben und Emanzipation. Eine ausschließlich auf Wissen basierende Sicht der Welt hält Birkner für ein Phantasma, eine Form des "Transparenzwahns".

Wie der Titel bereits verrät, beschäftigt sich Anne Steckner in Antonio Gramscis Auseinandersetzung mit Religion im Spannungsfeld zwischen Unterwerfung und Widerständigkeit ausführlich mit dem Religionsbild Gramscis. Obwohl dieser zunächst Religion als Herrschaftsideologie interpretierte, zeigt die Autorin in ihrem sehr detailreichen Text auch die anderen Aspekte seines Religionsverständnisses auf. Nicht zuletzt aus dem Scheitern des italienischen Liberalismus, die Massen tatsächlich zu erreichen, zieht Gramsci, die Schlussfolgerung, es gehe weniger um die Orientierung auf die fixen Gegensätze von Religion und Glauben auf der einen und Vernunft und Atheismus auf der anderen Seite, sondern vielmehr um die Frage, wie die subalternen (ein Begriff Gramscis) Massen handlungsfähig würden. In diesem Zusammenhang steht auch die interessante These Gramscis, der italienische Katholizismus hätte sich der Aufgabe stellen müssen, sowohl die herrschende als auch beherrschte Klassen ideologisch unter dem Banner des Christentums zu vereinen.

In An den Himmel verschleuderte Schätze? - der Titel ist ein Zitat aus einer Frühschrift Hegels - spannt Klaus Ronneberger einen weiten Bogen von der filmischen Arbeit des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini über die Entwicklung der puritanisch calvinistischen Kirchen insbesondere in den USA bis hin zu den Paulus-Bezügen bei Alain Badiou und Slavoj Zizek. Insbesondere arbeitet er die Ambivalenz der chiliastischen Bewegung (griech. = tausend, gemeint ist das tausendjährige Reich, ein Begriff der wie viele andere von den Nazis okkupiert wurde) heraus, in welcher Weise die Erlösung zu erhoffen sei, im Jenseits, in einer kommenden befreiten Gemeinschaft oder gar in der bereits existierenden, elitären Gemeinde der Gläubigen?

Sebastian Kalicha wiederum plädiert in Anarchismus und Christentum für einen differenzierten Blick auf dieses Verhältnis. Ist ein christlicher Anarchismus oder aber auch ein anarchistisches Christentum möglich? Durchaus, meint der Autor; unter anderem indem er sich auf den französischen Soziologen und Philosophen Jacques Ellul beruft. Obwohl in diesem Verhältnis bisher in erster Linie der Gegensatz dominierte, zeigt Kalicha auch eine ganze Reihe historischer und aktueller Gegenbeispiele auf und verweist auf einige Indizien, die auf eine differenzierte Sichtweise in beiden Lagern, wenngleich auch von Minderheiten getragen, hinweisen.

Abgesehen von den Buchbesprechungen findet ihr abschließend kurze Auszüge aus dem Buch Ein anderer Gott ist möglich von María López Vigil und José Ignacio López Vigil. Darin kommt kein geringerer als Jesus himself zu Wort - und erklärt den wahren Sinn seiner Taten und Worte gut 2000 Jahre nach seinem Tod. In diesem Sinne wünschen wir euch (fast) ohne Ironie ein erfülltes Weihnachtsfest.

Eure grundrisse-Redaktion

PS: Bitte beachtet auch unseren Call for Papers zu Demokratie, die Forderungen protestierender Flüchtlinge in Wien, die Information über skandalöse juristische Schikanen gegen die verdienstvolle Erwerbslosenbewegung AMSand sowie die Ankündigung des Kongresses Solidarische Ökonomie, der vom 22.- 24. Februar 2013 in Wien stattfinden wird.

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Call for Papers:
Demokratie | grundrisse Nr. 45

Die erste Ausgabe der grundrisse im Jahre 2013 soll dem vielschichtigen Thema der Demokratie gewidmet sein. Wie nötig eine Debatte darum ist zeigt allein schon der Umstand, dass sich fast alle politische Strömungen, marginale wie hegemoniale, mehr oder minder affirmativ auf die Vorstellung der Demokratie beziehen. Demokratie - das wollen alle; wollen wir das alle? Und wenn ja, was heißt überhaupt Demokratie, welche Demokratie? Zur besseren Diskussion schlagen wir vor, diese Thematik (zumindest) in drei Unterbereiche zu gliedern.

Demokratie als parlamentarische Staatsform, Demo-kratia als Legitimation von politischer Herrschaft.

Wer gewählt ist, gilt als legitimiert, politische Macht und Herrschaft über den demos auszuüben - und dabei selbst Intuitionen und Mechanismen zu autorisieren, die selbst nicht demokratisch gewählt sind. Immer wieder gelingt es dabei, emanzipatorische Proteste, Kämpfe und Widerstand in Richtung Wahlen zu kanalisieren und damit zumeist zum Versiegen zu bringen. Wie also mit Wahlen, Abstimmungen umgehen? Wie definiert sich eine zählbare Stimme, wer hat eine Stimme und kann somit überhaupt erst als ein numerischer Wert im Kalkül der Wahl berechnet werden? Und vor allem, wie mit der Legitimation, die sich aus und durch Wahlen ergeben umgehen? Es geht also hier darum, den Zusammenhang von Demokratie, zählbarer Stimme, Parlamentarismus, Souveränität und Legitimation zu denken.

Die andere Demokratie.
Kann Demokratie durchaus als Gegensatz zum Parlamentarismus und zur Repräsentation konzipiert werden? Wie? Stellt diese andere Demokratie das emanzipatorische Organisationsprinzip schlechthin dar? Alle Lebensbereiche, ob in den (alltäglichen) Begegnungen, in der (Re)Produktion, der gesellschaftlichen Organisation, der Bildung und nicht zuletzt der diversen Formen des Protests und des Widerstandes möchten demokratisch organisiert sein. Handelt sich beim Festhalten an der (anderen) Demokratie um eine blauäugige Forderungen oder unumgängliche Konzeptionen? Welches Verhältnis besitzt diese (Basis)Demokratie zum Parlamentarismus, liegt ihr ein tieferes Prinzip zugrunde?

Demokratie und "das Politische"
Wie halten wir es schließlich mit dem Diskurs um das Politische, der in Anschluss an Hannah Arendt vermeint, das Politische als autonome Sphäre der Gesellschaft, die kaum noch Bezüge zum Ökonomischen oder zum Privaten aufweist, verstehen zu können? Wie stehen wir zu der Ansicht, erst das Denken des Politischen ermögliche eine wahrhaft radikale Demokratie, die nicht als Ausdruck oder gar Widerspiegelung des wirtschaftlichen oder ökonomischen Kalküls aufgefasst werden kann? Oder anders gefragt, müssen wir Demokratie aus den Fesseln der Ökonomie befreien, um sie radikal ausüben zu können? Oder bleibt dieser Diskurs umgekehrt im Phantasma (Utopie) verhaftet, die citoyen unabhängig von realen, ökonomischen und geschlechtlichen Bezügen als politisch handelndes Vernunftwesen zu idealisieren?

Wir laden euch ein im Kontext der gestellten Fragen (oder auch darüber hinaus) bis zum 15. Februar 2013 Texte zu senden. Gerne lesen wir auch feine Essays ohne jenen Fußnoten-Ballast, der sich oftmals aus dem akademischen Kontext notwendig ergibt.

Eure grundrisse Redaktion
redaktion@grundrisse.net

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Martin Birkner:

Zur Kritik der Religionskritik, oder: Der Glaube an den Kommunismus

Es gehört zum guten Ton in der (radikalen) Linken, atheistisch zu sein. Zum einen fußt dieser Atheismus auf einer Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen, zum anderen ist er durch die Kritik an religiösen Institutionen, in unseren Breiten meist christliche Kirchen, motiviert. Ob Kreuzzüge, die herrschaftliche Rolle der katholischen Kirche über hunderte von Jahren, Hexenverbrennungen, die Rechtfertigung von Kolonialismus und Sklaverei, aber auch die Verstrickung in die Terrorherrschaft des Nationalsozialismus, die Aufrechterhaltung einer bürgerlich-kapitalistischen Ordnung durch die Propagierung einer antiaufklärerischen, patriarchalen Moral, die Ablehnung von Empfängnisverhütung und des Rechts von Frauen auf Abtreibung: Es gibt wahrlich genug Gründe, gegen die Institution Kirche zu opponieren - und sie sind mannigfaltig und gut belegt.

Auch der oben genannte erste Aspekt linker Religionskritik hat eine lange Tradition. Im Unterschied zu göttlicher Vorhersehung und der Verheißung eines Lebens nach dem Tod war und ist es zentraler Einsatz einer materialistischen Kritik, die Diesseitigkeit menschlicher Verhältnisse in Stellung zu bringen und so die Verschleierung profaner Interessen zu denunzieren. Dagegen wurde die Selbstbefreiung der Unterdrückten von ebenjenen weltlichen Herrschaftsformen propagiert. "Es rettet uns kein höh'res Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun; uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun" lautet eine berühmte Zeile der "Internationale". Und kein geringerer als Marx erklärte in seiner berühmten Einleitung zur "Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie": "... Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik." (MEW 1, 378) Freilich meinte er im Satz davor auch "Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt ..." (ebd., Herv. i. O.). Darüber wäre wohl auch 2012 noch zu diskutieren. Marx ging, im Gefolge Feuerbachs, davon aus, dass mit der Aufklärung breiter Bevölkerungsschichten über die ideologische Funktion sowie die wissenschaftliche Unhaltbarkeit religiöser Vorstellungen die "Kritik der Religion im wesentlichen beendigt" wäre. Die Wiederkehr der Religiosität seit Ende des 20. Jahrhunderts straft dies Lügen. Hier sollen jedoch nicht die Gründe dafür analysiert werden, vielmehr möchte ich einerseits die Unzulänglichkeiten materialistischer Religionskritik skizzenhaft in den Blick nehmen und andererseits das eine oder andere Schlaglicht auf die Geschichte jener emanzipatorischer Bewegungen werfen, die sich aus religiösen Motiven speisen. Damit sollen provisorische Eckpunkte abgesteckt werden, innerhalb dessen sowohl über die notwendige Erneuerung der Religionskritik gesprochen als auch die Rolle des Glaubens im Rahmen einer Theorie und Praxis der Befreiung neu überdacht werden kann.

Wesentlicher Einsatz einer erneuerten Religionskritik muss eine exakte und klar abgegrenzte Verwendung von Begriffen sein. In linken Zusammenhängen hingegen werden "Religion", "Gott", "Kirche" und "Glauben" oft und gern synonym verwendet. Im Glauben der eigenen Überlegenheit über ideologische Formen, die sich an einem "höheren Wesen" oder einem "Leben nach dem Tod" orientieren, wird in klassisch aufklärerischer Manier meist eine naturwissenschaftlich-rationalistische Position bezogen, die die oben genannten Kategorien schlicht und einfach ins dunkle Reich des Irrationalen verbannt - und sich selbst dagegen auf der Seite der Vernunft wieder findet. Sowohl in der Geschichte der Naturwissenschaften als auch in jener der ArbeiterInnenbewegung ist dieser Begründungszusammenhang hegemonial; gerade in letzterer jedoch hat dies zu einer Blindheit gegenüber dem in den eigenen Institutionen fortlebenden religiösen Geist - an dieser Stelle sei beispielsweise an die Ikonografie der frühen ArbeiterInnenbewegung oder aber an die Prozessionen zum ersten Mai erinnert, von der quasi-kirchlichen Hierarchie so mancher Parteiorganisationen ganz zu schweigen. Ein weiterer Effekt war oft auch die Abqualifizierung offen religiöser Formen von emanzipatorischem Widerstand; von antifaschistischen ArbeiterInnenpfarrern bis hin zur Befreiungstheologie. Diesen Formen wurde eine progressive Rolle in sozialen Kämpfen wenngleich nicht abgesprochen, so doch lediglich trotz ihres religiösen Glaubens zugestanden.

Gegen diese Tendenz ist auf die materielle Kraft des Glaubens zu beharren, auf die politische Stärke, die gerade wegen einer gelebten Religiosität wirksam werden konnte und kann. Durch eine solche Verschiebung des Blicks wäre es meines Erachtens möglich, sowohl die unsichtbaren Barrieren zwischen religiösen und nicht religiösen fortschrittlichen Kräften abzubauen und neue Bündnisse im Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu schließen als auch die real existierenden Glaubensbestandteile nicht religiöser Bewegungen und Institutionen anzuerkennen: sei es, um sie besser kritisieren und überwinden zu können oder aber um einen reflektierten Umgang mit ihnen zu ermöglichen - oder gar die Anerkennung von positiven Wirkungen auf kollektive Widerstandsformen gegen die Zumutungen des gegenwärtigen Kapitalismus.


Glaube, Gott, Kirche & Religion, oder: Es ist alles sehr kompliziert

Zunächst möchte ich zur Frage der unzureichenden Trennungen zwischen mit Religion in Zusammenhang gebrachten Begriffen zurückkehren. Unter der Hand habe ich mich ja im vorangegangenen Absatz schon auf die Kategorie des "Glaubens" eingelassen - nicht zuletzt, da ich überzeugt bin, dass diese im Gegensatz zu den anderen oben genannten, nämlich "Gott", "Kirche" und "Religion" tatsächlich ein unhintergehbarer Bestandteil jeder menschlichen Vergesellschaftung ist. Während Gott, Kirche und Religion unterschiedliche Elemente eines - in unseren Breiten hegemonialen - christlichen Begründungszusammenhanges darstellen (manche Religionen anderer Weltgegenden kennen die Vorstellung eines Gottes nicht, schon gar nicht in einer personifizierten Form), ist die Form des Glaubens eine Art des Welterschließens, die nicht einfach positivistisch jener des Wissens entgegengestellt werden kann. Auf die epistemologische Dimension dieser Unterscheidung kann an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden, ich möchte nur auf einige der zentralen Folgen einer vermeintlich gesicherten und klar durchführbaren Trennung zwischen ihnen verweisen - nicht zuletzt, da diese Trennung sowohl brutale Ausschlüsse gesellschaftlicher Natur als auch ein stark verkürztes Wissenschaftsverständnis nach sich zieht; beide Probleme lassen sich übrigens auch im Rahmen von Fehlentwicklungen linker Bewegungen festmachen.

Anhand der drei zentralen Begriffe Gott, Glaube und Religion werde ich versuchen, ein wenig Ordnung in die oft verwirrte Debatte zu bringen. Zugegebenermaßen fußt diese Intervention auch auf einer strategischen Überlegung, nämlich meiner Unzufriedenheit mit vielen Formen linker Religionskritik. Diese wiederum, und das versuche ich im Folgenden zu zeigen, fußt selbst wiederum auf einer unklaren Verwendung ebenjener Kategorien. Mein politischer Einsatz ist dabei der Versuch, eine verkürzte Religionskritik kritisch zu durchleuchten, um einerseits eine sinnvolle Debatte überhaupt erst möglich zu machen und andererseits die real existierenden Formen des Glaubens in den unterschiedlichen Zusammenhängen der Linken sichtbar zu machen - sei es, um diese effektiv politisch kritisieren zu können oder auch um die eine oder andere dieser Glaubensformen reflektiert anzunehmen und im Rahmen einer radikalen praktischen Gesellschaftskritik wirksam werden zu lassen. Dabei möchte ich mich dezidiert nur mit den oben genannten FORMEN in einer verallgemeinerten Stufe der Abstraktion beschäftigen, nicht aber mit konkreten Glaubensinhalten, religiösen Institutionen oder Gottesvorstellungen. Eine gewisse Orientierung der Religionskritik an den Formen der christlichen Religion wird dabei jedoch sowohl aufgrund des historisch-kulturellen Gepäcks des Verfassers als auch der mannigfaltigen Fortwirkungen ebenjener in der europäischen Gegenwart (und nicht nur dort) unvermeidbar sein.

"Wer nichts weiß, muss glauben", wie es im atheistischen Volksmund so schön - und falsch - heißt. Die implizierte Verbindung zwischen Gott, Glauben und Religion ist hierbei, dass sich alle drei der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit ihres Wesens bzw. ihrer Effekte entziehen. Diese werden im Rahmen einer halbierten Theorie der Ideologie dann der letzteren zugewiesen - und somit bestenfalls in das Fach "falsches Bewusstsein" eingeordnet oder aber gleich pathologisiert. Um dieses Geflecht zu entwirren und die durchaus unterschiedlichen Bedeutungsinhalte der genannten Begriffe einer kritischen Bearbeitung zuzuführen, sollen sie zunächst jeder für sich provisorisch definiert werden, um dann ihre Verbindungslinien wie ihre Differenzen nachzeichnen zu können.

Gott ist das - nicht selten personifiziert gedachte - allmächtige Prinzip des Daseins schlechthin. Seine Entscheidungen sind von Menschen und anderen Lebewesen wie auch von Bestandteilen der nicht belebten Natur nicht beeinflussbar. Gott ist weiters der Garant für eine mithin in Aussicht gestellte Überschreitung des biologischen Lebens nach dem Tod; dies ist oft auch mit erlösenden Aspekten verbunden.

Glaube ist ein wissenschaftlich nicht begründbares Verhalten von menschlichen Individuen und Gemeinschaften. In seiner religiösen Form ist er auf Gott bezogen und in der Hauptsache auf diesen ausgerichtet. Seine Wirksamkeit kann zwar definitiv keine Berge versetzen, jedoch - im menschlichen Maßstab - sogar noch "größere" Taten vollbringen, wie z.B. blutige Eroberungskriege führen oder aber einer herrschaftlich verfassten Gesellschaft durch die Kraft kollektiven Glaubens Widerstand leisten. Ausgangspunkt des Glaubens ist das Sich-Nicht-Abfinden mit der Intransparenz vieler gesellschaftlicher Verhältnisse sowie mit der Faktizität des Todes.

Religion ist die menschlich-gesellschaftliche Institution des Glaubens an Gott. In der Religionsgemeinschaft finden sich Menschen gleichen oder zumindest ähnlichen Glaubens zusammen. Diese Zusammenkünfte sind meist stark emotional aufgeladen und können - im Guten wie im Schlechten - bis hin zu den oben zitierten Großtaten führen. Die Religion gibt außerdem dem religiösen Glauben Stabilität über die durch sie garantierte Verbindlichkeit und Einheitlichkeit der Auslegung der heiligen Schrift(en).

Selbstverständlich erheben diese provisorischen Definitionsversuche keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Sie sollen lediglich einem verbesserten Verständnis hinsichtlich der gegenseitigen Abgrenzung dienen. Im Weiteren wird auch ausschließlich auf den Begriff des Glaubens und seiner möglichen (politischen) Bedeutungen abgestellt. Meine Ausgangshypothese war ja, dass der Glaube nicht nur kein Hindernis, sondern nachgerade ein zentraler und unhintergehbarer Aspekt der Wirksamkeit sozialer Bewegungen ist. Bewusst spreche ich dabei nicht alleine vom religiösen Glauben, sondern vom Glauben im Allgemeinen. Wesentlich scheint mir dabei jedoch die Dimension der Kollektivität: Ein Glaube, der ganz in der postmodernen Form der Individualisierung sämtlicher Lebensbereiche lediglich als eine Lifestyle-Facette auftritt, kann und wird keine Rolle im Rahmen sozialer Bewegungen spielen. Einzig und allein der mit anderen Menschen geteilte Glaube kann tatsächlich Berge versetzen - zumindest jene An- und Aufhäufungen von Geld, Wissen und Macht, die für die extremen Ungleichheiten des postfordistischen Kapitalismus so typisch sind.



Revolutionärer Glaube

Gerade auch der ArbeiterInnenbewegung ist die Orientierung an Glaubensformen (und -inhalten) nicht fremd. Auf der einen - wohl nicht zu affirmierenden - Seite finden sich die im schlechten Sinne religiösen Bekenntnisrituale der stalinistischen Parteiapparate (samt Inquisition), auf der anderen Seite die reflektierte Übernahme von Glaubensmotiven in eine Theorie der Befreiung. Zwei jener Strömungen sollen an dieser Stelle genannt werden, nämlich die Befreiungstheologie und zum anderen die Rolle, die der jüdischen Messianismus in den minoritären linken Strömungen der ArbeiterInnenbewegung des 20. Jahrhunderts gespielt hat. Da ihre ausführliche Darstellung den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, möchte ich nur schlagwortartig auf wichtige Aspekte eingehen. Im Anschluss an diesen Artikel finden sich Hinweise auf ausgewählte weiterführende Literatur zu diesen Themenfeldern.

Den Protagonisten der Verbindungslinie von jüdischem Messianismus und revolutionärer Linker hat Michael Löwy in seiner wichtigen Studie "Erlösung und Utopie" ein Denkmal gesetzt. Viele philosophische Denker des jüdischen Messianismus standen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zufällig der radikalen Linken nahe. Aus der religiösen Tradition des Judentums heraus argumentierten und analysierten Denker wie Walter Benjamin oder auch der bereits genannte Ernst Bloch Parallelen zwischen der Erwartung der Ankunft des Messias und dem revolutionären Bruch mit den herrschenden Verhältnissen. Dabei gingen sie von einer prinzipiellen Unverfügbarkeit des einen wie des anderen Moments aus. Die Revolution kann nicht einfach "gemacht" werden, sondern es gilt sich bereitzuhalten für das Ereignis, welches jederzeit stattfinden könne. Die Zeit dieses Ereignisses unterscheidet sich qualitativ von der "homogenen und leeren Zeit" des Kapitalismus. Hier zeigt sich eine Bestimmung von Zeitlichkeit, die sich frontal jener linearen und abstrakten (Arbeits)Zeit des Kapitalismus entgegenstemmt und die - als Zeit der Fülle, ja des Überschusses - das Versprechen einer befreiten Gesellschaft repräsentiert. Das Aufzeigen dieser Verbindung von Revolution und Erlösung bedeutet jedoch nicht, sich attentistisch aus dem gesellschaftlichen Handgemenge zurückzuziehen und eine rein abwartende Position zu beziehen. Vielmehr gilt es, bereits im Hier und Jetzt dem Kapitalverhältnis eine Form sozialer Kollektivität entgegenzusetzen, auch wenn diese noch nicht hegemonial wirksam werden kann. Der geduldige Aufbau einer solchen Kollektivität ist jedoch konstitutiv angetrieben von der radikalen Ablehnung der aktuell herrschenden Zustände. John Holloway, der - obgleich Atheist - dem messianischen wie auch dem befreiungstheologischen Denken nahe steht, beschrieb diese scheinbare Paradoxie in seinem gleich lautenden Essay sehr plastisch als die "zwei Zeiten der Revolution".

Die Befreiungstheologie entwickelte sich in den 1960er Jahren vor allem in Lateinamerika aus dem Widerstand basiskirchlicher Zusammenhänge, aber auch von Bischöfen, gegen die herrschenden Zustände, allen voran die äußerst ungerechte Landverteilung wie auch die brutale Ausbeutung der großen Bevölkerungsmehrheit. Aber auch die Rolle der Kirche selbst bei der Aufrechterhaltung dieser ungerechten Zustände stand im Kreuzfeuer der Kritik. Als im Anschluss an das sozialreformerisch geprägte zweite Vatikanische Konzil (1962-5) selbst der Papst der "Option für die Armen" positiv gegenüberstand, wurde die Befreiungstheologie zur hegemonialen Kraft in Lateinamerika. Prägend für ihre Entwicklung war sowohl der Widerstand gegen die Militärdiktaturen als auch die enge Verbindung von Pfarrern und Bischöfen zu den Basisgemeinden. Aus diesen von gegenseitiger Achtung und weitgehender Hierarchiefreiheit geprägten Gemeinschaften entsprangen zahlreiche Experimente zur Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche, von denen an dieser Stelle lediglich die Pädagogik der Befreiung oder die Methode des Forumtheaters um Augusto Boal zu nennen wären. Befreiungstheologische Motive prägten aber selbst Guerillabewegungen wie die kolumbianische ELN oder die brasilianische Landlosenbewegung MST. Obgleich mit der Neoliberalisierung Lateinamerikas seit den 1980er Jahren auch die gegen die Befreiungstheologie gerichteten Pfingstkirchen Oberwasser bekamen, spielen Basiskirchen und von der Theologie der Befreiung inspirierte Organisationen und Netzwerke nach wie vor eine wichtige Rolle in den antikapitalistischen Auseinandersetzungen in Lateinamerika. Die Befreiungstheologie hat jedoch ebenso in Nordamerika und in Europa starke Wirksamkeit entfalten können. In den USA vor allem in der gegen rassistische Diskriminierung gerichteten Bürgerrechtsbewegung, in Europa waren und sind sowohl in Antikriegsbewegungen als auch in antirassistischen Auseinandersetzungen ChristInnen oft an vorderster Front zu finden. An die zahlreichen und wichtigen Beiträge seitens feministischer Theologinnen soll an dieser Stelle ebenso explizit erinnert werden, wie an die inspirierenden theoretischen Aspekte und praktischen Aktionsformen des christlichen Anarchismus, zu dem nicht nur in dieser Ausgabe der grundrisse glücklicherweise noch mehr zu lesen steht, sondern dem auch eine aktuelle Buchveröffentlichung gewidmet ist. Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass jenseits des jüdisch-christlichen Horizonts keine emanzipatorischen Formen religiös-politischen Handelns zu finden wären; aktuelle Beispiele aus dem Hinduismus und dem Islam finden sich im empfehlenswerten Band "Urban Prayers".

Diese Tatsachen gilt es zu würdigen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, anstatt eine oberlehrerhafte Haltung gegenüber gläubigen politischen AktivistInnen an den Tag zu legen. Abgesehen davon, dass Selbstreflexionsvermögen ohnehin zu den Tugenden von politisch aktiven Menschen gehören sollte, könnte ein reflektierter Umgang mit dem Begriff des Glaubens so nicht nur zu einer Reflexion religiöser Bestände in den eigenen Traditionen beitragen, sondern auch Spielräume auf für neue Bündnisformen und Neuzusammensetzungen in sozialen Auseinandersetzungen eröffnen. Dazu ist anzumerken, dass im Gegensatz zu Deutschland oder der Schweiz, wo zumindest im Rahmen antirassistischer Bewegungen eine Zusammenarbeit zwischen radikalen Linken und religiösen bzw. kirchlichen Organisationen bereits seit geraumer Zeit praktiziert wird, diese in Österreich noch weitgehend unbekannt ist. Zu groß scheint einerseits die kulturelle Differenz der unterschiedlichen "Szenen", aber auch die Furcht vor dem Verrat eigener Grundsätze im Rahmen einer Zusammenarbeit. Will sich die radikale Linke jedoch aus ihrer marginalisierten Rolle befreien, so täte sie gut daran, ihre Scheu vor anderen gesellschaftlichen Strömungen abzubauen, zumal wenn diese an ähnlichen Themenstellungen und in ähnlicher politischer Absicht aktiv sind. Vor allem in arbeiterInnenbewegten Zusammenhängen wird gerne nach wie vor auf Bündnisse mit Gewerkschaften und anderen sozialdemokratischen (Vorfeld)Organisationen gebaut und jene mit kirchlichen und/oder religiösen Gruppierungen oft kategorisch abgelehnt. Dem liegt der - zumindest mittlerweile - anachronistischer Fetisch eines Klassenverständnisses zugrunde, das sich noch immer primär an den traditionellen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung orientiert, anstatt sich angesichts der Unbeweglichkeit, die diese seit Jahrzehnten unter Beweis stellen, neuen Projekten zuzuwenden.

Wendet sich eine durchaus an Klassenpolitik interessierte Linke jedoch der Veränderung der Zusammensetzung sozialer Subjekte zu, der Rolle des Rassismus in der aktuellen Phase des Kapitalismus oder neuen Forderungen und Bewegungen der "gesellschaftlichen Linken" wie dem Bedingungslosen Grundeinkommen oder der Solidarischen Ökonomie, so ist es wohl kein Zufall, dass progressive religiöse Zusammenhänge an denselben Baustellen arbeiten. Von einer christlich motivierten unbedingten Gleichheit aller Menschen als Einsatz einer Forderung nach dem bedingungslosen Grundeinkommen über eine biblisch motivierte radikale Kapitalismuskritik bis hin zu einer am Buch "Exodus" orientierten radikalen Theologie der Migration reicht die Palette einer Politik, von der Linke oft mehr lernen können als aus dem x-ten Wiederkäuen leninistischer Traditionsbestände. Dass dies nicht bedeutet, Kritikpunkte an kirchlichen Institutionen bzw. Standpunkten hintanzustellen, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Nicht zuletzt könnte eine Auseinandersetzung mit religiösen politischen Menschen und Gruppen wie auch mit den avancierten Ansätzen z.B. der zeitgenössischen christlichen Soziallehre ein Religionsverständnis befördern (durchaus in kritischer Absicht), welches zumindest nicht hinter die Errungenschaften heutiger kritischer Theologie zurückfällt. Eine Religionskritik, die dies berücksichtigt und weder auf die Feuerbachschen Ausführungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückfällt noch es sich mit den kreuzbürgerlich-positivistischen "Theorien" á la Dawkins' "Der Gotteswahn" oder Dennetts "Den Bann brechen" gemütlich macht, das wären wohl nicht die geringsten Effekte einer solchen Auseinandersetzung.



Kapitalismus als Religion

Darüber hinaus könnte eine nicht "aufklärungsverkürzte" Auseinandersetzung mit den politischen Interessensgegensätzen innerhalb religiöser Institutionen auch eine Perspektive für ein Verständnis aktueller kapitalistischer Gesellschaften als genuin religiöser eröffnen. Entgegen der von aufklärungspopulistischen TheoretikerInnen unterschiedlichster Couleur geteilten Auffassung eines laizistischen bzw. säkularen Kapitalismus in Europa ließen sich in Anknüpfung an Walter Benjamins These von der religiösen Natur des Kapitalismus selbst entscheidende Erkenntnisgewinne - zumal in antikapitalistischer Absicht - erzielen. Geld- und Kapitalform rücken so als mitnichten profane, sondern vielmehr genuin "heilige" in den Blick. Und es sind vielmehr formale, nicht jedoch genuin inhaltliche Unterschiede, die sich zwischen den Fetischformen "Gott" und "Geld" im Kapitalismus ausmachen lassen. Eine derartige Lektüre - wie sie z.B. Christoph Deutschmann in seinem wichtigen Buch "Die Verheißung absoluten Reichtums: Zur religiösen Natur des Kapitalismus" vornimmt - stellt eine brauchbare Grundlage für die Dekonstruktion abendländischer Fortschrittsmythen zur Verfügung. Was angesichts der erstaunlichen wie bekämpfenswürdigen Affirmation bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse durch nicht wenige Ex-Linke - meist angesichts einer völlig mit den hegemonialen Formen herrschender Erzählungen übereinstimmenden Erzählung über die "Gefahren" einer "Islamisierung" - ohnehin auf der Tagesordnung jeder ernstzunehmenden Linken stehen sollte.

Die Religion, nach Marx "der Seufzer der bedrängten Kreatur" ist also eine gesellschaftliche Institution, die unmenschliche gesellschaftliche Verhältnisse aushalten lässt, nicht zuletzt mittels der Vertröstung der bedrängten Kreaturen auf ein Leben jenseits von Mangel und Unterdrückung. Dieses Versprechen, verbunden mit der den Gläubigen eingetrichterten Pflicht zum Gehorsam gegenüber den Mächtigen vor dem Tode, war und ist der - berechtigte - Grund linker Religionskritik. Ihre Berechtigung schöpft sie nicht zuletzt aus den mannigfaltigen Beteiligungen - wenn nicht gar Verursachungen - der Religionen an millionenfachem menschlichen Leid. Diese Form der Religionskritik - zum Beispiel gegen eine verlogene Sexualmoral oder hinsichtlich des Rechts von Frauen auf Abtreibung - ist in vollem Umfang aufrechtzuerhalten bzw. beständig zu erneuern.

Aber die Kritik von überkommenen Glaubensvorstellungen darf auch vor der ambivalenten Geschichte der Linken selbst nicht halt machen. Entgegen den schlechten Traditionen des hegemonialen Marxismus der ArbeiterInnenbewegung ist festzuhalten, dass die Geschichte radikal offen ist. Sie kennt weder ein Ziel "an sich", noch existiert eine objektive Mission eines revolutionären Subjekts - jenseits vom Glauben an eine mögliche andere, bessere Welt. Die teleologischen Formen marxistischer Theorie mögen zu bestimmten Zeiten ihren Sinn und ihre Berechtigung gehabt haben, niemand hindert uns jedoch heute, die Unzulänglichkeiten und Fehlentwicklungen klar zu benennen, die aus dem Glauben an die Zielgerichtetheit historischer Entwicklung hervorgegangen sind. Dagegen wäre ein Glaube an die Möglichkeit einer anderen Welt zu setzen, der letztlich nicht aus vermeintlich wissenschaftlichen Erkenntnissen abgeleitet ist, sondern seine Kraft und sein Feuer aus einer letztlich ethisch-politischen Haltung, die nicht weiter begründet werden kann, bezieht. Ernst Bloch sprach vom "Prinzip Hoffnung", welches ein zentrales Moment eines Materialismus darstellt, der über die analytische Schärfe des "Kältestroms" des Marxismus hinausgreift - und in der gegenseitigen Achtung der Würde des Menschen wurzelt, in jenem "Wärmestrom", der über die Kollektivität im Rahmen gesellschaftlicher Kooperation und Kommunikation noch hinausgeht und der uns heute noch ermöglicht, an den kommenden Kommunismus zu glauben. Notwendig ist jedoch das Zusammenkommen von Kälte- und Wärmestrom wie auch jenes des geduldigen Aufbaus einer anderen, neuen Welt im Rahmen der schlechten alten mit der Ereignishaftigkeit des revolutionären Bruchs. Daran zu glauben heißt danach zu leben, zu kämpfen und - last not least - zu lieben. Dieser materialistischen Form der (göttlichen?) Liebe sind auch Michael Hardt und Toni Negri in ihren neueren Schriften auf der Spur. Aber das ist eine andere Geschichte.



Fazit: Wider dem Transparenzwahn

Der Unterschied zwischen religiös und nicht religiös motivierten politischen Kämpfen und Subjekten ist viel kleiner als weithin angenommen. Religiöse Menschen bzw. Organisationen können nicht trotz, sondern mitunter durchaus gerade wegen ihres Glaubens erstaunliche Erfolge in politischen Auseinandersetzungen erzielen. Gemeinsam geteilter Glaube ist darüber hinaus nicht auf den Glauben an einen Gott oder an ein Leben nach dem Tod zu reduzieren. Vielmehr stellt gemeinsam geteilter Glaube eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von kollektiven Kämpfen dar. Der Glaube als formales Prinzip von menschlicher Welterfahrung jenseits wissenschaftlicher Erkenntnis ist gleichzeitig deren unhintergehbare Vorbedingung; eine Denkbewegung, die sich in positivistischer Manier von dieser Vorbedingung selbst abschneidet, verzichtet auf die Annahme einer elementaren menschliche Grundbedingung und läuft Gefahr, sich unbewusst einem Fetisch der Transparenz zu unterwerfen. In der marxistischen Variante ist dieser nur allzu bekannt: Wenn erst die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt ist (oft noch dazu in der Vergesellschaftung der Produktionsmittel sich erschöpfend), dann werden die gesellschaftlichen Verhältnisse völlig durchsichtig und somit durch Akte bzw. Institutionen gesellschaftlicher Planung vollständig beherrschbar. Diese technizistische und positivistische Phantasie zieht sich durch die gesamte Frühphase der ArbeiterInnenbewegung und ist auch heute noch da und dort anzutreffen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Nichtplanbarkeit vieler Aspekte des gesellschaftlichen Lebens wäre dahingehend eine gute Voraussetzung. Eine solche Debatte könnte auch zu einer deutlichen Entspannung zwischen gläubigen und nicht gläubigen Linken führen und einen Dialog über etwaige Gemeinsamkeiten und gemeinsam zu führende Auseinandersetzungen produktiv befeuern. Dabei wäre wohl eine Orientierung an den Bewegungsformen lateinamerikanischer Linker durchaus angebracht, nicht zuletzt da sich dort seit Jahrzehnten religiöse und nicht religiöse Menschen im Rahmen sozialer Kämpfe und Organisationen gemeinsam bewegen. Es gibt jedenfalls noch viel zu tun - und keinen Grund, nicht damit anzufangen. Im Übrigen glaube ich an den Kommunismus.

E-Mail: martin.birkner@gmx.at


Ausgewählte Literatur:

Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt: Ein Kommentar zum Römerbrief, Suhrkamp 2006

Dirk Baecker: Kapitalismus als Religion, Kulturverlag Kadmos 2002

Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Suhrkamp 1965

Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, 3 Bände, Suhrkamp 1985

Ders.: Atheismus im Christentum, Suhrkamp 1968

Leonardo Boff: Kirche: Charisma und Macht. 25 Jahre Befreiungstheologie, Gütersloher Verlagshaus 2009

Leonardo und Clodovis Boff: Wie treibt man Theologie der Befreiung, Patmos Verlag 1986

Christoph Deutschmann: Die Verheißung absoluten Reichtums: Zur religiösen Natur des Kapitalismus, Campus 2001

Enrique Dussel: Ethik der Gemeinschaft. Die Befreiung in der Geschichte, Patmos Verlag 1995

Josef Hinkelammert: Der Fluch, der auf dem Gesetz lastet. Paulus von Tarsus und das kritische Denken, Edition Exodus 2011

John Holloway: Die zwei Zeiten der Revolution. Würde, Macht und die Politik der Zapatistas, turia + kant 2006

Sebastian Kalicha: Christlicher Anarchismus. Facetten einer libertären Strömung, Graswurzelrevolution i.E.

Sandra Lassak: Wir brauchen Land zum leben. Widerstand von Frauen in Brasilien und feministische Befreiungstheologie, Matthias-Grünewald-Verlag 2011

Michael Löwy: Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken, Kramer 1997

meroZones (Hg.): Urban Prayers. Neue religiöse Bewegungen in der globalen Stadt, Assoziation A 2011

Barbara Rauchwarter: Genug für alle: Biblische Ökonomie, Wieser 2012

Jacob Taubes: Abendländische Eschatologie. Mit einem Anhang, Matthes & Seitz 1991

Michael Walzer: Exodus und Revolution, Fischer 1995

María López Vigil / José Ignacio López Vigil: Ein anderer Gott ist möglich. 100 Interviews mit Jesus Christus, Inst. f. Theologie u. Politik, Münster 2010, download unter: http://www.itpol.de/wp-content/uploads/2010/08/ein-anderer-gott-ist-moeglich.pdf

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Anne Steckner:

Antonio Gramscis Auseinandersetzung mit Religion

im Spannungsfeld zwischen Unterwerfung und Widerständigkeit

Gramscis Religionsverständnis ist eine schillernde Kategorie. Sie berührt unterschiedliche Dimensionen, die sich über die gesamten Gefängnishefte verteilen. An verschiedenen Stellen finden sich kulturhistorische, analytische und politisch-strategische Aspekte mit jeweils unterschiedlichen Bezügen zueinander. In Gramscis Begriff von Religion finden sich Elemente von Rationalität ebenso wie irrationaler Aberglaube, Opium und Rebellion, Fatalismus und Utopie, widersprüchlich gelebte Alltagspraxis und allumfassendes Glaubenssystem. Seine religionskritischen Passagen erstrecken sich nicht nur auf Religion im konfessionellen Sinne, sondern ebenso auf quasi-religiöse, säkulare Formen fatalistischen oder herrschaftsaffirmativen Glaubens. Gramsci führt nämlich keine vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung mit den Grundlagen der biblischen (oder anderer) Religionen, sondern primär eine Form-orientierte, die sich in den Kontext seiner hegemonietheoretischen Ausführungen stellt (Schirmer 1995: 16). Im Fokus seiner religionsbezogenen Überlegungen steht die Rolle von Religion in den Kämpfen um Verschiebungen der Kräfteverhältnisse in unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen und Epochen. Insbesondere interessiert ihn Religion als ideologischer Bestandteil des Alltagsverstandes.

Rupe Simms (2010: 41ff.) zufolge betrachtet Gramsci die Religion ausschließlich als eine die gesellschaftlichen Verhältnisse mystifizierende, einer modernen Weltauffassung der Subalternen und ihrer Befreiung abträgliche Herrschaftsideologie. Zwar würdige Gramsci, so Simms, die protestantische Reformation durchaus als eine kulturelle Revolution, die politisch subversiv gewirkt und obendrein die bestehenden Klassenverhältnisse umgestürzt habe. Doch sei die Analyse dieser Entwicklungen wenig systematisch und nehme in Gramscis Werk vergleichsweise wenig Raum ein - im Vergleich zu seiner Auseinandersetzung mit Religion als Instrument der Unterdrückung. Auch nehme Gramsci weder die Substanz einer gegen die herrschenden Klassen gerichteten Theologie genauer in den Blick, noch diskutiere er die politischen Konsequenzen, die aus einer gegenhegemonial in Stellung gebrachten Religion resultieren können (ebd: 43f.). Letzteres wiederum ist zentraler Gegenstand von Simms' empirischer Arbeit über die subversive Kraft von Religion in popularen Befreiungsbewegungen.

An solcherart Einordnung von Gramscis religionsbezogenen Auseinandersetzungen übt Jan Rehmann (1991) deutliche Kritik: Ein dichotomes Verständnis von Gramsci setze entweder religiöse Weltanschauungen einem atheistischen Materialismus diametral entgegen. Oder destilliere, wohlwollend gelesen, aus einigen Passagen in Gramscis Gefängnisheften Religion als eine spirituell-politische Kraft für Subversion, Widerstand und Befreiung heraus. In Abgrenzung zu beiden Lesarten müsse jedoch, so Rehmann, die Frage anders gestellt werden: Um Gramscis Betrachtungen für die Weiterentwicklung einer materialistischen Religionstheorie fruchtbar zu machen, setzt Rehmann einen herrschaftskritischen "analytischen Schnitt" (Rehmann 1991: 182), der quer liegt zur oben genannter Dichotomie von Religion versus Materialismus. So ließe sich Gramscis Auseinandersetzung mit Religion übersetzen in eine Frage der Bedingungen von Handlungsfähigkeit der Beherrschten. Die eigentliche Problematik sei das spannungsreiche Verhältnis von Aktivierung einer popularen Bewegung gegenüber subalterner Passivität in Gestalt eines - religiös-konfessionell oder auch säkular oder gar atheistisch-marxistisch begründeten - Fatalismus. Es gelte, die Bedingungen gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit in den jeweiligen konkreten gesellschaftlichen Kräftekonstellationen zu analysieren, denn: "Befreiende und subaltern haltende Dimensionen können sich in der Empirie überlagern, und die gleiche 'religiöse' Formation kann sowohl unter dem Aspekt der 'passiven Revolution' als auch der 'intellektuellen und moralischen Reform' analysiert werden." (ebd.) In anderen Worten: Religion lässt sich mit Gramsci einerseits als Gegenbegriff zu gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit und Emanzipation der Subalternen begreifen. Aspekte wie gottesfürchtiger Fatalismus, hinnehmendes Durchhalten in den Verhältnissen oder duldsames Sich Fügen unter die Autorität, auch die Trost spendende Funktion von Religion kommen hier zum Tragen. Andererseits hat Religion auch prophetische Bezüge: Sie kann organisierendes Element einer Weltanschauung werden, welche die gegebenen Verhältnisse infrage stellt und auf "intellektuelle und moralische Reform" (H13, §1: 1540) von unten drängt. Damit rückt die Frage ins Blickfeld, inwiefern in einer konkreten Situation Religion von oben aufgegriffen wird und im Dienste der ideologischen Reproduktion und Stabilisierung von Herrschaftsverhältnissen steht, bzw. inwiefern sie Elemente einer popularen Kritik liefert. Eine so verstandene Religionskritik könne sich dann auf "die Einpassung [der Religion] in die ideologische Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse" konzentrieren (Rehmann 1991: 182). Sie sensibilisiert für die Produktion fatalistischer Haltungen und die Passivierung der Beherrschten durch Religion ebenso wie für widersprüchliche Situationen, "in denen der 'Seufzer der bedrängten Kreatur' [...] verschmilzt mit der Organisation ihrer Bedrängnis" (ebd.: 182f.). Das heißt auch, sich von jeglicher Vorstellung einer immanenten Essenz von Religion als an sich unterdrückerisch oder an sich befreiend (aber gefangen in den falschen Händen) zu verabschieden. Religion bewegt sich stets im Spannungsfeld von Herrschaft, restriktiver Handlungsfähigkeit innerhalb der bestehenden Ordnung und den diese Ordnung herausfordernden Praxen. In der folgenden Betrachtung unterschiedlicher Facetten von Gramscis Religionsverständnis wird also analytisch getrennt, was sich in der Empirie widersprüchlich überlagern kann: Religion unter dem Aspekt ihrer passivierenden, subaltern haltenden, herrschaftsstabilisierenden Funktion einerseits und unter dem Aspekt der Infragestellung des Bestehenden und der Aktivierung der Subalternen andererseits. In einem so aufgespannten Feld lassen sich aus den religionsbezogenen Überlegungen Gramscis verschiedene Dimensionen beleuchten, die das theoretische Geländer bilden für die Analyse der Rolle von Religion in einer konkreten gesellschaftlichen Kräftekonstellation.



1. Religion und Herrrschaft

Gramsci notiert sich die "Behauptung Guicciardinis, dass für das Leben eines Staates zwei Dinge absolut notwendig seien: die Waffen und die Religion" (H6, §87: 782) und schlägt vor, diese Behauptung in "verschiedene andere, weniger drastische Formeln" zu übersetzen: "Gewalt und Konsens, Zwang und Überzeugung, Staat und Kirche, politische Gesellschaft und Zivilgesellschaft, Politik und Moral [...]" (ebd.). Hier taucht Religion als Konsens stiftendes, auf Überzeugung setzendes, die Zustimmung der Beherrschten förderndes Moment im Ringen um kulturelle Hegemonie in der Zivilgesellschaft auf. Religion wird nicht auf der Seite der "Waffen", d.h. der Gewalt und der staatlichen Zwangsapparate angesiedelt, sondern im Feld der zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzungen lokalisiert. Zugleich schreibt Gramsci wenige Zeilen später, man habe mental nur deshalb das Mittelalter verlassen, "weil man die Religion offen als 'instrumentum regni' begreift und analysiert" (ebd.). Was im Mittelalter noch eine Einheit bildete (Religion und Herrschaft), wird im Zuge der Aufklärung legitimationsbedürftig. Sofern Religion in der Moderne erfolgreich die Aufgabe erfüllt, in nicht (offen) gewaltvoller Weise und als Gegenpart zur Sprache der Waffen die Zustimmung der Subalternen zu ihrer Unterwerfung unter ausbeuterische Verhältnisse zu organisieren, trägt sie zur Passivierung der Massen und ihrer herrschaftskompatiblen Handlungsfähigkeit bei. Was die repressive Seite des Staates gegebenenfalls nicht zu erreichen vermag - Gehorsam, Besänftigung, Eintracht, Legitimation oder Zerstreuung - kann über die Indienstnahme der Religion zum Zwecke der Stabilisierung von Herrschaft erreicht werden. Kollektive religiöse Alltagspraktiken, staatlich oder kirchlich organisierte Festlichkeiten und Massenveranstaltungen, gottgefällige Vorschriften und politische Stellungnahmen der Kirche können diesem Zwecke dienlich sein. Das ist besonders in den frommen Teilen der Bevölkerung erfolgversprechend. Gramsci thematisiert bspw., dass der faschistische italienische Staat sich der Religion bediente, um seine hochgradig repressive Ordnung mit einer in tradierten Kulturbeständen und im Alltagsverstand verankerten Legitimation zu versehen. Als historisch überlieferte, kulturell verankerte Kraft und moralische Referenz für gesellschaftlich sanktioniertes Verhalten kann Religion auch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung im Alltagsleben vieler nicht-gläubiger Menschen haben.

Religion als ein die Anpassungsleistungen belohnendes und Abweichung sanktionierendes Herrschaftsinstrument findet sich auch in Gramscis Fordismus-Studien. Gramsci untersucht im Kontext der Umbrüche in der industriellen Produktion zu Anfang des 20. Jahrhunderts die disziplinierende Funktion der von den Industriellen ins Feld geführten puritanischen Initiativen: Prohibition, Enthaltsamkeit von 'ausschweifender' Lebensführung und Kontrolle des Sexualmoral der Lohnabhängigen zum Zweck ihrer psycho-physischen Anpassung an eine sich neu durchsetzende Produktions- und Lebensweise, den "Amerikanismus". Die aufmerksame und verlässliche Bedienung von Maschinen in komplex abgestufter und routineförmiger Arbeitsteilung, eingebettet in einen reglementierten Arbeitstag, erfordert eine entsprechend belastbare körperliche Konstitution, nervliche Energien und mentale Disziplinierung. Gramsci spricht von der Schaffung eines "neuen Menschentypus" (H22, §3: 2069), der weder beim Alkoholkonsum noch in sexueller Hinsicht ein ausschweifendes, unreglementiertes, die produktiven Lebensenergien 'sinnlos' bindendes und von der regelmäßigen Arbeit ablenkendes Leben führen soll. Vor allem am Beispiel Henry Fords[2] analysiert Gramsci die Indienstnahme des Puritanismus zur Überwachung der Arbeiter durch die Bourgeoisie, deren eigene Alltagspraxis sich wenig um die von ihr vorangetriebenen Verbote schert. Während das Bürgertum (vor allem die Männer) bspw. über Saison-Ehen eine ausschweifendere Sexualität leben und über entsprechende Zahlungskraft die Prohibition umgehen kann (H4, §52: 532), liefert ihm der Verweis auf die puritanische Religion eine sittliche Legitimation für den "Inspektionsdienst zur Kontrolle der 'Moralität' der Arbeiter" (H22, §11: 2086). Gramsci ist beeindruckt davon, "wie die Industriellen (besonders Ford) sich für die Sexualbeziehungen ihrer Belegschaften und überhaupt für die allgemeine Systematisierung ihrer Familien interessiert haben" (H22, §3: 2073), wobei sich ihr paternalistisches Interesse in puritanische Anstands- und Moraldiskurse kleidet. Das Moment der Verallgemeinerung der puritanischen Kampagnen bspw. gegen den Alkoholkonsum manifestiert sich darin, dass diese - zunächst privaten - Initiativen in Gestalt der gesetzlich sanktionierten Prohibition schließlich "zur Staatsfunktion" (H4, §52: 530) werden. Indem diese erzieherischen Maßnahmen "im traditionellen Puritanismus verwurzeln" (ebd.), entwickeln sie sich zu verallgemeinerter staatlicher Ideologie, die den "psycho-physischen Transformationsprozess" (H22, §13: 2094) der Lohnabhängigen religiös einbettet. Bernhard Walpen (1998) zitiert aus einer Gramscis Fordismus-Analysen zugrunde liegenden Feldforschung des Sozialisten André Philipp über die Situation der Arbeiter in den USA, in der Philipps Beobachtungen über die von den amerikanischen Industriellen vorangetriebene Artikulation von Ökonomie, Religion und Moral in dem Satz kulminieren: "Gott ist also nunmehr ein fordisierter Arbeiter, der die zur Herrschaft des Kapitals notwendigen Tugenden serienmäßig herstellt." (Walpen 1998:21)

Übersetzt in die Frage der Handlungsfähigkeit der Subalternen ließe sich anschließend an Gramsci der Blick darauf richten, wie die puritanischen Kampagnen im Zuge der Durchsetzung des Fordismus als neuer Arbeits- und Produktionsweise die Lebensverhältnisse der Lohnabhängigen von oben umgestaltet haben und zugleich von unten aufgenommen und angeeignet wurden. Dass bspw. die auf Haushalt und Kinderaufzucht zurückgeworfenen Ehefrauen der Arbeiter einer religiösen Legitimation von Monogamie und Alkoholabstinenz einiges abgewinnen konnten oder dass die oktroyierte sittliche Lebensweise dank vergleichsweise hoher Löhne mit einem bislang ungekannten Lebensstandard einherging, eröffnete neue Formen restriktiver Handlungsfähigkeit: gesellschaftliche Teilhabe über Konsum, kleinfamiliäre Absicherung, Kontrolle über die eigene Lebensgestaltung in moralisch reglementiertem Rahmen. Insofern lassen sich die religiös legitimierten Anstrengungen des Bürgertums in der Umgestaltung des Kapitalismus nicht auf die Ausübung von Zwang auf die Lohnabhängigen reduzieren. Zu ihrer erfolgreichen Verallgemeinerung bedarf es ebenso der verinnerlichten Gewohnheit und aktiven Aneignung der neuen Lebensweise durch die Beherrschten. Doch Zustimmung von unten ist nichts Selbstverständliches, sie will organisiert sein.


2. Religion, Institution Kirche und Organisierung der Subalternen

Gramscis ausführliche Auseinandersetzung mit Religion und Praxis der katholischen Kirche Italiens interessiert sich für deren allumfassende Weltanschauung und organisierende Kraft. Unterschiedliche Passagen der Gefängnishefte kreisen um den Katholizismus als (beanspruchte) gesellschaftliche Totalität, die keine partikularen Ideologien duldet, und dessen Institutionen und Autoritäten viel Mühe darin investieren, mögliche Spaltungen zwischen Klerus, Intellektuellen und Volk zu verhindern: "Die Stärke der Religionen und besonders der katholischen Kirche bestand und besteht darin, dass sie die Notwendigkeit der doktrinären Vereinigung der gesamten 'religiösen' Masse aufs lebhafteste spüren und dafür kämpfen, dass die intellektuell höheren Schichten sich nicht von den niederen ablösen." (H11, §12: 1380) Das erfordert die entsprechende Fähigkeit der geistlichen Intellektuellen, eine kollektiv erfahrbare Verbindung unter den Gläubigen herzustellen und die Universalisierung der eigenen Weltauffassung auch in anderen Gesellschaftsbereichen (Wissenschaft, Kunst, Bildung etc.) voranzutreiben. Wenngleich Gramscis analytische Fähigkeit, hegemoniale Stärken auch beim Gegner nüchtern zu analysieren, zunächst befremden mag - wenig verwundert, dass er sich maßgeblich für die Momente interessiert, in denen die ideologische Einbindung unterschiedlicher Gruppen nicht gelingt oder das Band zwischen 'oben' und 'unten' zu reißen droht. Die alltäglichen Formen der Religiosität sind in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen verschieden, oft eine synkretische Ansammlung disparater Glaubenselemente, insofern Klassenverhältnisse die lebenspraktische Aneignung von Religion durchziehen: Da die "Popularreligion [...] krass materialistisch" (H4, §3: 462) sei, d.h. der Bewältigung der aus ungleichen materiellen Lebensverhältnissen erwachsenden Anforderungen verpflichtet, sei die "offizielle Religion" der geistigen Eliten bemüht, diesen Verhältnissen entsprechend "sich nicht von den Massen zu lösen, um nicht zur Ideologie begrenzter Gruppen zu werden" (ebd.). Gramsci thematisiert Religion als eine "totale Praxis" (Simms 2010: 41) - nicht insofern sie die Beherrschten total vereinnahmt (das tut sie auch), sondern indem es ihr über lange Perioden gelingt, integraler Bestandteil und Grundlage einer gesellschaftlichen Totalität zu sein.

Doch die organisierende Kraft durch die Kirche unterliegt geschichtlichen Veränderungen. In den kulturhistorischen Fragmenten über die gesellschaftlichen Umbrüche seit dem Mittelalter betont Gramsci, die katholische Kirche sei besonders erpicht darauf gewesen zu verhindern, "dass sich 'offiziell' zwei Religionen bilden" (H11, §12: 1380). In diesem Kampf habe die Kirche einiges an Bindekraft eingebüßt - Produkt eines Prozesses, "der die gesamte Zivilgesellschaft umgestaltet und der en bloc eine zersetzende Kritik der Religionen enthält" (ebd.). Dieser geschichtliche Prozess spiegelt die tiefgreifenden sozialen Veränderungen im Zuge der Aufklärung wider. Gramsci übersetzt die damit einhergehende Frage nach der Bedeutung der Religion in der Moderne in eine Frage der Organisierung der Gemeinschaft der Gläubigen durch um Führung ringende, zivilgesellschaftliche Gruppen. Solange vom Mittelalter bis in die Renaissance "die Religion der Konsens" und "die Kirche [...] die Zivilgesellschaft" (H6, §87: 782) waren, d.h. die herrschenden Eliten die Kirche als ihre "eigene kulturelle und intellektuelle Organisation" (ebd.) betrachteten, stellte sich diese Frage der erfolgreichen (oder weniger erfolgreichen) Organisierung nicht. Religion ging in der gesellschaftlichen Totalität auf.

Erst im Zuge von Reformation und Aufklärung muss die Kirche sich zunehmend der Herausforderung stellen, disparate gesellschaftliche Kräfte zu vereinigen und widerständige Bewegungen in ihre Gemeinschaft zu reabsorbieren. Gramsci interessiert sich besonders für den Umgang der Kirche mit Dynamiken gesellschaftlichen Wandels, die sie nicht unter Kontrolle hat. Da vieles "im Katholizismus in Veränderung begriffen" (H14, §26) sei, zeige sich der Klerus beunruhigt darüber, dass es ihm nicht mehr gelingt, "diese molekularen Transformationen zu kontrollieren" (H14, §26: 1652). Eine erstarkende Laien-Bewegung innerhalb des italienischen Katholizismus trägt einen neuen "Geist" in die Kirche. Gramscis Interesse gilt insbesondere den popularen religiösen Kräften innerhalb dieser Laien-Bewegung, deren Aufkommen Ausdruck unüberbrückbarer Widersprüche war und einen Bruch innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen markierte. Dieser Bruch konnte nur geheilt werden, so Gramsci, indem erstens die Kirche ihre Intellektuellen eisern disziplinierte und indem sich zweitens neue, durch starke Massenbewegungen getragene religiöse Bettelorden wie die Dominikaner oder Franziskaner herausbildeten (H11, §12: 1383). Diesen Orden gelang es, zentrifugale populare Kräfte wieder an die Kirche zu binden und eine "neue religiöse Einheit" (H11, §12: 1383) zu begründen. Mit der Gegenreformation kam diese Dynamik allerdings zum erneuten Stillstand. Das Aufkommen eines Ordens wie die Gesellschaft Jesu, "reaktionären und autoritären Ursprungs" (ebd.), betrachtet Gramsci als exemplarischen Ausdruck der "Erstarrung des katholischen Organismus" (ebd.), dessen disziplinarischer Charakter nun wieder stärker in den Vordergrund rücke. Eine autoritär erstarrte und unbewegliche Religion setze keine gesellschaftlichen Erneuerungskräfte mehr in Bewegung. Diese Erstarrung zeige sich exemplarisch im geringen Erfolg der religiösen Popularliteratur: "Diese katholische Literatur verströmt den Schweiß jesuitischer Apologetik wie der Moschusbock und langweilt mit ihrer kruden Dürftigkeit." (H21, §5: 2046)

Bereits mit dem Erstarken der mittelalterlichen Handelsstädte, spätestens aber im Zuge der bürgerlichen Revolution von 1848 schwindet die übergreifende Funktion des Katholizismus gegenüber anderen Ideologien: Als Philosophie, als politisches Programm und als Lebensauffassung tritt der bürgerlich-atheistische Liberalismus im Kampf gegen den Absolutheitsanspruch der Religion siegreich hervor (H1, §38: 88). Die Kirche übt nicht mehr das "Monopol der kulturellen Führung" (H12, §1: 1507) aus, ihre Religion ist "keine globale ideologische Kraft mehr" (H20, §2: 2016). Insofern Kirche nur noch eine untergeordnete Kraft neben anderen ist, "'muss' die Religion eine eigene Partei haben [...]" (H1, §38: 88). Der Katholizismus wird "von einer totalitären Auffassung der Welt zu einem bloßen Teil derselben" (H1, §139: 183), zu einer partikularen Ideologie. Ihre Parteiwerdung geschieht in Gestalt der katholischen Volkspartei Partito Populare Italiano (PPI). Der PPI entstand nicht auf Initiative des Klerus. Seine Gründung wurde maßgeblich von katholischen Laienbewegungen und lokalen Organisationen getragen, die sich, mit weltlichen Fragen des (Über-)Lebens konfrontiert, um mehr Repräsentanz im politischen Leben bemühten. Die Partei setzte sich keineswegs nur aus Bauern, Angestellten und kleinen Pächtern zusammen, sondern war eine klassenübergreifende Partei vorwiegend ländlich geprägter Katholiken, auch der Großgrundbesitzer, alteingesessenen Aristokratie, mittleren Berufsständen sowie eines linken Flügels der ländlichen Arbeiterbewegung. Die Anhänger des PPI spalteten sich in den 1920er Jahren, ein Flügel wechselte zur sozialistischen Partei, der andere wurde Anhänger der Faschisten um Mussolini (vgl. Fulton 1987: 212).

Gramscis Auseinandersetzung mit den historisch je spezifischen Bemühungen des italienischen Katholizismus, sich als gesellschaftliche Kraft zu reorganisieren, zeigt: Religion ist nichts Statisches, Überhistorisches, mit einer metaphysischen Essenz Ausgestattetes. Sie "wandelt sich molekular" (H7, §1: 861) innerhalb der sich durchsetzenden gesellschaftlichen Veränderungsprozesse. Modernes Gedankengut wird partiell absorbiert und gemäß den eigenen Zwecken umgearbeitet, z.B. durch die Zulassung katholischer Arbeitervereine und die Etablierung von landwirtschaftlichen Kooperativen, Zeitungen, Clubs und Schulen (vgl. Pozzolini 1970: 129; Fulton 1987: 212). Exemplarisch für die religiöse Erneuerung innerhalb des Katholizismus beschäftigt sich Gramsci immer wieder mit der Azione Cattólica (AC), die im Sinne der katholischen Soziallehre Kirche und Gesellschaft mitgestalten will. Diese reformorientierte Laienbewegung ist die "Reaktion auf den Glaubensabfall ganzer Massen", auf die "massenhafte Überwindung der religiösen Weltauffassung" (H1, §139: 183). Als organisches Bindeglied zwischen Klerus und Laien mit kirchenrechtlichem Status wird die AC exemplarisch für den Versuch einer zivilgesellschaftlichen Erneuerungsbewegung thematisiert, die Einheit von Kirche, Intellektuellen und "den Einfachen" wiederherzustellen - teilweise mit Mitteln gewaltförmiger Integration.

Diese Erneuerung hat klare Grenzen, sobald das innerkirchliche kritische Aufbegehren der Laien die Fundamente der gesellschaftlichen Ordnung berührt. In der Jesuiten-Zeitschrift Civiltà Cattólica wird gar befürchtet, ein wichtiges Herrschaftsinstrument einzubüßen, sollte die "religiöse Einheit des Vaterlandes" untergraben werden: "[...] 'lehrt man den Aufstand gegen die Kirche, indem man sie als einfache menschliche Gesellschaft darstellt, die sich Rechte anmaßen würde, die sie nicht hat, dann trifft man indirekt auch die Zivilgesellschaft, und die Menschen beginnen jeglichem Joch gegenüber unduldsam zu werden. Denn sobald das Joch Gottes und der Kirche abgeworfen ist, welches andere wird sich finden, das den Menschen zügeln und ihn zur harten Pflicht des täglichen Lebens zwingen könnte?'" (H8, §15: 951) Derartige Aussagen waren Gramscis Einschätzung nach in der Civiltà Cattolica häufiger zu lesen. Die Sorgen der Jesuiten stellt er in den Kontext des unermüdlichen Bemühens der katholischen Kirche, das klassenübergreifend einigende Band zwischen Herrschenden und Beherrschten immer wieder neu zu knüpfen.

Einen solchen Versuch des Bündnisses zwischen Intellektuellen und Subalternen haben die Philosophen des italienischen Idealismus, so Gramscis Kritik, weder unternommen noch angestrebt. Mit ihrer Kritik an göttlichen Transzendenz-Vorstellungen seien sie der Religiosität in breiten Teilen der Bevölkerung gegenüber gleichgültig, lebensweltfern und elitär geblieben, statt sich mit der tief verwurzelten Popularreligion kritisch auseinanderzusetzen. Eine ihrer "größten Schwächen" bestünde darin, dass sie es nicht verstanden hätten, "eine ideologische Einheit zwischen dem Unten und dem Oben zu schaffen, zwischen den 'Einfachen' und den Intellektuellen." Dass der Idealismus sich "den kulturellen Bewegungen des 'Zum-Volke-Gehens' abgeneigt gezeigt" (H11, §12: 1381) habe, reduzierte die Auseinandersetzung mit Religion auf ein akademisches Schattengefecht ohne Bezug zum Alltagsverstand derjenigen, denen Religion Trostspender und rationale Orientierung im täglichen (Über-)Leben war. Auch den der Religion gegenüber aufgeschlossenen Philosophen sei es nicht gelungen, Religion als ein "Element des Zusammenhalts zwischen dem Volk und den Intellektuellen" (H9, §55: 1116) für gesellschaftliche Veränderungen kritisch aufzugreifen. Die Distanz zwischen der Welt der bürgerlichen Intellektuellen und dem Alltagsleben der lohnabhängigen Massen sei schlicht zu groß gewesen (H3, §63: 383ff.).

Gramscis Überlegungen stehen unter dem zeithistorischen Eindruck des katastrophalen Scheiterns der proletarischen Kräfte und der Hilflosigkeit der liberalen bürgerlichen Ideologie gegenüber dem italienischen Faschismus. Zugleich weiß er, dass "[...] das religiöse Band, in normalen Zeiten gelockert, kräftiger und aufnahmefähiger wird in Zeiten großer moralisch-politischer Krisen, wenn die Zukunft voll von Sturmwolken erscheint" (H1, §48: 124). Krisenhafter Umbruch, Religiosität und drohende Barbarei sind Bestandteile seiner Analyse der besonderen geschichtlichen Situation. Angesichts der Zersplitterung der Arbeiterklasse treibt ihn die Frage um, wie ein Bündnis zwischen unterschiedlichen Gruppen von Subalternen und progressiven Intellektuellen im Dienste einer befreienden Philosophie der Praxis geschmiedet und auf Dauer gestellt werden kann, d.h. in Krisenmomenten belastbar bleibt. Zwar orientiert sich Gramsci an den erzieherischen Methoden der katholischen Kirche und ihren Versuchen, dieses Band immer wieder neu zu knüpfen. Doch verbindet er mit der Organisierung der Subalternen eine völlig gegensätzliche Zielsetzung. Auch in der Art und Weise, wie die Führenden ihr Verhältnis zu den Massen gestalten, unterscheiden Gramscis Überlegungen sich fundamental von denen der Kirche und der bürgerlichen Intellektuellen wie Croce und Gentile. Während der Katholizismus die Massen in duldsamer Passivität, ritualisierter Gefolgschaft und gläubiger (d.h. nicht überzeugter) Abhängigkeit hält, kann der Idealismus zwar die Vorstellung einer göttlichen Transzendenz und Lenkung kritisieren, aber in den breiten Massen nicht Fuß fassen. Letzterer bleibt elitär, weil er die gesellschaftlichen Bedingungen nicht reflektiert, unter denen Gottlosigkeit, radikale Immanenz und Freiheit für die Subalternen als eine wirklich befreiende Praxis erfahrbar werden kann. Die Philosophie der Praxis indes will die passivierten Massen aktivieren und in diesem Prozess der Aktivierung ihren religiös durchdrungenen Alltagsverstand kritisch ausarbeiten, d.h. den bizarr zusammengesetzten, unreflektierten, intuitiven Glauben zu einem kritischen Bewusstsein erziehen. Es gilt also, Gramscis interessierte Beobachtungen am Katholizismus Italiens zusammenzulesen mit seiner Einschätzung, dass die Religion diesen Zusammenhalt mit dem Interesse praktiziert, die Intellektuellen zu disziplinieren und die Subalternen subaltern zu halten: Folglich "[...] darf man die Haltung der Philosophie der Praxis nicht mit der des Katholizismus durcheinanderbringen. Während jene einen dynamischen Kontakt unterhält und bestrebt ist, fortwährend neue Schichten der Massen zu einem höheren kulturellen Leben emporzuheben, ist diese bestrebt, einen rein mechanischen Kontakt aufrechtzuerhalten, eine äußerliche Einheit, die besonders auf der Liturgie und den Kult gründet, der spektakulärer suggestiv auf die großen Massen wirkt." (H16, §9: 1813). Statt dass die Subalternen in süßem Weihrauch eingelullt das irdische Dasein ertragen, geht es Gramsci um einen wechselseitigen und gemeinsamen Lernprozess mit dem Ziel der kollektiven Emanzipation aus den "geistlosen Zuständen" (Marx). Dabei erscheint ihm wichtig, dass die führend und organisierend Tätigen "bei der Arbeit der Ausbildung eines dem Alltagsverstand überlegenen und wissenschaftlich kohärenten Denkens niemals verg[e]ss[en], mit den 'Einfachen' in Kontakt zu bleiben" (H11, §12: 1381). Dies tun sie nicht im Sinne eines Anbiederns an die Massen oder einer Heroisierung der Unterdrückten, auch nicht als der Bewegung äußerliche "Folklore-Forscher" (H11, §67: 1490), sondern mit dem Ziel, "gerade in diesem Kontakt die Quelle der zu untersuchenden und zu lösenden Probleme" (H11, §12: 1381) zu entdecken. Gramscis Bedingung für eine kritische, befreiende Auseinandersetzung der Intellektuellen mit den religiösen Ablagerungen im Alltagsverstand ist klar: "Nur durch diesen Kontakt wird eine Philosophie 'geschichtlich', reinigt sie sich von den intellektualistischen Elementen individueller Art und wird 'Leben'." (H11, §12: 1381)


3. Religion und gesellschaftliche Transformation

Wenngleich Gramsci den idealistischen Philosophen in der Tradition Benedetto Croces intellektuelle Elfenbeinturm-Akrobatik vorwirft, so stellt er zugleich fest, dass auch Croce sich für die gesellschaftlichen Bedingungen von Befreiung interessierte und der Religion darin einige Aufmerksamkeit widmete. Anschließend an Marx' Thesen über Feuerbach wirft Croce die Frage auf, ob es möglich sei, religiöse Weltauffassungen zu überwinden, ohne augenblicklich für Ersatz zu sorgen, für eine substituierende 'Droge'. Seine Antwort ist eindeutig: Man könne, so Croce, "die Religion dem Mann aus dem Volk nicht entreißen, ohne sie sogleich durch etwas zu ersetzen, das dieselben Bedürfnisse befriedigt, durch welche die Religion sich gebildet hat und noch fortbesteht" (H7, §1: 860; H10.II, §41.I: 1303). Gramsci scheint diese Frage sehr zu beschäftigten, da er Croce hierzu an mehreren Stellen der Gefängnishefte zitiert. "Es ist etwas Wahres an dieser Aussage, aber ist sie nicht auch ein Eingeständnis der Unfähigkeit der idealistischen Philosophie, eine integrale Weltauffassung zu werden?" (ebd.) Worin besteht diese Unfähigkeit? Croce bleibt Gramsci zufolge an dem Punkt stehen, wo es gilt, die den herrschenden Verhältnissen geschuldeten Bedürfnisse der Subalternen ersatzweise durch etwas anderes als Religion zu befriedigen. Dieses Andere mag zwar weniger 'borniert' und 'rückständig' sein, rüttelt aber nicht an den gesellschaftlichen Bedingungen, welche die Religion in ihren Funktionen als Herrschaftsinstrument, Trostspender, Lebenspraxis oder Alltagsrationalität überhaupt erst notwendig machen. Außerdem begnügten sich (der 'spätere', weniger religionskritische) Croce und Gentile auf scheinheilige Weise damit, "den alten Grundsatz wieder hervorzuholen, wonach die Religion notwendig fürs Volk ist" (H10.II, §41.I: 1304). Gemäß Croce, der sich in seiner kurzen Zeit als Minister für Unterrichtswesen der Regierung Giolitti für den obligatorischen Religionsunterricht an den Schulen stark machte, braucht das Volk die Religion, während Croces Atheismus, so Gramsci ironisch-spitz, "einer von Herren" sei (H10.II, §41.IV: 1311), den die gebildete Kulturaristokratie sich leisten kann. Diese paternalistischen Einstellung - Aufklärung und Philosophie für die Elite, Folklore und Religion fürs Volk - wird von Gramsci scharf kritisiert. Seine Kritik gilt ebenso dem Philosophen Gentile, Bildungsminister in Mussolinis erstem Kabinett. Dieser führte eine nach ihm selbst benannte Schul- und Hochschulreform durch, in deren Folge Religion als reguläres Fach an den Grundschulen wieder eingeführt wurde (vgl. H7, §1: 860; H8, §200: 1054; H10.II, §41.I: 1304). Diese Einführung, schreibt Gramsci, "besitzt tatsächlich ihre Entsprechung in der Auffassung von der 'gut fürs Volk seienden Religion' (Volk = Kind = zurückgebliebene Geschichtsepoche, der die Religion entspricht usw.), das heißt im Verzicht auf die Erziehung des Volkes usw." (H8, §200: 1054) In dieser klaren Formulierung wird Gramscis Abgrenzung vom laizistisch verbrämten Paternalismus deutlich. Statt junge Menschen mit dem Kanon religiöser Erziehung zu beglücken, wäre die Bedeutung von Religion in einer herrschaftsförmigen Gesellschaft ernst zu nehmen, um religiöse Weltauffassungen kritisch auszuarbeiten und in einem kollektiven Lernprozess mit dem "Geist der Abspaltung" (H3, §49: 374) anzureichern. Allerdings hätten die von Gramsci kritisierten Philosophen noch nicht einmal versucht, "eine Auffassung zu konstruieren, welche die Religion in der Kindererziehung ablösen könnte" (H11, §12: 1380). In diesem offensichtlichen Verzicht auf eine die Massen aktivierende, sie zu (Selbst-)Kritik erziehende Philosophie offenbare sich der herrschaftskonforme Paternalismus von Croce und Gentile. Statt der Religion etwas Progressives entgegenzusetzen, wird die Bevölkerung zum unselbständigen Kind, zum Erziehungsobjekt degradiert.

Anders als Croce und Gentile treibt Gramsci die Frage um, wie die Philosophie der Praxis einen produktiv-kritischen Umgang mit Religion als Massenphänomen im Prozess gesellschaftlicher Transformation bewerkstelligen kann. Anschließend an das von Croce formulierte Problem - "dass man die Religion nicht zerstören darf, wenn man nichts hat, um sie in der Seele der Menschen zu ersetzen" (H8, §155: 1029) - wirft Gramsci die Frage auf: "Aber wie schafft man es zu verstehen, wann eine Ersetzung vollzogen ist und das Alte zerstört werden kann?" (ebd.) Dieser Punkt ist ihm infolge seiner langjährigen Erfahrungen sowohl mit der ländlichen Bevölkerung Sardiniens, den Bauern des Mezzogiorno als auch mit den Turiner Arbeitern so wichtig. In der Bevölkerung Italiens habe sich keine der Reformation vergleichbare liberale Idee durchschlagend verankern können, kein Humanismus, der den Katholizismus hätte ersetzen können. Daher befände sich die Religiosität der breiten Bevölkerung in einem "elenden Zustand von Gleichgültigkeit und Fehlen geistigen Lebens" (H3, §63: 385). Die Popularreligion habe sich mit der "heidnischen Folklore" (ebd.) verbunden und sei in diesem Stadium verkrustet: "Die Religion verharrt im Zustand des Aberglaubens, doch ist sie auf Grund der Ohnmacht der laizistischen Intellektuellen nicht durch eine neue laizistische und humanistische Moral ersetzt worden." (H21, §5: 2046) Die Philosophie der Praxis steht daher vor der großen Herausforderung, den "gesunden Kern" (H11, §12: 1379) der verkrusteten Popularreligion[3] freizulegen, kritisch aufzugreifen und in eine neue, radikal andere Weltauffassung und Praxis zu integrieren. Es gehe darum, so Gramsci, die folkloristischen und religiösen Elemente des Alltagsverstandes nicht einfach zu verurteilen, sondern - mit dem Ziel der Überwindung der herrschaftsstabilisierenden, passivierenden und sedierenden Wirkung von Religion -"anfangs abergläubische und primitive Formen wie die der mythologischen Religion" anzunehmen und dann kraft der Intellektuellen, "die das Volk aus sich hervorbringt, die Elemente [zu] finden, um diese primitive Phase zu überwinden" (H10.II, §41 I: 1304). Die Kritik an der Religion folgt der Einsicht, dass alle Menschen Philosophen sind und der bizarr zusammengesetzte Alltagsverstand neben reaktionären Elementen auch kritisches Neuerungspotential birgt. So verstanden erwächst die Philosophie der Praxis nicht nur aus den gesellschaftlichen Widersprüchen, bspw. auf dem Terrain der Religion. Sie ist vielmehr die "Theorie dieser Widersprüche selbst" (H10.II, §41.XII: 1325).

Diese Widersprüche im Blick geht Gramsci an wenigen Stellen der Gefängnishefte auch auf die Gesellschaft transformierende, vorantreibende, potentiell subversive Kraft von Religion ein. Er spricht anerkennend vom Urchristentum und von den religiösen Volksbewegungen des Mittelalters (H6, §78: 769f.). Besonders würdigt er die Ketzerbewegung: "Viele ketzerische Versuche waren Äußerungen popularer Kräfte, die Kirche zu reformieren und dem Volk anzunähern, das Volk aufrichtend." (H16, §9: 1813) Die lutherische Reformation und den Kalvinismus betrachtet er ebenso als Katalysatoren und Wegbereiter umfassender gesellschaftlicher Transformationen. Die von ihnen hervorgebrachte "breite national-populare Bewegung" habe sich zu einer "höheren Kultur" (H16, §9: 1811) entwickelt, die "populare Inkubation der Reformation" gar die "soliden Grundlagen des modernen Staates in den protestantischen Nationen geschaffen" (H4, §3: 461). Bei aller Anerkennung der ins Feld geführten religiös inspirierten Impulse fällt Gramsci jedoch nicht in verherrlichende Begeisterung für die Religion. Wenn es um den Umsturz der bestehenden Ordnung durch die subalternen Klassen geht, fällt seine historische Bewertung der Französischen Revolution weit positiver aus. Die durch die Französische Revolution angestoßene "intellektuelle und moralische Reform" bezeichnetet er als "vollständiger als die lutheranische in Deutschland, weil sie auch die großen bäuerlichen Massen auf dem Land erfasste, weil sie eine ausgesprochen laizistische Grundlage hatte und versuchte, die Religion durch eine vollständig laizistische Ideologie in Gestalt der nationalen und patriotischen Bindung zu ersetzen" (H16, §9: 1811).

Gramscis bleibt nicht bei den Errungenschaften von 1789 stehen, sondern will die Emanzipation der "niedergehaltenen Schichten" (H13, §1: 1540) in der gegenwärtigen Gesellschaft vorantreiben. Die "zivile Hebung" dieser Schichten im Prozess einer umfassenden Revolutionierung der Verhältnisse sei jedoch "ohne eine vorausgehende ökonomische Reform" unmöglich (ebd.). Gramscis Verknüpfung dieser Prämisse mit den religiösen Ablagerungen im Alltagsverstand großer Teile der Bevölkerung, denen man die Religion nicht entreißen kann, ohne dass etwas qualitativ Neues an ihre Stelle tritt, führt ihn zu folgender strategischer Forderung: "Man muss deshalb den Typus des 'katholischen Radikalen' schaffen, also des 'Popolare', man muss rückhaltlos die Republik und die Demokratie akzeptieren und auf diesem Terrain die bäuerlichen Massen organisieren, indem man den Zwiespalt zwischen Religion und Politik überwindet, indem man aus dem Priester nicht nur den geistlichen Führer (im privat-individuellen Bereich), sondern auch den sozialen Führer im politisch-ökonomischen Bereich macht." (H13, §37: 1617) Diese Forderung mag befremden: Soll im Kampf um ein emanzipatorisches Gesellschaftsprojekt tatsächlich der geistliche Priester zum sozialen Führer erkoren werden? Tatsächlich bleibt ungeklärt, was sich Gramsci unter dieser Art der Führung genau vorstellte, wenngleich er an anderen Stellen (H11, §67; H15, §4) darauf eingeht, was Führung und Organisierung mit dem Ziel der (Selbst-)Befreiung der Subalternen von der Führung durch die Herrschenden unterscheidet. Die bei Gramsci zuweilen anzutreffende Überpolitisierung der Religion zum Zwecke der Überwindung des Zwiespalts zwischen Religion und Politik ist kontextuell nachzuvollziehen: Religion und eine auf Überwindung von Ausbeutung und Unterdrückung zielende Politik auf diese Weise zusammenzudenken, macht in Gramscis Zeit die besondere Wendung seiner Überlegungen aus - schließlich konnte er bspw. die religiösen Befreiungsbewegungen Lateinamerikas noch nicht kennen, ebenso wie er die faschistische Gleichschaltung des Religiösen noch nicht gründlich reflektieren konnte. Wenngleich diese Forderung aus dem heutigen Wissen und den historischen Erfahrungen heraus nicht ungebrochen übernommen werden kann, so lässt Gramscis daran gekoppelte politisch-strategische Forderung, "rückhaltlos die Republik und die Demokratie akzeptieren", erahnen, welch kompromissloser Auseinandersetzung Religion und ihre Träger sich auf dem Terrain der Kämpfe unterziehen müssten. Und "katholische Radikale", die vor weltlicher Parteinahme zugunsten der Entrechteten und Geknechteten im "politisch-ökonomischen Bereich" nicht zurückschreckten, hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. In Artikulation mit einer die Fundamente berührenden Gesellschaftskritik lassen sich, so Gramscis Hoffnung, die prophetischen Bezüge von Religion als die "kolossalste Utopie, [...] die in der Geschichte erschienen ist" (H11, §62: 1475) von links aufgreifen und radikalisieren. Das in der Religion aufgehobene, aber uneingelöste Versprechen von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verweist darauf, dass Religion nicht nur ein Herrschsaftsinstrument, sondern potentiell auch "der großartigste Versuch ist, in mythologischer Form die wirklichen Widersprüche des geschichtlichen Lebens zu versöhnen" (ebd.). Gramsci will nicht versöhnen, er will aus der Dynamik der "wirklichen Widersprüchen" die Kraft zur Überwindung eben dieser hochgradig widersprüchlichen Ordnung schöpfen. Wenn Religion, eingebunden in ein progressives gesellschaftliches Projekt, auch Elemente einer popularen Kritik liefert, die den Gott der Unterdrückten vom Gott der Privilegierten zu unterscheiden weiß, dann kann sie zum kollektiven Vehikel für die Sehnsucht nach Veränderung werden - in welche Richtung, ist damit nicht zwangsläufig ausgemacht, sondern hängt von den jeweiligen historisch konkreten Bedingungen, d.h. von gesellschaftlichen Kräftekonstellationen und politischen Kämpfen ab. Religion hat kein ahistorisches Wesen, sie bleibt umkämpft. Gelingt es der gesellschaftlichen Partei als Ort kollektiver Organisierung der Subalternen, Religion als ein Element des zusammenhangslosen Alltagsverstandes mit der Perspektive radikaler Veränderung des Bestehenden zu verknüpfen, so wäre Religion nicht mehr "allgemeine Theorie dieser [verkehrten] Welt, [...] ihre Logik in populärer Form" (Marx). Sie wäre mehr als ein Seufzer, kann Projektionsfläche für den Wunsch nach etwas grundlegend Anderem sein, nach einem Reich, in dem die Ursachen der Bedrängnis beseitigt sind. In diesem Sinne ist das von Marx übernommene Opium bei Gramsci nicht nur eine sedierende Droge, sondern auch Kraft moralischen Widerstands, die Sehnsüchte beflügelt und unerfüllte Wünsche transportiert. Artikuliert mit emanzipatorischen Kämpfen könnte sie der populare Enthusiasmus im Streben nach einer ganz anderen Welt sein, einer befreiten Gesellschaft, die der Religion in ihrer jetzigen Form nicht mehr bedarf.

Hier schließt der von Gramsci schon früh aufgenommene Gedanke an, wonach der Glaube an eine ganz andere Art und Weise, zu arbeiten, zu leben und zu lieben, zu denken und zu fühlen etc., nicht-kognitiv-vernunftbasierter Bestandteil gesellschaftlicher Transformation sein muss, weil er der "Forderung des wirklichen Glücks" (Marx) Ausdruck verleihen kann. Auch die Philosophie der Praxis sei vom Glauben getragen - vom befreienden Glauben an die Möglichkeit der Emanzipation von Herrschaft und Unterdrückung. Bei Gramsci hat Glaube eine ethisch-politische Dimension, die nicht religiös sein muss (vgl. Rehmann 2001). Im Sinne von Überzeugung und praktischem Engagement ist Glaube ein wichtiges Ingredienz im Prozess der Verbreitung von Weltauffassungen in der Bevölkerung. Das "wichtigste Element" einer Weltanschauung habe nämlich "unzweifelhaft nichtrationalen Charakter", sei "Glaube", und zwar "besonders an die gesellschaftliche Gruppe, der [ein Mensch] angehört" (H11, §12: 1389). Das heißt: Auch oder gerade eine auf Befreiung zielende politische Praxis muss die nicht-rationalen Elemente des subalternen Alltagsverstands, die bizarren Gefühle, die widersprüchlichen Empfindungen ebenso wie den - oft verschütteten oder zum Schweigen gebrachten, aber nie gänzlich abwesenden - Glauben an die Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung ernst nehmen, organisatorisch aufgreifen und mit einer neuen, auf Befreiung zielenden "intellektuellen Ordnung" artikulieren. Grundlage dafür wäre, den Glauben "in 'populare' Ausdrücke zu übersetzen" (H10.I, §5: 1234) und ihn immer wieder neu mit der kollektiven Selbstermächtigung der Subalternen zu verknüpfen. Sofern diese Radikalisierung gelingt, kann der Kraft des Glaubens - kritisch ausgearbeitet - eine politisierte "Protestation gegen das wirkliche Elend" (Marx) erwachsen und ein Prozess angestoßen werden, in dessen Verlauf sowohl der Glaube als auch die Religion in ihrer bisherigen Form aufgehoben werden müssen. Das hieße, im Prozess einer kritischen Ausarbeitung von Religion nicht nur deren heiligen Formen konsequent zu hinterfragen, sondern ebenso die der bürgerlich-aufgeklärten Gesellschaft innewohnende, auf Klassenherrschaft beruhende "Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven" (Marx).

Welche Richtung eine gesellschaftliche Transformation einschlagen müsste, damit Religion nicht in reaktionär-autoritäre moralische Sanktion umschlägt, deutet Gramsci in einer strategischen Überlegung zur Rolle des "modernen Fürsten", d.h. der Partei der Subalternen, an. Perspektivisch nehme nämlich der moderne Fürst im Bewusstsein der Menschen "die Stelle der Gottheit und des kategorischen Imperatives ein, er wird die Basis eines modernen Laizismus und einer vollständigen Laisierung des gesamten Lebens und aller die Gewohnheiten betreffenden Verhältnisse." (H12, §1) Das heißt: Es geht Gramsci um die Infragestellung jeglicher metaphysischer, überhistorischer oder transzendenter Welt-Erklärungen und Rechtfertigungen, egal ob diese in konfessionell-religiösem oder säkularem Gewand daherkommen. Die von Gramsci geforderte "vollständige Laisierung" meint nicht nur die Überwindung der Notwendigkeit von Religion als "allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund" (Marx) der bestehenden Ordnung, sondern auch den Abschied vom weit verbreiteten ökonomistischen Finalismus in damals vorherrschenden Lesarten des Marxismus. Allerdings bliebe zu fragen, wie in einer genaueren Exegese des modernen Fürsten bei Gramsci der Begriff von allen etatistischen Konnotation gereinigt werden kann, um Religion anders zu beerben - im nicht-staatlichen Sinne einer "spirituality of the commons", wie Rehmann (2012) nahelegt. Sonst mündet Gramscis Überpolitisierung in dem Versuch, "den Glauben unmittelbar an eine Parteipolitik anzuschließen", was zur "Zerstörung seiner widerständigen Potenzen führen" würde (Rehmann 2001).

Im Anschluss an Rehmanns (1991) Vorschlag des herrschaftskritischen "analytischen Schnitts" (s.o.) lässt sich festhalten: Der entscheidende Punkt für Gramsci ist nicht die Unterscheidung zwischen Religiosität und Atheismus oder zwischen Glaube und Vernunft, sondern die Frage danach, ob eine Philosophie, eine Weltauffassung, eine Religion oder ein bestimmter Glaube der Handlungsfähigkeit der Subalternen und ihrer intellektuellen Unabhängigkeit im Sinne einer schrittweisen Emanzipierung von den herrschenden Ideologien förderlich ist oder aber die Massen mit Heilsversprechen vertröstet und passiv hält.

E-Mail: anne@steckner.de


Literatur

Fiori, Guiseppe 1979: Das Leben des Antonio Gramsci. Rotbuch-Verlag, Berlin.

Fulton, John 1987: Religion and Politics in Gramsci: An Introduction; in: Sociological Analysis 1987, Vol. 48, No. 3: pp. 197-216.

Fürstenberg, Gregor 1997: Religion und Politik: die Religionssoziologie Antonio Gramscis und ihre Rezeption in Lateinamerika. Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz.

Gramsci, Antonio 1991ff: Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe (10 Bände). Argument-Verlag, Hamburg.

Pozzolini, Alberto 1970: Antonio Gramsci. An Introduction To His Thought. Pluto Press, London.

Rehmann, Jan 1991: Gramsci und die Religionsfrage; in: Widerspruch 21/91: S. 179-183.

Rehmann, Jan 2001: Glauben. Stichwort im HKWM Band 5, Argument-Verlag, Berlin.

Rehmann, Jan 2012: Gramscis Bedeutung für eine kritische Ideologietheorie (unveröffentlichter Vortrag am 3. Juli 2012 im Rahmen des Gramsci-Lesekreises der Rosa-Luxemburg-Stiftung)

Schirmer, Dietrich 1995: Anmerkungen zu Äußerungen von Antonio Gramsci zur Religion; in: Berliner Dialog-Hefte, Heft 4/95 (24): S. 16-23.

Simms, Rupe 2010: A Gramscian Analysis of the Role of Religion in Politics. Case Studies in Domination, Accomodation and Resistance in Africa and Europe. The Edwin Mellen Press, Lewiston/Queenston/Lampeter.

Walpen, Bernhard 1998: Zur Bedeutung André Philipps für Gramsci. Oder: Gott stellt als fordisierter Arbeiter die Tugenden serienmäßig her; in: Hirschfeld, Uwe 1998 (Hg.): Gramsci-Perspektiven. Argument-Verlag, Hamburg.

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Klaus Ronneberger:

An den Himmel verschleuderte Schätze?

Zur Dialektik von (christlicher) Religion und Politik

Im April 1964 beginnt der Schriftsteller und Regisseur Pier Paolo Pasolini, bekennender Kommunist und Schwuler[1], in den kargen und steinigen Landschaften Süditaliens mit den Dreharbeiten zu einem Jesus-Film. Als Vorlage dient ihm das Matthäus-Evangelium, welches sich durch eine radikale Eschatologie (griech. ta eschata: die "Letzten"; "Lehre von den letzten Dingen") auszeichnet: "Die Engel werden ausgehen und die Bösen von den Gerechten scheiden und werden sie in den Feuerofen werfen; da wird Heulen und Zähneklappern sein." (Mt. 13,49-50) Zentraler Bestandteil der Matthäusbotschaft ist die bekannte Bergpredigt: "Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen." (Mt. 5,6-7) Doch der Heiland tritt hier nicht nur als sanftmütiges "Lamm Gottes" auf, sondern auch als zorniger und unversöhnlicher Messias, der die Händler aus dem Tempel jagt und vehement die Macht der Schriftgelehrten in Frage stellt: "Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert." (Mt. 10,34) Seine Zuwendung gilt den Mühseligen und Beladenen, nicht den Begüterten. Auf die Frage eines reichen Jünglings, wie er das "ewige Leben" erlangen könne, gibt Jesus die Antwort: "Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach." (Mt. 19,21)

Pasolini - nach eigenem Bekunden Atheist mit einer starken Neigung zur Mystik - will den moralischen Rigorismus des Matthäusevangeliums mit der gesellschaftlichen Situation der kapitalistischen Moderne konfrontieren. Er nimmt die Durchsetzung des fordistischen Vergesellschaftungsmodells in Italien als einen Kolonialisierungs- und Nivelierungsprozess wahr, der durch den (individualisierenden) Massenkonsum die widerständigen Traditionen der ländlich-bäuerlichen und städtisch-proletarischen Subkulturen zersetzt. Auch die normativen Grundlagen der christlichen Religion, die auf Werten wie Enthaltsamkeit und Selbstaufopferung beruhen, sieht er in der Auflösung begriffen: Der italienische Katholizismus, denn darauf bezieht sich Pasolini hauptsächlich, habe in der Vergangenheit zum Kernbereich der ideologischen Staatsapparate gehört, doch nun verliere der Klerikalismus im Gefolge der neuen Konsumideologie seine vormaligen Homogenisierungs- und Kontrollfunktionen. Während der säkulare Hedonismus als neue Religion triumphiere, überlebe das institutionelle Christentum lediglich als Folklore. Die neuen Mächte, so glaubt er, seien nicht mehr auf die Kirche angewiesen, denn die post-sakrale Integrationspraxis des Spätkapitalismus bestehe "im Ritus des Konsums und im Fetisch der Ware." (Pasolini 1981: S. 65)

Der Jesus-Film, der 1964 unter dem Titel Il Vangelo secondo Matteo (Das Zweite Evangelium - Mathäus) in die Kinos kam und im Vorspann dem Reformpapst Johannes XXIII. gewidmet ist, wird anlässlich eines römischen Konzils mehr als tausend Kardinälen gezeigt. Der Eindruck ist so überwältigend, dass sie Il Vangelo einen minutenlangen Applaus zollen. Die Linke hingegen artikuliert vehemente Kritik an dem Werk und wirft Pasolini eine hagiographische Version des Evangeliums vor: Eine weltlich-rationale Denkweise lasse sich nicht mit einer religiösen Mystik verknüpfen. Und - hatte sich die Religion nicht längst durch die Säkularisierung der Gesellschaft erledigt?


Radikalisierung der Religionskritik
Bereits im 18. Jahrhundert propagieren französische Aufklärer wie Paul Thiry d'Holbach oder Voltaire die Unvereinbarkeit von menschlicher Vernunft und Religion. Georg Friedrich Wilhelm Hegel wiederum verhandelt in seinem Frühwerk Die Positivität der christlichen Religion (1795/96) das religiöse Bewusstsein als eine "Selbstproduktion des Geistes": In der Vergangenheit hätten die Menschen ein himmlisches Jenseits entworfen, wo sie reichliche Entschädigung für das Unglück auf Erden zu finden hofften. Eine Kluft, die nach den Spekulationen des Philosophen im Gefolge eines dialektisch verlaufenden Geschichtsprozesses schrittweise aufgehoben wird: "Außer früheren Versuchen blieb es unseren Tagen vorzüglich aufbehalten, die Schätze, die an den Himmel verschleudert worden sind, als Eigentum der Menschen wenigstens in der Theorie zu vindicieren, aber welches Zeitalter wird die Kraft haben, dieses Recht geltend zu machen, um sich in den Besitz zu setzen?" (Hegel 1986: S. 209). In der Auseinandersetzung mit der Hegel'schen Religionsphilosophie kommt dann Ludwig Feuerbach in Das Wesen des Christentums (1841) zu dem Schluss, dass Philosophie für das "Denken" stehe, Religion hingegen fürs "Gemüt". Während Hegel die religiösen Vorstellungen als eine berechtigte und geschichtlich notwendige Form ansieht, die in einem Prozess der "Selbsterkenntnis des Geistes" letztendlich zu einer Versöhnung von Philosophie und Religion führt, betont Feuerbach den illusionären Charakter dieser Projektion und identifiziert Gott als "Traum des menschlichen Geistes" (Feuerbach 2006 [1849]: S. 26). Eine imaginäre Rückspiegelung des (endlichen) Wesens, die ihm als höheres (unendliches) Wesen entfremdet gegenübertritt.

Karl Marx erklärt schließlich die Auseinandersetzung um die Religionsphilosophie Hegels in Deutschland für beendet. Jetzt gilt die Kritik der Religion als Voraussetzung jeglicher (Gesellschafts-)Kritik. "Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. (...) Sie ist das Opium des Volks." ( MEW Bd. 1: S. 378) Nun muss die "Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung" in "ihren unheiligen Gestalten" entlarvt werden. "Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik. (a.a.O.: S. 379).

Im Gegensatz zu einer vulgär-materialistischen Lesart, die die Marx'sche Religionskritik auf den Aspekt der ideologischen "Vernebelung" reduziert, besteht der Philosoph Ernst Bloch darauf, dass Marx die Religion nicht nur als "Einschläferungs-Opiat" verhandelt, sondern auch als eine Quelle der Revolte (Bloch 1977: S. 295). Er verweist dabei auf eine Stelle in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: "Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend." (MEW Bd. 1: S. 378). Bloch unterstellt, dass für Marx eine Verbindung zwischen den eschatologischen Bewegungen des Christentums und den Emanzipationsbestrebungen des Proletariats besteht.

Religions- und Geisteswissenschaftler wie Karl Löwith, Jacob Taubes oder Eric Voeglin ziehen daraus den Umkehrschluss, dass die marxistische Geschichtsphilosophie nicht frei von "theologischen Mucken" sei: Sie interpretiere die Weltgeschichte als sinnvolles Geschehen, das letztlich zum Zusammenbruch des Kapitalismus führen werde. Mit der Vision von der zukünftigen klassenlosen Gesellschaft habe Marx die vormaligen Vorstellungen einer "messianischen Zeit" lediglich säkularisiert.[2] Dem Manifest der Kommunistischen Partei (1848), im Jahr der großen europäischen Revolutionen von Karl Marx und Friedrich Engels als Kampfschrift verfasst, kann man eine triumphalistische Endzeit-Rhetorik nicht absprechen: "Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweg gezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich." (MEW 4: S. 473f.) Der Bezug auf Hegels Geschichtsphilosophie ist unverkennbar, allerdings nicht im Sinne einer mit sich selbst versöhnenden (göttlichen) Vernunft, sondern im Sinne einer Theorie der Aktion geschichtlicher Subjekte. Hegel liefert der Marx'schen Emanzipationstheorie eine Begrifflichkeit, in der die Menschen als Träger der "Aufhebung" erscheinen. Darauf insistiert u. a. der Philosoph Hans Blumenberg, der die Unterstellung zurückweist, es handle sich bei dem Kommunistischen Manifest um säkularisierte Eschatologie: "So ist es gleichgültig, ob ein paradiesisch befriedeter Zustand weltlich oder unweltlich ist; entscheidend bleibt, ob dieser Zustand leistungsimmanent oder leistungstranszendent ist, ob der Mensch ihn durch die Anstrengung seiner eigenen Kraft erreichen kann oder ob er dazu auf die nicht verdiente Gnade eines über ihn hereinbrechenden Ereignisses angewiesen ist." (Blumberg 1974: S. 101) Ungeachtet dessen lässt sich in der Geschichte der Arbeiterbewegung eine Reihe von programmatisch-ideologischen Aussagen finden, die von einer irischen Erlösungsgewissheit zeugen.


Eschatologie und Apokalypse
Während für die Marxisten die fortschreitende Emanzipation des Menschen im öffentlichen Raum der Geschichte stattfindet, erwarten die Christen die Erlösung in der Innerlichkeit der Seele. Aber auch für sie vollzieht sich die Geschichte nicht in einem ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen (so die Vorstellung der "heidnischen" Antike), sondern es gibt eine eschatologische Chronologie, die auf ein Ende hinsteuert. Die ersten Christen lebten in der Vorstellung einer unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft des Messias. Regelmäßig kam es zu großen spirituellen Erschütterungen in den Gemeinden, wo die Gläubigen all ihre materiellen Güter fahren ließen und in der Wüste oder auf Bergspitzen die Parusie (griech. = Ankunft) entgegenfieberten.

Auch der Apostel Paulus (dem eigentlichen Gründer der christlichen Kirche) rechnet zu seiner Lebenszeit mit diesem Ereignis. Indes warnt er in dem Zweiten Brief an die Thessalonicher (wahrscheinlich um 50 n. Chr. verfasst) vor falschen Propheten, die behaupten, der "Tag des Herrn" sei schon da. Paulus versucht die Gemeinde darauf einzustimmen, dass der Parusie schwerwiegende Ereignisse vorausgehen: "Lasst euch von niemandem verführen, in keinerlei Weise; denn zuvor muss der Abfall kommen und der Mensch der Bosheit offenbart werden, der Sohn der Verderbens." (Th. 2,3) Es wird ein Mensch sein, der all jene mit "lügenhaftern Zeichen und Wundern" (Th 2,7) verführen wird, die "die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen haben" (Th. 2,10). Erst dann erscheint Jesus und bringt den Widersacher "mit dem Hauch seines Mundes" um (Th. 2,8).

Die Vorstellung vom "Letzten Gericht" ist bereits im Alten Testament anzutreffen. Hier geht es oft um Prophetien, die die Ankunft des Messias-Königs auch mit einer innerweltlichen Erneuerung verbinden. Während die alttestamentliche Tradition vom Wirken Gottes in dem Volk Israel ausgeht, vertritt die Apokalyptik (griech. = Enthüllung, Offenbarung) im Neuen Testament eine universale Sichtweise: Jetzt geht es um die Zukunft der ganzen Welt. Durch einen Aufruhr der Naturkräfte kündigt sich das Weltgericht an; das Korn wird von der Spreu geschieden und damit ein endgültiges Urteil für das Jenseits (Paradies oder Hölle) gefällt.

Was die Dramatik anbetrifft, erweist sich die Offenbarung des Johannes (letztes Kapitel im Neuen Testament) als wahrer "Donnerschlag". Sie wurde gegen Ende des 1. Jahrhunderts aufgezeichnet, eine Zeit, in der sich die Christen verstärkten Repressionen ausgesetzt sahen. In grellen Bildern des Schreckens malt Johannes das Ringen zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis aus. Breiten Platz nimmt dabei die Schilderung des "Antichristen" ein. Er ist der Diener Satans und repräsentiert das römische Imperium und den Kaiser. Zunächst triumphiert "das große Babylon, die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden", die trunken ist "von dem Blut der Heiligen und von dem Blut der Zeugen Jesu." (Off. 15,5-6) Doch dann kommt es zur Apokalypse: Engel gießen "die sieben Schalen des Zornes Gottes auf die Erde" aus (Off. 16,1) und löschen die "Hure Babylon" aus. Der "König der Könige" erscheint mit seinen himmlischen Heerscharen, vernichtet die Truppen der Finsternis und lässt den "falschen Propheten" lebendig in den "feurigen Pfuhl" werfen. Seine Mitstreiter werden samt und sonders erschlagen. "Und alle Vögel wurden satt von ihrem Fleisch." (Off. 19,15-21). Nun stürzt ein Engel vom Himmel herab, der den Teufel fesselt und in den Abgrund wirft. Der Messias gründet ein Friedensreich, das er gemeinsam mit den wiedererweckten christlichen Märtyrern für tausend Jahre regiert. Nach Vollendung dieser Epoche ("Millennium") wird der Satan aus seinem Gefängnis losgelassen und in einer letzten Schlacht endgültig besiegt. Jetzt erfolgen die allgemeine Auferstehung der Toten und das Jüngste Gericht. Vom Himmel schwebt das "neue Jerusalem" herab, dessen Tore sich nur für die "Gerechten" öffnen (Off. 20-21).

Doch je länger die Parusie auf sich warten ließ, desto stärker versuchten Theologen eine Umdeutung vorzunehmen. An die Stelle der Hoffnung auf das kommende Reich traten zunehmend innerseelische Gleichnisse. Nachdem das Christentum vom römischen Kaiser Constantin (Reg. 312-337) zur offiziellen Staatsreligion erklärt wurde, verdammten die mächtig gewordenen Kirchenväter die Millenniumsvorstellungen als häretische Irrlehre. Die Gläubigen sollten vielmehr für den Erhalt des Staates beten, der vor den Barbaren und dem Chaos schützte. Galt Rom zuvor noch als die "Hure Babylon", so rückte es nun in die Nähe des "himmlischen Jerusalems". Im Gottesstaat, ein umfangreiches Oeuvre von 22 Büchern, legte der Kirchenlehrer Augustin (354-430) schließlich die geistigen Fundamente für das mittelalterliche Heilige Römische Reich. Die Stoßrichtung der chiliastischen (griech. = tausend) Hoffnung wurde von ihm völlig umgekehrt: Das "Tausendjährige Reich" im Sinn der Offenbarung des Johannes liege nicht in der Zukunft, sondern sei bereits durch die Herrschaft der Kirche verwirklicht (Taubes 1991: S. 79).

Allerdings konnte die mobilisierende Kraft der apokalyptischen Überlieferung nie gänzlich unterdrückt werden. Über die Figur des Antichristen, der weiterhin zum Standardrepertoire der kirchlichen Doxa gehörte, wurde das Wissen um die "Enthüllung des Seins" am Leben gehalten. Gerade in der Krisenepoche der beginnenden Neuzeit erschütterten chiliastische Erweckungsbewegungen die feudale Ordnung.[3] Man denke nur an die böhmischen Hussiten oder an Thomas Münzer und die Wiedertäufer, die im Verständnis von Friedrich Engels die "urkommunistische Linke" der Reformation bildeten. Martin Luther (1483-1546), dem alle Schwärmereien über ein geschichtliches Endreich suspekt waren, geißelte deshalb die Offenbarung des Johannes auch als "aller Rottenmeister Gaukelsack" und predigte den aufrührerischen Bauern: "Leid, Leid, Kreuz, Kreuz als des Christen Teil". (zit. nach Bloch 1977: S. 11) Marx wiederum sah in der Reformation die erste Stufe einer "deutschen Revolution", die den Glauben an die Autorität der Amtskirche zerbrechen ließ. Allerdings zu dem Preis, dass Luther die "äußere Religiosität" in das Innere des Menschen verlagert und damit "die Laien in Paffen" verwandelt habe (MEW 1: S. 386). Ernst Bloch argumentiert in Atheismus im Christentum (1977) grundsätzlicher: Für ihn stellt die Bibel einen großen "murrenden" Text dar, dessen eschatologische Botschaft auch eine verheißungsvolle irdische Bedeutung in sich birgt. Die immer wieder auftauchende Verschränkung von Chiliasmus und sozialen Kämpfen gilt dem Philosophen als Beleg dafür, dass im Geschichtsprozess irrationale, metaphysische und religiöse Momente eine wichtige Rolle bei dem Ausbrechen von Revolten und Aufständen spielen.

Durch die lutherische und calvinistische[4] Reformation wurde der Niedergang der Universalkirche und ihre Zersplitterung in eine Vielzahl miteinander konkurrierender Glaubengemeinschaften eingeleitet. Religiöse Konflikte, die von den politischen Ambitionen der Fürsten gänzlich durchdrungen waren, beherrschten lange Zeit die Geschichte Europas. Erst im späten 17. Jahrhundert setzte nach den Erfahrungen blutiger Religionskriege ein Umdenken ein. Die aufkommenden modernen Wissenschaften entzauberten allmählich die biblische Kosmologie und neue philosophische Fragestellungen nagten an der Autorität der Kirche. Schließlich trug die Ausbildung absolutistischer Territorialgewalten, die sich aus den Wirren der europäischen Religions- und Bürgerkriege als souveräne Ordnungsfaktoren durchsetzen konnten, zu einer Befriedung religiöser Steitfragen bei.


Das neue Jerusalem
Trotz aller Einhegungsversuche kirchlicher und weltlicher Mächte blieb die Sehnsucht nach dem "Tausendjährigen Reich" virulent. Vor allem England erwies sich als ein Experimentierfeld für chiliastische Bewegungen. König Heinrich VIII. (1491-1547) hatte aus Gründen der Staatsräson eine Abspaltung von Rom betrieben und sich in der Suprematsakte von 1534 zum absoluten Oberhaupt einer anglikanischen Nationalkirche gekürt. Da aber deren Organisation und Liturgie viele Analogien mit den "Papisten" aufwies, entwickelten sich neue religiöse Gegensätze. Beim niederen Klerus und im städtischen Bürgertum gewannen lutherische und calvinistische Ideen zunehmend an Einfluss. Zwar setzte sich unter Elisabeth I. (1558-1603) eine protestantisch geprägte Episkopalkirche (Bischofherrschaft) durch, aber die Ausbreitung diverser Sekten vermochte sie damit nicht zu verhindern. Während die Puritaner (lat. purus = rein) die Established Church von allen Relikten des Katholizismus säubern wollten, verwarfen die sog. Dissenters die Idee einer hochkirchlichen Struktur und bestanden auf religiöser Autonomie im Rahmen eines korporativ-demokratischen Gemeindesystems. Solche Auffassungen vertraten etwa Baptisten, Quäker oder Presbyterianer.

Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts sahen sich die puritanisch-calvinistischen Gruppen immer wieder Verfolgungen durch die englische Krone oder die anglikanische Staatskirche ausgesetzt. Ähnlich wie die Urchristen im Römischen Reich nahmen sie die Repressionen als Zeichen der nahenden Endzeit und der eigenen Erwähltheit ("Heiliger Rest") wahr.[5] Mit dem Exodus in die nordamerikanischen Kolonien glaubten die Sekten das "gelobte Land" gefunden zu haben. An erster Stelle sind hier die "Pilgerväter" zu nennen, die 1620 mit der Mayflower nach Neu-England segelten und dort nach den Vorgaben der Mosaischen Gesetze eine theokratische Ordnung errichteten. Die Siedler sahen sich als Nachfolger der Israeliten im persönlichen Bund mit Gott und entnahmen ihre Rechtsnormen direkt der Heiligen Schrift. Mit Hilfe der Bibel ließ sich nicht nur das Alltagsleben der Siedlergemeinschaft regulieren, sondern auch die eigene Überlegenheit gegenüber der indigenen Bevölkerung begründen. Die Praxis der gewaltsamen Landnahme stand im völligen Einklang mit dem Alten Testament. John Winthorp (1588-1649), einer der führenden Köpfe der puritanischen Bewegung, erinnerte bei der gefährlichen Überfahrt nach Nordamerika (1629) die mitreisenden Siedler daran, welche herausragende Rolle sie im chiliastischen Endkampf spielten: "Ihr seit das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein." (Mt. 5,14) Mit diesem Matthäuszitat unterstrich Winthorp die Vision von der City Upon the Hill, des "neuen Jerusalems" in der "Neuen Welt" (Jewett/Wangerin 2008: S. 31).[6]

Bei allen liturgischen Differenzen gab es bei den puritanisch-calvinistischen Gruppen drei gemeinsame Elemente: Der Glaube an die buchstäbliche Unfehlbarkeit der Bibel, das Wissen um die eigene Auserwähltheit und eine chiliastische Spiritualität. Die Sekten kämpften für ihre religiöse Freiheit gegenüber der anglikanischen Episkopalkirche und bestanden auf einer Scheidelinie zwischen Religion und königlicher Zentralgewalt. Weniger aus Gründen der Toleranz, sondern um Machtansprüche von oben abzuwehren. Das Prinzip der strikten Trennung von Kirche und Staat, die Garantie religiöser Vielfalt, wurde nach der Unabhängigkeit (1785) von der US-amerikanischen Verfassung bestätigt. Die Vorgabe, staatlicherseits keine bestimmte Religion zu privilegieren, führte paradoxerweise zu einer permanenten "Theologisierung" des öffentlich-politischen Raums durch zivilreligiöse Verbände und Gruppen.

Anfänglich verlieh der Traum vom tausendjährigen Friedensreich den Gläubigen eine ungeheure Energie bei der Besiedlung des (angeblichen) virgin land. Doch im Laufe der Zeit zeigten sich immer mehr spirituelle Verschleißerscheinungen. Die Krise der puritanischen Bewegung speiste sich letztlich aus ihrem Erfolg: Ursprünglich eine häretische und marginalisierte Glaubensströmung, stieg sie in den Kolonien zur Leitreligion auf, deren Geistlichkeit und führende Laien den oberen Klassen angehörten. Der Puritanismus, der später zum sog. Kongregationalismus (nationale Synode auf der Basis gleichberechtigter Einzelgemeinden) mutierte, bildete zusammen mit den Anglikanern und Presbyterianern den religiösen mainstream in den Kolonien. Doch gegen die puritanische Orthodoxie formierten sich neue Gruppen, die u. a. die calvinistische Prädestinationslehre in Frage stellten: Der Opfertod Jesus habe nicht nur den Auserwählten, sondern allen Menschen gegolten. Zudem sei der Glaube das Resultat einer freien Entscheidung des Einzelnen. Die Individuen könnten an ihrem Heil selbst mitwirken und gegebenenfalls auch Gottes Gnade verwerfen. Diese universale und "subjektivistische" Sichtweise untergrub die ideologischen Grundfesten des etablierten Puritanismus.

Tatsächlich kam es in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowohl in Europa wie auch jenseits des Atlantiks zu einem eindrucksvollen Aufschwung religiöser Aktivitäten. Das "Great Awakening" erfasste vor allem die anglikanische wie die kongregationalistische Kirche in den Kolonien. Die Vertreter der neuen evangelikalen Bewegung betonten die freie Willensentscheidung des Einzelnen und die Notwendigkeit einer persönlichen religiösen Erfahrung. Mit der Propagierung einer "spirituellen Wiedergeburt" griffen sie auf ein zentrales Moment des chiliastischen Puritanismus zurück. An die Stelle erstarrter Pfarreistrukturen sollten enthusiastische Gemeinschaften von "wiedergeborenen" Christen treten. Hatten sich bislang religiöse Erregungen meist auf kleine Gemeindezirkel beschränkt, so erzielten die charismatischen Prediger mithilfe von Zeitungen, Flugblättern und unkonventionellen Agitationsformen eine enorme Breitenwirkung.

Angesteckt von dem neuen chiliastischen Optimismus verfassten Geistliche aus Neuengland im Jahre 1743 ein Manifest, in dem sie für ihr Land den Beginn des "Tausendjährigen Reiches" ausriefen. Auch der Französisch-Indianische Krieg (1754-1763) galt den "Erweckten" als Kampf gegen den (katholischen) Antichristen. Das Great Awakening vertiefte die religiöse Komponente des aufkommenden Nationalismus, schuf ein neuartiges Zusammengehörigkeitsgefühl in den Kolonien und arbeitete der kommenden Revolution zu. Aus dem Widerstand gegen die Kirchensteuern an die anglikanische Staatskirche entwickelte sich letztendlich ein Aufstand gegen das gesamte Steuersystem der englischen Krone (Bostoner Tea Party) (Jewett/Wangerin 2008: 60-75).

Seit dem 18. Jahrhundert zählen Erweckungsbewegungen zum festen Bestandteil der US-amerikanischen Kultur, die die Nation in regelmäßigen Abständen erfassen. Der Kulturhistoriker Michael Hochgeschwender (2007) weist in seiner instruktiven Studie über den US-amerikanischen Fundamentalismus darauf hin, dass der Evangelikalismus durchaus progressive Züge besaß. Die "Erweckten" waren insoweit modern, wie sie sich für Kapitalismus und "Basisdemokratie" einsetzten und gegen eine institutionelle Hierarchisierung der Glaubensauslegung das Recht auf eine subjektive Frömmigkeit einklagten. Letztlich speisten sich aus solchen religiösen Energien auch Bewegungen gegen die Sklaverei und den institutionellen Rassismus der US-amerikanischen Gesellschaft.


Konjunkturen des Fundamentalismus
Nach dem Ende des Bürgerkrieges (1861-1865) begann in den Vereinigten Staaten das sog. goldene Zeitalter (Gilded Age). Infolge einer rasanten Industrialisierung und Urbanisierung veränderte sich die Gesellschaft grundlegend. Soziale Klassengegensätze verschärften sich und mit der massiven Zuwanderung von katholischen Iren und Italienern, russischen Juden und "gemischtreligiösen" Deutschen geriet die Vorherrschaft der WASP (White Anglo-Saxon Protestants) ins Wanken. Gleichzeitig gewann eine liberale Theologie an Einfluss, die sich an einer historisch-kritischen Bibelinterpretation orientierte und auch eine Öffnung gegenüber den modernen Geistes- und Naturwissenschaften propagierte.

Andere christliche Strömungen nahmen hingegen die wissenstheoretischen und soziokulturellen Umbrüche als Bedrohung wahr. Bei dem aufkommenden Fundamentalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts handelte es sich um eine weltzugewandte Bewegung, die von den urbanen Zentren ausging und deshalb nicht mit einem "hinterwäldlerischen" Traditionalismus verwechselt werden darf. Ihre intellektuellen Vertreter rangen um die kulturelle Deutungshoheit im Lande und versuchten bestimmte Aspekte der Moderne zu bekämpfen. Dabei diente der Begriff des "Fundamentalismus" zunächst als positive Selbstbeschreibung. Im Jahre 1910 sponserten amerikanische Geschäftsleute die Zeitschrift "The Fundamentals: A Testimony of the Truth", die in hoher Auflage kostenlos an potentielle Sympathisanten (Theologen, Priester etc.) versandt wurde. Darin äußerten konservative Autoren ihre vehemente Kritik an den gottlosen Zuständen: Klassische Feindbilder waren Prostitution, Homosexualität, Glücksspiel, Alkohol, Darwins Evolutionstheorie und die historisierende Bibelinterpretation (vgl. Müller 2011).

Gegen Ende des 19. Jahrhundert kam auch eine prä-millenarische Erweckungsbewegung auf, die später eine Verbindung mit dem Fundamentalismus einging. Die Anhänger dieser Lehre waren davon überzeugt, dass die Gläubigen das "kommende Reich" nicht selbst errichten könnten, sondern ergeben auf die Apokalypse und die Rückkehr des Messais warten müssten. Bis zu diesem Ereignis galt es am persönlichen Seelenheil zu arbeiten. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Vision der "Entrückung", die sich auf eine Passage aus dem Ersten Brief an die Thessalonicher des Apostel Paulus stützte: Nach der Auferstehung der (christlichen) Toden, "werden wir, die wir leben und übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden auf den Wolken in die Luft, dem Herrn entgegen;" (Th. 4,16-17). Gemäß der prä-millenarischen Wunschvorstellung stiegen die "Wiedergeborenen" zur gottgegebenen Zeit in den Himmel auf, während auf Erden die Apokalypse wütete. Das Narrativ der vorzeitigen Entrückung gilt seitdem als Markenzeichen der christlichen Fundamentalisten (Jewett/Wangerin 2008: S.158f.).

Ab Mitte der 1920er Jahre erlahmten der Schwung der eschatologischen Sekten und die Evangelikalen verloren in der Öffentlichkeit zunehmend an Ansehen und Einfluss. Doch damit war die Erweckungsbewegung nicht endgültig erledigt. In den 1950er Jahre gewannen Persönlichkeiten wie Billy Graham, später spiritueller Berater verschiedener US-Präsidenten, durch charismatische TV-Predigten und Massenkonversionen in Sportstadien an Popularität. Er propagierte einen moderaten Evangelikalismus, was ihn aber nicht daran hinderte die Sowjetunion mit den satanischen Mächten Gog und Magog gleichzusetzen, die in der Offenbarung des Johannes als höllische Heerscharen erwähnt werden (Off. 20,8). Doch insgesamt mutierte die christliche Religion zu einem funktionalen Bestandteil des konsumistischen "American Way of Life".

Die gesellschaftlichen Umbrüche von 1968 führten erneut zu einer Mobilisierung fundamentalistischer Kräfte. Als Reaktion auf die "kulturrevolutionären" Emanzipationsbewegungen begannen sich die Evangelikalen zu reorganisieren. Heute stellen sie eine bedeutende Meinungsmacht innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft dar, die mit Themen wie Abtreibung, Pornographie, Homosexualität und Schöpfungslehre systematisch ihren Einfluss auf die Politik zur Geltung bringen. Präsidentschaftskandidaten, die Aussicht auf Erfolg haben wollen, müssen deshalb erhebliche programmatische Zugeständnisse an die Fundamentalisten machen. Als Hochburgen der Evangelikalen gelten suburbane Mittelstandsenklaven, in denen erzkonservative Wertvorstellungen dominieren und eine panische Angst vor den städtischen Unterklassen grassiert. Die Symbiose von Neofundamentalismus und Neoliberalismus hat genau dort ihren Ursprung (Hochgeschwender 2007: S. 169f.).

Während es den Evangelikalen inzwischen gelungen ist, weite Teile der US-amerikanischen Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Evolutionslehre unwahr oder zumindest lückenhaft sei, stellen weltabgewandte Eschatologien eher eine Randerscheinung dar. Gleichwohl ist der Rapture, wie das Jüngste Gericht im Jargon evangelikaler Christen heißt, in den Medien sehr beliebt. Symptomatisch ist in dieser Hinsicht der kommerzielle Erfolg des Predigers Tim LaHaye, dessen Endzeit-Erzählungen sich unter dem Obertitel Left Behind ("Zurückgelassen", "Ausgeschlossen") millionenfach verkauft haben und auch als Fernsehserie ein Renner wurden. Insbesondere die Idee der "Entrückung zu Jesus" kommt hier zum Einsatz: Flugzeuge stürzen ab, Autos und Züge kollidieren, weil angesichts der bevorstehenden Apokalypse die "Wiedergeborenen" in den Himmel aufsteigen. Als überflüssiger Zierrat des irdischen Daseins bleiben lediglich ordentlich zusammengefaltete Kleider, Brillen, Hörgeräte und Herzschrittmacher zurück. Die Ungläubigen müssen nun begreifen, dass sie ohne Rückkehr zum Heiland in die Hölle fahren werden. In einer Szene, die den Endkampf schildert, schwelgt der Autor in Visionen von blutiger Rache: Auf das bloße Wort von Jesus platzen "die Körper der Feinde auf. Die Christen müssen nun vorsichtig fahren, um nicht mit den verrenkten und filetierten Leibern von Männern und Frauen und Pferden zu kollidieren." (zit. nach Victor 2005: S. 30).

Eine weitere Glaubensrichtung stellt die Pfingstbewegung dar, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgekommen ist. Hier geht es um die unmittelbare Erfahrung mit dem Heiligen Geist als dritte Person des Dreieinigen Gottes. Während der Evangelikale die Richtschnur für sein Handeln in der buchstäblichen Lektüre der Bibel findet, schöpft der Pfingstbewegte seine Glaubenskraft aus der persönlichen Interaktion mit den himmlischen Mächten. Dieses Erlebnis äußert sich bei den gemeinsamen Zusammenkünften in Formen von Verzückung und Trancezuständen, die zuweilen auch von Wunderheilungen begleitet sind: Blinde werden sehend, Lahme können wieder gehen. Ähnlich wie die Evangelikalen legen die Pfingstbewegten großen Wert auf die Unabhängigkeit der lokalen Gemeinden, sie sind stark medienorientiert und es gibt eine vorbehaltlose Akzeptanz gegenüber dem kapitalistischen Reichtum. Auf dem religiösen Weltmarkt erweist sich diese Kombination von Power, Service und Money als äußerst erfolgreich: Pfingst-Gemeinden verzeichnen die größten Wachstumsraten innerhalb der christlichen Kirchen, insbesondere in Lateinamerika und Afrika. Der Urbanist Mike Davis (2007) hat darauf hingewiesen, dass evangelikal-pfingstliche Strömungen vor allem in den Slums zur Massenreligion geworden sind. Seiner Meinung nach füllen diese Bewegungen jenes ideologische Vakuum auf, das die abwesende Linke hinterlassen habe. Doch seine These, die verstärkte Zuwendung zum Religiösen hauptsächlich als "Kultur der Armut" zu erklären, ist nicht stichhaltig. Gerade in den Umbruchsgesellschaften und Schwellenländern besteht eine hohe Affinität zu erfolgsorientierten Gruppen aus den Mittelschichten (vgl. Lanz 2010).


Das Vermächtnis des Christentums
Parallel zur Renaissance der Religionen gibt es auch eine Renaissance der Religionskritik. Eine Reihe von kritisch-materialistischen Denkern bezieht sich in ihren Arbeiten auf die Religion, insbesondere auf das Christentum. So verhandeln Alain Badiou und Slovoj Zizek das christliche Erbe als etwas, das verteidigt werden sollte. Im Zentrum ihrer Überlegungen stehen bestimmte theologische Aussagen des Apostel Paulus, die sie für die aktuelle politische Auseinandersetzung stark machen wollen. Ein nicht unproblematisches Verfahren, werden doch hier Fragen der Genealogie (Kontinuität und Bruch) und der Übertragbarkeit (Transzendenz versus Immanenz) weitgehend ausgeklammert.

Den beiden Philosophen geht es um das Versprechen der paulinischen Botschaft sich "an alle" zu richten. In dem Brief des Paulus an die Galater heißt es: "Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus." (Gal. 3,28) Der Apostel wendet sich dagegen, dass der Zugang zur "Wahrheit" nur den Eliten vorbehalten ist. Nicht die Weisen und Edlen sind erwählt, sondern die Törichten und Armen (vgl. 1. Kor. 1,26-27). Damit nimmt Paulus eine radikale Umwertung der antiken Werte vor. Die Ungleichheit der Menschen - die Unterdrückung der Schwachen durch die Starken - stellte aus hellenistischer oder römischer Sicht nicht nur eine unabänderliche natürliche Gegebenheit dar, sondern war geradezu die Bedingung der Möglichkeit menschlicher (männlicher) Entfaltung.

Zizek und Badiou wollen mit dem Begriff von der "universellen Wahrheit" nicht nur das postmoderne Differenzdenken bekämpfen, sondern sie destillieren aus ihrer Bibellektüre auch ein "starkes Subjekt" heraus, das - angetrieben von einem unbedingten Hoffnungswillen - mit der Welt bricht, wie sie ist: "Wenn jemand zu mir kommt", so Jesus, "und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwester und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein." (Luk. 14,26). Und Paulus appelliert an die Gläubigen geduldig ihr Kreuz zu tragen: "Denn euch ist es gegeben um Christi willen, nicht allein an ihn zu glauben, sondern auch um seinetwillen zu leiden." (Phil. 1,29) Was Zizek und Badiou offensichtlich fasziniert ist der Vorgang der radikalen Dezision (Entscheidung), bei dem das "Hoffnungs-Subjekt" sich bis zur Selbstaufgabe dem Wahrheits-Ereignis unterstellt. Mit der Figur des militanten Kämpfers, der kompromisslos für das Gleichheitsprinzip der Menschen eintritt, versuchen sie an das leninistische Avantgarde-Konzept anzuknüpfen. Doch gegen solche Vorstellungen, das "stählerne Gehäuse'" des Kapitalismus per Willensakt aufzubrechen, lässt sich eine Passage aus der Marx'schen Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie ins Feld führen: "Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen." (MEW Bd. 1: S. 386) Die Praxis des radikalen Bruchs bedarf der Allianz der Vielen.

Auch Pier Paolo Pasolini hat sich intensiv mit dem "heiligen Paulus" auseinandergesetzt. Bereits in den 1960er Jahren plante er einen Film über den Apostel zu drehen, den er allerdings nie realisieren konnte. Das Skript wurde zwar 1977 veröffentlicht (2007 auch auf Deutsch), stieß aber auf wenig öffentliche Resonanz. Im Gegensatz zum Il Vangelo secondo Matteo verlegt Pasolini die Schauplätze der Handlung in die Gegenwart. In einer Vorrede zu dem Filmprojekt erläutert er seine Intentionen. Der Zuschauer soll begreifen, "dass der heilige Paulus hier, heute, unter uns ist" (Pasolini 2007: S. 16). Deshalb versetzt er den Apostel in das zwanzigste Jahrhundert, behält aber die Chronologie und die inhaltlichen Aussagen des historischen Paulus bei. Die Handlung erstreckt sich bis in die 1960er Jahre. "Als Nabel der modernen Welt" ist nun New York die Hauptstadt des Imperiums: "Der Zustand dominanter Ungerechtigkeit, der in einer Sklavengesellschaft wie dem kaiserlichen Rom herrscht, kann hier durch den Rassismus und die Lebensbedingungen der Schwarzen verhüllt zur Sprache kommen." (a.a.O. S. 22) Bei der letzten Fassung des Skripts greift Pasolini den Tod des Baptistenpredigers und Bürgerrechtlers Martin Luther King (1929-1968) auf, der in einer Absteige aus dem Hinterhalt erschossen wurde. Das New Yorker Hotel, in dem nach seinen Regieanweisungen der aktuelle Paulus stirbt, soll detailgenau dem historischen Schauplatz der Ermordung Kings entsprechen.

Ähnlich wie Badiou und Zizek macht Pasolini die politische Stoßrichtung der paulinischen Theologie stark: "Klar ist, dass der heilige Paulus auf revolutionäre Weise, mit der schlichten Kraft seiner religiösen Botschaft, eine Gesellschaft vernichtet hat, die auf der Gewalt des Klassenkampfs, des Imperialismus und insbesondere des Sklaventums basiert." (Pasolini 2007: S.17) Aber im Gegensatz zu den Philosophen versucht er auch die Gespaltenheit dieser Figur herauszuarbeiten. Für ihn ist Paulus nicht nur ein Mystiker, der von der universellen Liebe spricht, sondern auch ein doktrinärer Priester, bei dem der fanatische Pharisäer Saulus weiterhin durchscheint. Trotz seiner vehementen Kritik an den Machtverfilzungen des Katholizismus sympathisiert Pasolini mit der sog. Befreiungstheologie in Lateinamerika und dem sozialen Engagement progressiver Christen in Italien. Was den schöpferischen Austausch zwischen Marxismus und Christentum betrifft, äußert er sich in seinen späteren Schriften deutlich pessimistischer. Letztlich kann für ihn die katholische Kirche nur dann überleben, wenn sie all ihrer Macht entsagt und in die Opposition geht.

Gegen den obszönen kapitalistischen Reichtum plädiert Pasolini für eine Politik der Agape (griech. = interesselose Liebe) im Sinne einer "Politik der Armut": Sie verteidigt die Rechte der Armen, aber nur deshalb, um die Armut als postchristlichen Wert neu zu begründen. Diese Position eines franziskanisch inspirierten Kommunismus muss man nicht teilen, aber an der Idee der Gerechtigkeit möchte auch der Autor dieser Zeilen festhalten.



Anmerkungen:

[1] Pasolini, am 5. März 1922 in Bologna geboren, tritt 1947 unter dem Eindruck der Landbesetzungen friaulischer Bauern in die KPI ein. 1949 wird er von den "Genossen" als "dekadenter Schriftsteller" und "Jugendverderber" gebrandmarkt und aus der Partei ausgeschlossen, bleibt aber sein ganzes Leben der Idee des Kommunismus verpflichtet. Insgesamt dreht er zwölf Filme, die häufig mythische oder religiöse Themen in provokanter Weise aufgreifen. Skandale und öffentliche Schmähungen sind an der Tagesordnung. Im Laufe seines Schaffenslebens muss er mehr als 30 Gerichtsverfahren (u. a. wegen Verunglimpfung von Religion) über sich ergehen lassen. Am 2. November 1975 wird Pasolini unter bis heute nicht geklärten Umständen in der Nähe von Ostia ermordet aufgefunden (vgl. u. a. Haag 1981; Spila 2002).

[2] Vor allem Löwith und Voeglin unterstellen einen direkten Weg vom Marx'schen Denken zum "Totalitarismus" des 20. Jahrhunderts.

[3] Das Aufkommen eschatologischer Bewegungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit korrespondierte mit der Expansion des europäischen Städtesystems. Die Stadtbewohner waren nicht vollständig in das ungebende Feudalsystem integriert und es gab ein ausdifferenziertes soziales und intellektuelles Leben. Somit existierte ein fruchtbarer Boden für neue Ideen. Führende Köpfe der chiliastischen Sekten stammten nicht aus den unteren Klassen, sondern es handelte sich vornehmlich um Kaufleute, Gelehrte, Studenten, Theologen und Priester. Sie bildeten das "Kraftzentrum" der Erregung. Allerdings strahlte gerade in Krisenzeiten deren Unruhe auch auf andere soziale Gruppen der Gesellschaft aus, die einen Groll gegen die etablierten Mächte hegten (Voegelin 1994: S. 44).

[4] Die Theologie von Jean Calvin (1509-64) basiert vor allem auf der sog. Prädestinationslehre. Demnach hat Gott in seinem unergründlichen Ratschluss aus der sündigen Menschheit einige wenige zu Erlösung auserwählt. Erfolgreiches innerweltliches Handeln gilt als sichtbares Zeichen des transzendenten Heils. Das Bibelwort: "An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen" erhält eine neue Konnotation: "Christsein" und "Wohlhabenheit" stellen keinen grundsätzlichen Gegensatz mehr dar. In Genf gründet der Reformator einen theokratischen Stadtstaat, wo die sittliche Lebensführung der Bürger und Bürgerinnen polizeilich überwacht wird. Religiöse und politische Gemeinschaft sind hier identisch.

[5] Die chiliastischen Erwartungen dokumentiert anschaulich das puritanische Pamphlet A Glimpse of Sion's Glory (1664): Demnach gehen der Untergang "Babylons" und der Aufstieg des "neuen Jerusalems" mit einer Umkehrung sozialer Hierarchien einher. Als Beleg dient die Prophezeiung Jesajas im Alten Testament: "Und Könige sollen deine Pfleger und ihre Fürstinnen deine Ammen sein. Sie werden vor dir niederfallen zur Erde aufs Angesicht und deiner Füße Staub lecken." (Jes. 49,23) Das "gemeine Volk" kommt nun endlich zu seinem Recht. "Ihr seht, dass die Heiligen in der Welt jetzt wenig haben; jetzt sind sie die Ärmsten und Niedrigsten von allem; aber wenn die Adoption der Söhne Gottes in Gänze vollzogen ist, dann wird die Welt ihnen gehören (...). Nicht nur der Himmel soll eurer Reich sein, sondern auch diese Welt in ihrem leiblichen Sein." (zit. nach Voegelin 1994: S. 38-40)

[6] Die Auserwähltheit der US-amerikanischen Nation zählt bis zum heutigen Tage zum festen Bestandteil der politischen Rhetorik. In dem Präsidentschaftswahlkampf von 2008 bemühte u. a. die Gouverneurin Sarah Palin diesen Mythos: "Amerika ist eine Nation der Einzigartigkeit. Die leuchtende Stadt auf dem Berg sollen wir sein. (...) Keine perfekte Nation, aber zusammen stehen wir für ein vollkommenes Ideal, das heißt, Demokratie, Toleranz, Freiheit und Rechtsgleichheit", die als Kräfte "zum Guten in dieser Welt" einzusetzen seien (zit. nach SZ, 1.11.2008)



Literatur:

Badiou, Alain (2002): Paulus. Die Begründung des Universalismus. München (Franz. Orig. 1977)

Bloch, Ernst (1977): Atheismus im Christentum. Frankfurt am Main (Erstveröffentlichung 1968)

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Davis, Mike (2007): Planet der Slums, Berlin (Engl. Orig. 2006)

Die Bibel (1999). Lutherische Standardausgabe mit Apokryphen. Stuttgart (Revidierte Fassung von 1984)

Feuerbach, Ludwig (2008): Das Wesen des Christentums. Stuttgart (Der Text entspricht der dritten Auflage von 1849)

Haag, Agathe (1981): Der Schriftsteller Pasolini. In: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Berlin, S. 125-132 (Erstveröffentlichung 1978)

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Hochgeschwender, Michael (2007): Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus, Frankfurt am Main/Leipzig

Jewett, Robert/Wangerin, Ole (2008): Mission und Verführung. Amerikas religiöser Weg in vier Jahrhunderten. Göttingen (Engl. Orig. 2008)

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Löwith Karl (1979): Weltgeschichte und Heilsgeschehen.
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Marx, Karl (2006): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW Bd.1. Berlin, S. 378-391

Marx, Karl (1973): Thesen über Feuerbach. In: MEW Bd. 3. Berlin, S. 5-7

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Spila, Piero (2002): Pier Paolo Pasolini. Rom (Ital. Orig. 1999)

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Sebastian Kalicha:

Anarchismus und Christentum

Plädoyer für einen differenzierten Blick

"Es wird als selbstverständlich angesehen, dass AnarchistInnen allen Religionen [...] feindlich gegenüber stehen. Es wird ebenfalls als selbstverständlich angesehen, dass gläubige ChristInnen die Anarchie, als Ursprung von Chaos und als Negation etablierter Macht, verabscheuen. Es sind diese simplifizierten und unbestrittenen Annahmen, die ich beabsichtige in Frage zu stellen."[1]
Jacques Ellul

Über einen Anarchismus zu diskutieren, der christlich ist, scheint für viele ebenso ungewohnt zu sein, wie über ein Christentum, das anarchistisch ist. Dennoch gibt es seit langer Zeit die in unterschiedlichen Ausformungen auftretende politisch-religiöse Strömung des christlichen Anarchismus. Es lassen sich viele Bewegungen und Persönlichkeiten in Geschichte und Gegenwart ausfindig machen, die die Idee eines libertären Christentums verfolgen und mit Nachdruck darauf hinweisen, dass Anarchismus und Christentum keine sich gegenseitig ausschließende Ideenlehren sein müssen sondern ganz im Gegenteil - einmal einen bestimmten Zugang gefunden - sich inhaltlich eher treffen als sich von einander entfernen. Was kann man sich aber unter der Bezeichnung "christlicher Anarchismus" genau vorstellen? Wie sieht ein Christentum, das von sich behauptet (oder von dem andere behaupten) anarchistisch zu sein, aus? Wie verträgt es sich mit dem "klassischen" Anarchismus, von dem gemeinhin die Vorstellung vorherrscht, er sei nicht- beziehungsweise anti-religiös? Und wie mit einem Christentum, das im Ruf steht, mit Sozialismen jeglicher Art inkompatibel zu sein?

Eine prägnanten Charakterisierung des christlichen Anarchismus - wenn man sich anmaßt derartiges in wenigen Sätzen formulieren zu wollen - könnte so aussehen: Das Christentum wird in einer Art und Weise begriffen, das letztendlich in politischen und sozialen Fragen auf etwas hinausläuft, das politisch Aktive in der Arbeiterbewegung des späten 19. Jahrhunderts begannen als "Anarchismus" oder "libertärer Sozialismus" zu bezeichnen - und zwar nicht trotz, sondern aufgrund dessen, was in der Bibel geschrieben steht. Es ist ein Anarchismus, der sich aus der Bibel und dem Leben und Wirken Jesu herleitet. Die Bibel und die Botschaft Jesu dienen so als Grundlage dafür, zu ähnlichen oder den selben Schlüssen zu gelangen wie sie von anarchistischen TheoretikerInnen formuliert wurden: den Staat mit all seiner Institutionen und RepräsentantInnen als illegitim anzusehen, den Kapitalismus als Wirtschaftssystem abzulehnen und eine egalitäre, dezentrale und gewaltfreie Gesellschaftsordnung, frei von Unterdrückung und Ausbeutung, an deren Stelle zu verwirklichen. Der französische Soziologe und Philosoph Jacques Ellul, der viel zur christlich-anarchistischen Theoriebildung beigetragen hat, schreibt daher in diesem Sinne, dass "biblisches Gedankengut direkt zum Anarchismus"[2] führe.

Aber es muss nicht immer notgedrungen eine bestimme Exegese der Bibel im Mittelpunkt stehen oder als ausschließlicher Ausgangspunkt für ein libertäres Verständnis des Christentums dienen. Für die Catholic-Worker-Bewegung - die eines der bekanntesten Beispiele dafür ist, dass selbst katholische ChristInnen sich positiv auf den Anarchismus beziehen können - war beispielsweise neben einem libertären Verständnis der Bibel auch immer klar, dass sie sich auf zahlreiche unterschiedliche politische und philosophische Ideenlehren und Strömungen der Linken beriefen, durch deren Kombination und Vermengung schließlich diese neuartige Bewegung, die letztendlich als "christlich-anarchistisch" bezeichnet wurde, entstand. Einer der Gründer der Catholic-Worker-Bewegung, Peter Maurin, war zum Beispiel stark durch drei Denkschulen geprägt, nämlich die der französischen PersonalistInnen (Emmanuel Mounier, Jacques Maritain), der russischen AnarchistInnen (Peter Kropotkin, Leo Tolstoi)[3] sowie der englischen DistributionistInnen (Eric Gill, G.K. Chesterton, Hilaire Belloc).[4] Die Spuren, die die Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW), bei denen z.B. die einflussreichen Catholic Workers Dorothy Day und Ammon Hennacy Mitglieder waren, in den Aktionen und den politischen Schwerpunktsetzungen der Catholic-Worker-Bewegung hinterlassen hat, ist ebenfalls evident.[5] Beschäftigt man sich näher mit dem Anarchismusverständnis der Catholic Workers, so ist das Bild wiederum eines das einer Differenzierung und Spezifizierung bedarf. Die Catholic Workers sind weder "von Stirners extremen Individualismus" noch von "Bakunins Glaube an die schaffende und erlösende Kraft von Gewalt und Zerstörung" beeinflusst, sehr wohl aber von "dem pazifistischen Anarchismus Tolstois, dem kommunistischen Anarchismus Kropotkins und [...] vom Mutualismus Proudhons".[6] Hier soll aber natürlich nicht die Behauptung aufgestellt werden, Anarchismus und Christentum seien im Grunde genommen das gleiche. Die historischen und ideengeschichtlichen Wurzeln des Christentums und des Anarchismus sind natürlich unterschiedliche, was jedoch einem anarchistischen Verständnis des Christentums nicht im Wege steht muss, was Ciaron O'Reilly, ebenfalls Aktivist bei der Catholic-Worker-Bewegung, meint, wenn er schreibt, dass "die Prämisse des Anarchismus dem Christentum und der Botschaft der Evangelien inhärent"[7] sei.



Zum Verhältnis von Anarchismus und Christentum

Der Mainstream der christlichen Kirchen steht bekanntlich traditionell sozialistischem Gedankengut skeptisch bis ablehnend gegenüber. Oft genug haben anarchistische und sozialistische Bewegungen sich durch ihren Atheismus und Materialismus definiert; ihr aufklärerisches und fortschrittliches Selbstverständnis bezogen sie gerade aus ihrer Ablehnung von Religion und Kirche. Dennoch gibt es in beiden Gemeinschaften oft Grund genug, dieses vorgefertigte Bild in Frage stellen. Auf christlicher Seite seien - neben den sich dezidiert als christlich-anarchistisch bezeichnenden Bewegungen und Individuen - diverse Bewegungen wie die Diggers, die Duchoborzen, die Quäker[8], die Befreiungstheologie[9] aber auch mittelalterliche religiöse Bewegungen wie die Waldenser (die von der Kirche als Ketzer gebrandmarkt und dementsprechend verfolgt wurden) genannt. Die hier Genannten waren oder sind zwar nicht anarchistisch im Sinne einer Selbstbezeichnung (oft schlicht deshalb, weil das Wort Anarchismus in Verbindung mit einer politischen und sozialen Bewegung erst im 19. Jahrhundert auftauchte), aber eine libertäre und progressive Dimension, aufgrund derer es auch AnarchistInnen nicht schwer fallen dürfte, sich positiv auf diese zu beziehen, lässt sich hier allemal finden. Auf anarchistischer Seite gab und gibt es verschiedene Individuen und Gruppen, die u.a. aufgrund ihrer Exegese der Bibel, diverser häretischer Bewegungen oder einer positiven Bezugnahme zu den christlichen Urgemeinden, eine libertäre Dimension im Christentum erkannten - auch, wenn sie selbst nicht notwendigerweise religiös oder gläubig waren.

Dennoch haben es christliche AnarchistInnen nicht immer ganz leicht, denn in jenen Gemeinschaften - anarchistischen und christlichen -, deren Ideenlehren sie versuchen in unterschiedlicher Art und Weise zusammenzuführen, ist eben dieses Vorhaben häufig von Skepsis oder im schlimmsten Fall von schlichter Ablehnung begleitet. Dave Andrews weist beispielsweise darauf hin, dass in einer zeitgenössischen Bibelübersetzung der "Antichrist" als "Anarchist" übersetzt wurde. Daher sei es "verständlich, weshalb so viele ChristInnen die AnarchistInnen als ihre Erzfeinde begreifen."[10] Obwohl eine derartige Terminologie bezeichnend ist, geht das gesamte Thema doch weit darüber hinaus. Der Anarchismus begreift sich als eine revolutionäre und libertäre Form des Sozialismus und es ist gemeinhin bekannt, wie belastet das Verhältnis zwischen Christentum (bzw. der Kirche) und Sozialismus war und ist, selbst, wenn es immer wieder löbliche Ausnahmen von dieser Norm gab. In der anarchistischen Bewegung - auch das ist alles andere als ein Geheimnis - haben anti-klerikale oder anti-religiöse Überzeugungen eine starke und lange Tradition. Man kann in einen ganz beliebigen anarchistischen Klassiker des späten 19. oder frühen 20. Jahrhunderts einen Blick werfen, Statements gegen Kirche und Religion fehlen fast nie, weshalb eine ablehnende Haltung Religion gegenüber auch gerne als ein anarchistisches "Essential" betrachtet wird. Nehmen wir einen der bekanntesten Anarchisten, Michael Bakunin: Er warnt in Gott und der Staat davor, dass die Religion "die Völker verdummen und verderben" würde und sie die Vernunft, "dieses Hauptwerkzeug der menschlichen Befreiung" in den Menschen töte. Er schlussfolgert: "Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Sklave; der Mensch kann und soll aber frei sein: Folglich existiert Gott nicht."[11] Oder Erich Mühsam: Er sieht Religion und Staat als miteinander verwobene Unterdrückungsinstrumente und schreibt in Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat, dass "Gott und der Staat [...] die beiden Pole der Macht" seien, die "auf der Verneinung von Gleichberechtigung, Gegenseitigkeit und Selbstverantwortung"[12] beruhten. Es ist müßig, ob der ohnehin weithin bekannten anti-klerikalen und anti-religiösen Argumente in der anarchistischen Bewegung, weiter auf diverse Schriften dieser Art, die teilweise in Polemiken wie Johann Mosts Die Gottespest abdrifteten, hinzuweisen, da sie ohnehin zumeist weitaus bekannter sind als differenzierte Positionen zum Thema, denen hier Platz eingeräumt werden soll.

Denn: So starr, wie es in diesen Zitaten klingen mag und viele AnarchistInnen glauben mögen, ist die libertäre Front gegen alles Religiöse auch wieder nicht. Peter Kropotkin - einer der wichtigsten Vertreter des kommunistischen Anarchismus und sicher weit davon entfernt ein christlicher Anarchist zu sein - gesteht dem Christentum zum Beispiel zu, dass es erst durch die Institutionalisierung korrumpiert worden ist, wenn er das Christentum als "die Empörung gegen das kaiserliche Rom" beschreibt, das "durch dasselbe Rom" besiegt wurde, indem es "dessen Maximen, Sitten und Sprache an[nahm]" und so "römisches Recht"[13] wurde. Er ging sogar noch weiter und schrieb, dass es "in der christlichen Bewegung [...] zweifellos ernstzunehmende anarchistische Elemente" gegeben habe. Der "anarchistische[.] Gehalt", den er in den "Anfängen" des Christentums verortete, verschwand für ihn aber, als "diese Bewegung [allmählich] zu einer Kirche [entartete]".[14] Diese Argumentation unterscheidet ihn von vielen christlich-anarchistischen TheoretikerInnen de facto nicht. Kropotkin war es auch, der in seinem Anarchismus-Artikel für die Encyclopædia Britannica (eleventh ed.) die frühen Hussiten, die Anabaptisten und den Theologen Hans Denck[15] im positiven Sinne für erwähnenswert erachtete.

Ein anderer kommunistischer Anarchist, Pierre Ramus, hatte ganz offen Sympathien für den (anti-klerikalen) christlichen Anarchismus Tolstoischer Prägung, für libertäres Christentum und die Botschaft Jesu insbesondere der Bergpredigt.[16] In einem Artikel aus dem Jahre 1920, der in der Zeitschrift Erkenntnis und Befreiung erschien, schreibt Ramus:

"[D]as bestehende System der Gewalt beruht in der Gewaltbetätigung der Massen auf allen individuellen und sozialen Gebieten, und diese Betätigung entstammt der irrigen, geistlosen Gewaltverehrung des Proletariats, die künstlich gezüchtet wird durch Staat, Schule, Militarismus, Kirche, Partei und demagogenhafte Machtgier. Im Augenblick, wo das Proletariat die Betätigung der von ihm geforderten Gewalt auf allen Gebieten der bestehenden Gewaltordnung verweigert - und darin besteht der Wesenskern des Christentums, wie Tolstoi es lehrt - bricht diese ganze Gewaltordnung ohnmächtig zusammen und, was vielleicht das allerwichtigste: es entsteht keine neue - Mensch wie Gesellschaft sind endlich befreit, frei."[17]

Ein anderer Autor ergänzt in der anarchistischen Zeitschrift Wohlstand für Alle:

"Leo Tolstoi ist Religion nicht ein bildlich wahrnehmbarer Gottesbegriff, auch nicht die Verehrung irgend einer Jesugestalt, eines Bibelwortes, einer Reliquie. Alles dies sind ihre Äußerlichkeiten, die die Kirche geschäftlich ausbreitet. Für Tolstoi ist Religion: ein wahres Leben im Dienste des Wohles deines Nebenmenschen, im Dienste der Erfüllung einer höheren Pflicht, sich und sein ganzes einzusetzen für die Verwirklichung des Guten. Was ihm dieses ist, weiß man, wenn man das Ideal des Anarchismus kennt [...]."[18]

In einem weiteren Artikel der Zeitschrift Erkenntnis und Befreiung setzt ein Autor das Christentum und den Anarchismus gänzlich auf eine Stufe: "[D]ie Lehre, die das Christentum in Bildern und Gleichnissen von unerhörter dichterischer Pracht verkündet, - dieselbe Lehre lehrt der kommunistische Anarchismus in der Sprache der Wissenschaft."[19]

Gustav Landauer ist auch ein gutes Beispiel für jemanden, der zwar kein christlicher Anarchist war, sich aber dennoch durch seinen differenzierten Zugang zu unterschiedlichen Facetten des Christentums auszeichnete. Landauer bezog sich, wie so viele andere nicht-religiöse AnarchistInnen auch, positiv auf Tolstoi sowie auf mittelalterliche christliche Gemeinschaften bzw. auf den zur Zeit der Hussitenbewegung lebenden Laientheologen Peter Chelcicky.[20] Zudem beschäftige er sich ausgiebig mit dem spätmittelalterlichen Theologen und Mystiker Meister Eckhart und dann und wann bezog auch er sich in kurzen Nebenkommentaren positiv auf Jesus selbst.[21]

Dass, davon ausgehend, das Verhältnis zwischen Anarchismus und Christentum in anarchistischer Literatur jüngeren Datums häufig mit der nötigen Differenzierung dargestellt wird und auf polemische Rundumschläge gegen alles Religiöse/Christliche verzichtet wird, ist deutlich zu erkennen. In vielen Standard- und Einführungswerken zum Anarchismus wird der christliche Anarchismus als Teil der anarchistischen Bewegung ganz selbstverständlich erwähnt und behandelt. In Demanding the Impossible. A History of Anarchism schreibt Peter Marshall beispielsweise, dass "trotz der Opposition vieler klassischer anarchistischer DenkerInnen des 19. Jahrhunderts dem Christentum gegenüber, und trotz der engen Bindung von Kirche und Staat, der Anarchismus [...] keinesfalls seinem Wesen nach anti-religiös oder anti-christlich" sei. "Genau so wie andere Weltreligionen", so Marshall, habe "auch das Christentum ein uneinheitliches Vermächtnis hinterlassen, es war aber stets eine Quelle großer Inspiration sowohl für den Anarchismus, also auch für den Sozialismus und wird dies auch zweifelsohne in der Zukunft bleiben."[22] Ähnlich argumentiert Murray Bookchin wenn er schreibt, dass das Christentum "nicht nur ein zentralisiertes, autoritäres Papsttum" hervorgebracht habe, sondern auch "die Antithese dazu: einen quasi religiösen Anarchismus".[23] Er schreibt von einer "gemischten Botschaft" des Christentums, die er in zwei unterschiedliche Glaubenssysteme einteilt, wobei er eines davon als "radikale, aktivistische, kommunistische und libertäre Vision christlichen Lebens" bezeichnet.[24] George Woodcock fasst in Anarchism. A History of Libertarian Ideas and Movements seine Ausführungen zu Tolstoi und dem christlichem Anarchismus so zusammen: "Ich denke, ich habe genug gesagt, um zu veranschaulichen, dass [...] Tolstois soziale Lehre wahrhaftiger Anarchismus ist, die die autoritäre Beschaffenheit der existierenden Gesellschaft verurteilt, eine neue, libertäre Ordnung vorschlägt und auf die Mittel hinweist, durch die man sie erreichen könnte."[25] Der Historiker James Joll geht noch einen Schritt weiter und attestierte in seinem Buch Die Anarchisten dem Anarchismus an sich gar eine religiöse Dimension, wenn er schreibt, der Anarchismus sei "sowohl ein religiöses Bekenntnis als auch eine rationale Philosophie."[26] Ähnliches lässt sich auch in den Schriften des britischen Anarchisten und Atheisten Nicolas Walter finden.[27] Diese Liste an Beispielen, die darauf hindeuten, dass selbst in der gemeinhin als strikt anti-religiös geltenden anarchistischen Bewegung eine differenzierte Meinung zu Religion und Christentum nichts völlig neuartiges oder gar obskures ist, ließe sich fortführen.[28]

Ähnlich differenzierte Zugänge kann man aber auch auf christlicher Seite erkennen. Beispiele von Priestern, TheologInnen oder religiösen Menschen, die immer wieder eine erstaunliche (und fast vergessene) Rolle in der anarchistischen Bewegungen spielten, sollten ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. Hier gäbe es einige aufzuzählen, beispielhaft sollen an dieser Stelle aber drei in der gebotenen Kürze angeführt werden, die wohl kaum einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, aber nicht minder bemerkenswert, sind: Thomas J. Hagerty, Aita Patxi und Gresham Kirkby.[29] Der katholische Priester Thomas J. Hagerty (ca. 1862-1920) aus den USA war einflussreicher Aktivist und Gründungsmitglieder der bereits angesprochenen IWW, in der zwar nicht nur, aber auch viele AnarchistInnen und AnarchosyndikalistInnen mitwirken. In einer der wenigen Studien zu ihm heißt es:

"Von den knapp 200 Delegierten, die sich im Juni 1905 in Chicago trafen um die Industrial Workers of the World (IWW) zu gründen, war niemand einflussreicher darin diese neue Organisation zu prägen als Thomas J. Hagerty, der Sekretär des Gründungskomitees der Versammlung. Hagerty spielte nicht nur eine führende Rolle bei dem Treffen selbst; er war auch wichtig, wenn nicht ausschlaggebend, bei den Vorbereitungen zu dem Treffen. Er war einer jener sechs Personen, die im Herbst 1904 Einladungen an eine ausgewählte Gruppe von GewerkschaftsaktivistInnen versandten, um die Möglichkeit zu diskutieren, eine revolutionäre Industriegewerkschaft zu gründen; er nahm an den Diskussionen teil als sich diese Gruppe im Januar 1905 traf; er half dabei das Industrial Union Manifesto, eine Aufforderung an alle ArbeiterInnen gegen Facharbeiterprivilegien und Kapitalismus zu revoltieren, zu formulieren; er gab der IWW das Schaubild ["Father Hagertys Glücksrad"; Anm. S.K.] für ihre industriell-gewerkschaftliche Struktur; und er war vor dieser Versammlung für sechs Monate der Herausgeber von Voice of Labor, dem offiziellen Presseorgan der American Labor Union, in der er überzeugend die Verdienste des industriellen Unionismus erörterte."[30]

Und selbst im Spanischen Bürgerkrieg, wo die mit dem spanischen Faschismus unter Franco verbündete katholische Kirche den diversen sozialistischen, kommunistischen oder anarchistischen Milizen gegenüberstand, reihte sich der katholische Priester Aita Patxi (1910-1974) auf Seiten der republikanischen Kräfte ein - stets unbewaffnet, lediglich mit einem schweren, tragbaren Altar bei sich. Er war "kein Parteigänger Francos. Er stand, als Katholik und Baske, auf Seiten der Republik, der baskischen Milizen, Kommunisten, Sozialisten und Anarchisten." Gefangen genommen wurde er schließlich ausgerechnet von einem auf franquistischer Seite kämpfenden katholischen Priester. "Aita Patxis Entsetzen, einen Glaubensbruder mit gezogener Waffen zu sehen, wird nur von der Wut der Franquisten übertroffen, dass ein Pfarrer sich mit den 'Roten' gemein machen konnte."[31]

Auch der englische Priester Gresham Kirkby (1916-2006) ist ein beeindruckendes Beispiel für die Rolle von Priestern in der anarchistischen/sozialistischen Bewegung. Er war ein aktiver Unterstützer der Campaign for Nuclear Disarmament sowie Mitglied der antimilitaristischen, britischen Gruppe Committee of 100, die anarchistische Züge hatte und in der viele bekannte AnarchistInnen wie Nicolas Walter, Alex Comfort und Herbert Read sowie der libertäre Philosoph Bertrand Russell aktiv waren. Er war stark von Peter Kropotkin und Dorothy Day beeinflusst, bezeichnete sich als "anarchistischen Kommunisten" (bzw. nach 1956 als "anarchistischen Sozialisten") und bezeugte noch am Sterbebett seinen "unsterblichen Glauben an die Anarchie".[32]

Eine zusammenfassende Betrachtung des Verhältnisses von Anarchismus und Christentum könnte also so aussehen, dass das argumentative Hauptmotiv in vielen anarchistischen Klassikern gegen das Christentum - wie wir bereits gesehen haben - zumeist jenes ist, dass die Kirche und der Staat die beiden Institution seien, die gemeinsam nach ihrem Machterhalt strebten und folglich versuchten die Menschen mit Vorschriften und diversen religiösen (Irr)Lehren in einem Zustand der Unterdrückung zu belassen. Historisch ist der Schluss, dass die Institution Kirche ihre Machtposition in unterschiedlichsten Epochen schändlichst ausgenutzt hat, durchaus zutreffend und es verwundert nicht, dass sich insbesondere AnarchistInnen vehement gegen eine derartige Machtkonzentration wandten. Gleichzeitig wird bei genauerer Betrachtung jedoch deutlich, dass sich selbst unter der gemeinhin als strikt anti-religiösen anarchistischen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts häufig Positionen finden, die dieses oft unwidersprochene Bild in einem anderen Licht erscheinen lassen.[33] Von anarchistischer Seite wurden zudem offenbar häufig Überlegungen ausgespart, wie sich die Vorzeichen ändern, wenn ChristInnen diese Symbiosen aus Kirche und Staat (wie es in vor-laizistischen Zeiten der Fall war), aus Religion und (institutionalisierter) Macht beginnen anzuzweifeln, ja gar offen zu kritisieren oder abzulehnen und sich dabei ebenso auf die Bibel berufen wie jene, die all dies mit der Bibel rechtfertigen. Beispiele gibt es dafür genug. Ein weiterer Aspekt, der häufig ins Feld geführt wird, ist die Frage nach Gott. Der Glaube an einen Gott wird in anarchistischen Kreisen als die bewusste Akzeptanz von Herrschaft und Autorität verstanden, was mit anarchistischen Werten nicht vereinbar sei. Diese Frage nach Gott steht und fällt natürlich mit der Frage, welchen Gottesbegriff man hat - und auch hier gibt es zahlreiche Ansichten, die in einschlägigen Debatten relativ selten zur Sprache kommen.[34]



Für einen differenzierten Blick

Der britische Anarchist und Atheist Nicolas Walter meinte in einer Rede zum Thema Religion und Anarchismus, nachdem er nicht weniger als 35 AnarchistInnen und ihre ablehnende Haltung gegenüber Religion aufgezählt und ihre Geschichten erläutert hatte, zum Verhältnis von Anarchismus und Christentum zusammenfassend wenig überraschend, dass "es in der Tat eine starke Korrelation zwischen Anarchismus und Atheismus" gebe. Dennoch fügte er hinzu, diese sei "aber nicht vollständig und nicht zwingend." Er erwähnte deshalb auch einige christliche AnarchistInnen bzw. AnarchistInnen mit einem differenzierteren Zugang zum Thema wie Leo Tolstoi, Dorothy Day[35], Paul Goodman oder Herbert Read, und ergänzt folglich: "Die meisten AnarchistInnen sind nicht-religiös oder anti-religiös - und die meisten betrachten ihren Atheismus als selbstverständlich -, manche AnarchistInnen sind jedoch religiös." Er schlussfolgert daher, dass es "zahlreiche legitime libertäre Ansichten zu Religion"[36] gebe. Und um genau diese zahlreichen legitimen libertären Ansichten zu Religiösem geht es hier; in diesem Fall um einen differenzierten Blick auf das Christentum, welcher sich mit Bestimmtheit lohnt, denn hier gibt es aus linker, progressiver und aus anarchistischer Sicht zweifelsohne viel zu entdecken. Dasselbe gilt auch für ChristInnen, die bislang um den Anarchismus einen großen Bogen gemacht haben.

Eine kluge Einschätzung des Verhältnisses von Anarchismus und Christentum war in einer Schwerpunktnummer der anarchistischen Zeitschrift Graswurzelrevolution zu lesen. Hier heißt es, dass "[d]ie Verweigerung der Wahrnehmung einer klar erkennbaren jesuanischen Politik des Macht- und Gewaltverzichts [...] deshalb so tragische Konsequenzen" habe, weil selbst die "allermeisten AnarchistInnen bis zum heutige Tag nicht begriffen haben, dass diese jesuanische Politik auch für ihre TrägerInnenschaft eine einzigartige Konzeption"[37] beinhalte.

E-Mail: gruppecora@gmx.net


Der oben stehende Text ist eine stark gekürzte und leicht veränderte Fassung des Artikels "Dimensionen libertärer Exegese. Reflexionen zum Verhältnis von Anarchismus und Christentum", der in dem von Sebastian Kalicha herausgegebenen Sammelband Christlicher Anarchismus. Facetten einer libertären Strömung veröffentlicht wird. Der Sammelband wird im Frühjahr 2013 im Verlag Graswurzelrevolution erscheinen.


Anmerkungen:

[1] Ellul 1998, S. 1.

[2] Ellul 1980, 15.

[3] An dieser Stelle sollte noch Nikolai Berdjajew angeführt werden, der sich zwar nicht als Anarchisten bezeichnete, dessen Philosophie jedoch libertäre Züge aufweist. Er gilt gemeinhin als einer der Hauptvertreter des Personalismus in Russland.

[4] Vgl. Bokenkotter 1998, 412. Aus der christlichen Geschichte gilt auch Franz von Assisi als ein wichtiger Bezugspunkt für Maurin, auf den er sich in seinen berühmten Easy Essays, die er für die Zeitung The Catholic Worker schrieb, häufig bezog (Vgl. Maurin 1949). Manche bezeichneten ihn sogar als den "Franz von Assisi des 20. Jahrhunderts". Für Ausführungen zum Verhältnis Maurin-Franz von Assisi vgl. u.a. York 2009, 53ff.

[5] Ein gutes Beispiel dafür, wie christliche und revolutionär-sozialistische Ideen hier ineinander übergingen, ist, dass die christlichen Werke der Barmherzigkeit von den Catholic Workers als direkte Aktion begriffen werden.

[6] Segers 1978, 211.

[7] O'Reilly 1982, 9.

[8] Eine interessante Verbindung zwischen Quäkertum und Anarchismus aus jüngerer Vergangenheit stellt z.B. das Movement for a New Society (MNS) aus den USA dar, das 1971 aus der Gruppe A Quaker Action Group entstanden ist. Obwohl 1988 aufgelöst, wird das MNS für den gegenwärtigen US-Anarchismus als wichtiger Impulsgeber betrachtet. Für diese Diskussion vgl. Cornell 2011.

[9] Obwohl die Befreiungstheologie gemeinhin als eher marxistisch orientiert gilt, gibt es auch eine Untersuchung zu anarchistischen Elementen in dieser Bewegung. Vgl. Damico 1987.

[10] Andrews 2005, 55.

[11] Bakunin 2007, 51.

[12] Mühsam 1973, 38.

[13] Kropotkin 1896a.

[14] Kropotkin 1913, 30.

[15] Auf Denck geht Kropotkin auch in "Die historische Rolle des Staates" ein. Vgl. Kropotkin 1896b, 45.

[16] Vgl. u.a. Müller-Kampel 2005, 32-37; Pavlic 2009, 30-33.

[17] Ramus 1920, 2.

[18] Weidner 1908. Kein Seitenangabe.

[19] Sonnenfeld 1921, 2.

[20] Vgl. Landauer 2003, 66f. Für genauere Ausführungen (Landauers und allgemein) zu Peter Chelcicky und zur Hussitenbewegung vgl. den Artikel von Gustav Wagner und Sebastian Kalicha "Peter Chelcicky und das Netz des Glaubens. Zur Ketzertradition des gewaltlosen Anarchismus" in dem vom Autor herausgegeben Buch Christlicher Anarchismus. Facetten einer libertären Strömung (Verlag Graswurzelrevolution 2013, noch nicht erschienen).

[21] Vgl. Landauer 2010, 293.

[22] Marshall 2008, 85.

[23] Bookchin 2005, 266.

[24] Bookchin 2005, 274f.

[25] Woodcock 2009, 194.

[26] Joll 1966, 8.

[27] Er schreibt: "Revolutionärer Anarchismus, ebenso wie revolutionärer Sozialismus, haben quasi religiöse Züge [...]" Walter 2011, 281.

[28] Für Beispiele religiös-anarchistischer Strömungen außerhalb des Christentums vgl. u.a.: Christoyannopoulos 2009, 202-318; Veneuse 2009. Jüdischer Anarchismus ist ein umfangreiches Thema für sich, und kann ob des Umfangs dieses Themas hier nicht weiter diskutiert werden.

[29] Es muss an dieser Stelle aber darauf hingewiesen werden, dass es viele derartige Beispiel gäbe und diese selektive Auswahl lediglich darauf zurückzuführen ist, welche Personen dem Autor als passend erschienen um sie hier in der gebotenen Kürze anzuführen.

[30] Doherty 1962, 39.

[31] Baxmeyer 2007. Baxmeyer schreibt an anderer Stelle zur Frage des Christentums im Spanischen Bürgerkrieg: "Tatsächlich war das Verhältnis des historischen Anarchismus zur christlichen Religion niemals so eindeutig wie dessen Feindschaft gegenüber der Kirche. Die Versuche der Anarchisten, während des Bürgerkriegs religiöse und kirchliche Kollektivsymbole für das 'ewige Spanien der Anarchie' im Sinne nationaler Identitätszeichen zu beanspruchen, sind weit weniger überraschend, wenn man sich verdeutlicht, dass es praktisch seit dem Entstehen der Bewegung Berührungen zwischen der anarchistischen Ideologie und christlichen Werten und Moralvorstellungen gab, die die Anarchisten auch in Spanien weit freimütiger anerkannten als Angehörige anderer linksrevolutionärer Strömungen." Baxmeyer 2012, 422.

[32] Leech 2006.

[33] Selbst im spanischen Anarchosyndikalismus zu Zeiten des Bürgerkriegs finden wir hier differenzierte Zugänge: "Zwischen den Kirchen als gesellschaftlicher Machtakteur und den Anarchisten [im spanischen Bürgerkrieg; S.K.] herrschte in der Tat unversöhnliche und oft mörderische Feindschaft. Dies bedeutete jedoch nicht die ebenso radikale Ablehnung des Christentums. Ganz auf die Gegenwart, den politischen Widerstand und den Nutzen für das soziale Miteinander konzentriert, konnten sich Anarchisten durchaus positiv auf christliche Werte und Moralvorstellungen beziehen, ohne in ideologische Konflikte zu geraten." Baxmeyer 2012, 427. Hervorhebung S.K.

[34] Einige Ausführungen zu diesem weitreichendem Thema finden sich in der ungekürzten Fassung dieses Artikels.

[35] Walter hatte als überzeugter Atheist sogar die Größe, zu Dorothy Day einen berührenden Nachruf zu schreiben. Er bezeichnete sie als "eine der größten Anarchistinnen, Pazifistinnen, Christinnen, Amerikanerinnen, Frauen - Menschen - unserer Zeit" und fügte hinzu, dass, als Day 1963 in London vor AnarchistInnen eine Rede hielt, sie "nichts sagte, dem wir widersprechen wollten." Walter 2011, 257ff; Hervorhebung im Original.

[36] Walter 2011, 284.

[37] Haller 1990, 15.



Literatur:

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Haller, W. 1990: Der jesuanische Weg. Das biblische Konzept einer alternativen, herrschaftsfreien Gesellschaft. In: Graswurzelrevolution 151, Dezember 1990, S. 15-17

Joll, James 1966: Die Anarchisten. Berlin: Uhlstein

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http://www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/peter-kropotkin/140-kropotkin-der-anarchismus

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Veneuse, Mohamed Jean 2009: Anarca-Islam. Ontario

Walter, Nicolas 2011: Damned Fools in Utopia and Other Writings on Anarchism and War Resistance. Edited by David Goodway. Oakland: PM Press

Weidner, Georg 1908: "Leo Tolstoi als Anarchist". In: Wohlstand für Alle, I. Jahrgang, Nr. 18 (Beiblatt "Ohne Herrschaft")

Woodcock, George 2009: Anarchism. A History of Libertarian Ideas and Movements. North York/Ontario: University of Toronto Press

York, Tripp 2009: Living on Hope While Living in Babylon. The Christian Anarchists of the Twentieth Century. Eugene, Oregon: Wipf and Stock Publishers

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María López Vigil/José Ignacio López Vigil:

Ein anderer Gott ist möglich. 100 Interviews mit Jesus Christus



Mit einem Vorwort von Konrad Raiser

Vorbemerkung der Redaktion: "Ein anderer Gott ist möglich", so lautet - in Anlehnung an den Slogan der globalisierungskritischen Bewegung - der Titel des Buches mit den 100 Interviews mit Jesus, aus dem wir hier Auszüge nachdrucken. Verfasst wurde es von den Maria López Vigil und José Ignacio López Vigil, die der lateinamerikanischen Befreiungstheologie nahestehen. Herausgeber ist das Institut für Theologie und Politik in Münster, das auch Mitglied der Interventionistischen Linken ist und auf deren Seiten sich viele spannende Beiträge zum Verhältnis von Glaube und Politik finden lassen (http://www.itpol.de). Unter
http://www.itpol.de/wp-content/uploads/2010/08/ein-anderer-gott-ist-moeglich.pdf ist übrigens das ganze Buch abrufbar! In den Interview mit Jesus, der nach 2000 Jahren auf die Erde zurückkehrt, gibt Jesus bereitwillig, wenngleich oft ob der Absurditäten der Verfasstheit der gegenwärtigen Gesellschaft, Auskunft über seine Botschaft; vor allem aber versucht er über die brutalen Entstellungen seiner Lebensgeschichte wie auch seiner Gedanken im Laufe von Jahrhunderten "christlicher" Herrschaft aufzuklären.



(1) Jesu Wiederkehr?

Journalist: Ja, hier soll es sein, hier in Jerusalem. Sie haben gerade die Pressekonferenz bestätigt.

Reporterin: Mikrofone, Kameras, alles klar?

Journalist: Beeilt euch, er muss gleich kommen!

Raquel: Hey, nicht schubsen! Ja, in Ordnung, ihr seid von der BBC oder von CNN, aber wir alle haben doch die gleichen Rechte, oder? Oder habt ihr etwa die Exklusivrechte gekauft?

Jesus: Uff, so viele Leute ... Schalom, Friede sei mit dir!

Raquel: Und du, wer bist du?

Jesus: Das wollte ich dich auch gerade fragen: Wer bist du? Besonders freundlich siehst du ja nicht gerade aus ...

Raquel: Die vom Fernsehen spielen sich auf, als ob sie hier die Chefs wären. Ich bin Raquel Pérez, Reporterin von Emisoras Latinas: Und du? Von irgendeiner palästinensischen Zeitung?

Jesus: Nein ... Ich komme von weit her und ...

Raquel: Ach so, ein Tourist. Wie du siehst, alle warten und warten und er ist immer noch nicht gekommen.

Jesus: Auf wen wartet Ihr denn? Wer soll denn kommen?

Raquel: Jesus Christus. Seine Rückkehr auf die Erde wurde angekündigt und das ist natürlich eine Nachricht für die Titelseite!

Jesus: Das gibt's doch nicht. Wer hat denn sein Kommen angekündigt?

Raquel: Was weiß ich, vielleicht ein Engel. Jedenfalls bin ich gleich mit dem ersten Flieger gekommen. Mal sehen, oh ich Glück habe und ein paar gute Aufnahmen machen kann, wenn er kommt.

Jesus: Naja, ich bin ja schon da. Ich bin Jesus.

Raquel: Du bist wer?

Jesus: Ich bin Jesus. Jesus Christus, wie du gesagt hast.

Raquel: Was sagst du? Du bist Jesus Christus, auf den hier alle warten?

Jesus: Ja. Warum glaubst du mir denn nicht?

Raquel: Weil... weil... weil du nicht... nicht...

Jesus: Weil ich nicht was?

Raquel: Du siehst hält nicht aus wie Jesus Christus.

Jesus: Und wie sieht Jesus Christus deiner Meinung nach aus?

Raquel: Ich weiß nicht, ich habe ihn ja noch nie gesehen. Aber du redest jedenfalls nicht, wie Jesus Christus reden würde.

Jesus: Und wie würde Jesus Christus reden? So: mit einer Donnerstimme?

Raquel: Keine Ahnung, ich bin nicht religiös, aber ...

Jesus: Ich meine es ernst. Ich bin Jesus, der aus Nazareth, auf den alle diese Leute warten.

Raquel: Ehrlich? Aber woher weiß ich denn, dass du, ich meine: dass Sie Jesus Christus sind?

Jesus: Und woher weiß ich, dass du ... wie war noch mal dein Name?

Raquel: Raquel, Raquel Pérez, von Emisoras Latinas.

Jesus: Woher weiß ich, dass Raquel wirklich Raquel ist? Du kannst mir ruhig vertrauen. Ich bin Jesus.

Raquel: Es geht ja gar nicht um Vertrauen. Es ist nur so, dass du, also ich meine, dass Sie nicht wie der Christus aus "König der Könige" aussehen. Auch nicht wie der Christus von Zefirelli und auch nicht wie der aus der "Passion Christi" von Mel Gibson.

Jesus: Wer sind denn diese Herren?

Raquel: Das sind Leute, die Filme über Sie gemacht haben.

Jesus: Filme?

Raquel: Kino, Filme ... das erkläre ich Ihnen später, ja? Also, ganz sicher, dass Sie Jesus Christus sind? Nehmen Sie mich auch nicht auf den Arm?

Jesus: Ja, ich bin's.

Raquel: Jesus Christus, der Sohn der Jungfrau Maria, der hier in Palästina vor 2000 Jahren gelebt hat, der vom Kreuz, der aus der Bibel, der ...?

Jesus: Ja, genau der. Aber bei so vielen Fragen komme ich ja selbst ins Zweifeln.

Raquel: Also, wenn ich das Glück habe, die Freude, die Ehre, oder wie soll ich sagen, Ihnen hier mitten in diesem Gewimmel von Journalisten zu begegnen, stehen Sie mir dann für ein Interview zur Verfügung, Herr Jesus Christus?

Jesus: Natürlich, Raquel, aber besser an einem anderen Ort, hier ist es doch ziemlich laut, oder?

Raquel: Studio? Ja, Aufnahme, bitte. Eins, zwei ... ja? ... ja? Freundinnen und Freunde von Emisoras Latinas, dank unseres besonderen journalistischen Gespürs konnten wir tatsächlich Jesus Christus ausfindig machen - mitten in dieser Menschenmenge, die seit Stunden auf dem Platz vor der Moschee im Herzen Jerusalems auf ihn wartet. Bleiben Sie dran! Wir sind gleich wieder bei Ihnen!

(28) Schuld oder Schulden?

Raquel: Heute sind wir in Tabga, auf dem Hügel mit den sieben Quellen, in der Nähe von Kapernaum. Jesus Christus selbst hat einen Besuch an diesem Ort vorgeschlagen. Warum?

Jesus: Erinnerungen. Ich bin oft hierhergekommen, nachts, um zu beten.

Raquel: Aber, Sie sind ja Gott selbst. Ist ein Gebet in Ihrem Fall nicht ein Selbstgespräch?

Jesus: Ich verstehe nicht, was du meinst, Raquel. Wieso sollte ich mit mir selbst sprechen? Ich sprach mit Gott. Ich bat Gott um das tägliche Brot, ich bat ihn um Kraft, ich dankte, ich bat ihn um seine Mithilfe, damit bald das Reich der Gerechtigkeit käme.

Raquel: Vielleicht ist das ein wenig indiskret, aber könnten Sie uns nicht eines Ihrer Gebete vorstellen?

Jesus: Warum nicht? Mein Lieblingsgebet zum Beispiel: Abbá, yitkadash shemaj, teté maljutaj, lajman delimjar...

Raquel: Entschuldigen Sie bitte meine Unwissenheit, aber welche Sprache ist das denn?

Jesus: Aramäisch, die Sprache, die wir in Galiläa damals sprachen.

Raquel: Könnten Sie uns das Gebet bitte übersetzen?

Jesus: Es geht so: Unser Papa im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe ...

Raquel: Das Gebet kenne ich! Sie beten das Vaterunser, richtig? Mit einem kleinen Unterschied: Sie haben "Papa" gesagt.

Jesus: Ja, abbá, Papa.

Raquel: Ausdruck einer übertriebenen Vertraulichkeit mit Gott?

Jesus: Zu Gott kann man gar nicht zu viel Vertrauen haben. Er kennt uns, liebt uns.

Raquel: Ich kann Ihnen sagen, dass kein anderes Gebet auf der Welt so bekannt ist wie dieses.

Jesus: Ach wirklich?

Raquel: Ja, das ist der Bestseller unter den Gebeten. Millionen von Menschen beten es jeden Tag.

Jesus: Na, das ist aber wirklich eine gute Nachricht, Raquel. Denn wenn das so ist, dann gibt es ja keine Halsabschneider mehr auf der Welt. Mein Traum ist also Wirklichkeit geworden.

Raquel: Entschuldigen Sie, Jesus Christus, aber wovon sprechen Sie denn jetzt?

Jesus: Von meinem Gebet. Wenn es so oft gebetet wird, dann sind doch sicher alle Schulden erlassen, annulliert worden.

Raquel: Die Schulden? Was meinen Sie denn?

Jesus: Ich meine das, worum ich in meinem Gebet bitte. Erinnere dich, Raquel. Wie fängt das Gebet an? Wie lauten die Worte?

Raquel: Wenn ich mich irre, dann korrigieren Sie mich bitte. Also: "Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden." Alles richtig?

Jesus: Ja,ja, mach weiter.

Raquel: Unser tägliches Brot gib uns heute.

Jesus: Weiter.

Raquel: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern ...

Jesus: Nein, nein, nein!

Raquel: Wieso nein?

Jesus: Weil ich das nicht gesagt habe. Ich habe nicht von Schuld gesprochen.

Raquel: Na, dann eben von Sünde, ist doch das gleiche.

Jesus: Nein, ich habe von Schulden gesprochen.

Raquel: Schulden bei Gott?

Jesus: Schulden beim Wucherer.

Raquel: Aber ...

Jesus: Geldschulden, Raquel.

Raquel: Warten Sie mal bitte einen Moment. Ich bekomme gerade einen Anruf ... Ja, hallo?

Cisneros: Hier ist Liana Cisneros von Jubilee 2000. Ich möchte Jesus Christus gratulieren und allen Hörerinnen und Hörern sagen, dass das Vaterunser tatsächlich verfälscht wurde. Das Gebet bezieht sich in der Tat auf materielle Schulden.

Jesus: Siehst du, Raquel, ich hatte recht.

Raquel: Sie sagen, das Vaterunser wurde verfälscht?

Cisneros: Ja. Es ist so wie beim entkoffeinierten Kaffee: Ihm wurde seine Essenz entzogen.

Raquel: Worin genau besteht denn die Essenz?

Cisneros: Das kann Ihnen Jesus Christus besser als ich erklären. Bis bald!

Raquel: Dankeschön, Frau Cisneros. Jesus Christus?

Jesus: Pass auf, Raquel. Zu meiner Zeit verdienten die Armen so wenig, dass sie Schulden machen mussten, um ihre Familien ernähren zu können. Sie hatten Schulden bei den Großgrundbesitzern, bei den Wucherern. Ungerechte Schulden, die sich verewigten, die sie auch in tausend Jahren nicht bezahlen konnten, und sie starben erniedrigt und verzweifelt.

Raquel: So war es damals und so ist es auch heute noch.

Jesus: Von diesen Schulden habe ich gesprochen. Ich bat Gott, er möge dieses Joch zerbrechen. Gott wird uns nicht vergeben, wenn wir nicht vorher den Allerärmsten die Schulden erlassen.

Raquel: Vielleicht ist Ihnen das gar nicht bewusst, aber sie benennen da ein hochaktuelles Thema. Denn es gibt reiche Länder, die sich christlich nennen, aber den armen Ländern nicht die Schulden erlassen wollen. Und es gibt internationale Institutionen, die ihren Schuldnern die Kehle zuschnüren.

Jesus: Ich kann dir nur versichern, dass Gott ihnen nicht vergeben wird, wenn sie nicht vorher diese Schulden erlassen. Wort des lebendigen Gottes.

Raquel: Dank sei Gott ... Aus Tabga, in der Nähe von Kapernaum, für Emisoras Latinas: Raquel Pérez.

(76) Eine Heiligenfabrik?

Raquel: Wir nehmen unsere Übertragung wieder auf und stehen nun außerhalb der Kirche mit den vielen Heiligen ... Nein, besser wir nennen nicht den Namen der Kirche, um Empfindlichkeiten zu vermeiden. Jesus Christus, der sich an meiner Seite befindet, ist immer noch sehr überrascht über das, was wir in dieser Kirche gesehen haben. Dabei ist die Kirche ja nicht so anders als viele andere, die auch alle voll sind mit Bildern und Heiligen. Was denken Sie darüber?

Jesus: Götzendienst. Bilder zu verehren ist Götzendienst.

Raquel: Die Katholiken sagen, dass sie die Bilder nicht anbeten, sondern verehren.

Jesus: Verehren? Das Wort kenne ich nicht, es bleibt aber das Gleiche. Statt mit Gott zu sprechen, der in ihren Herzen wohnt, knien sie vor einem Stück Holz.

Raquel: Ein Anruf ... Ja, Hallo?

Andrés: Ich bin Andrés Pérez Baltodano. Ich rufe aus Kanada an.

Raquel: Ja, bitte, Herr Baltodano.

Andrés: Ich möchte Jesus Christus nur sagen, dass das Problem nicht im Verb, im "verehren" liegt, sondern im Substantiv.

Raquel: In welchem Substantiv?

Andrés. Mit dem Substantiv "Einnahmen", die die katholische Kirche aus dem Handel mit Heiligen erzielt.

Raquel: Herr Andrés, könnten Sie uns das bitte ein wenig genauer erklären?

Andrés: Vielleicht weiß Jesus Christus es ja noch nicht: Die Fabrik der Heiligen ist noch nicht geschlossen worden.

Jesus: Die Fabrik der Heiligen?

Andrés: In der Kirche, die Sie besucht haben, konnten Sie viele alte Heilige sehen, Heilige aus früheren Jahrhunderten. Aber allein während des Pontifikats von Johannes Paul II. wurden 464 neue Heilige produziert, nein, kanonisiert. Das ist mehr als in den letzten fünf Jahrhunderten zusammen.

Raquel: Und warum brauchen wir neue Heilige? Haben wir noch nicht genug?

Andrés: Die Heiligen halten die Menschen auf den Knien. Und außerdem bessern sie die Finanzen des Vatikans auf.

Jesus: Wie denn das?

Andrés: Einen Heiligen zu produzieren, das ist ein komplizierter Prozess, Jesus Christus. Zeugen, Gerichtsprozesse, Experten, nachgewiesene Wunder, Untersuchungen der Leiche, um zu sehen, ob sie unverwest erhalten ist ... Eine solche Untersuchung dauert viele Jahre.

Raquel: Und das ist teuer, nicht wahr?

Andrés: Sehr teuer. Dieses Geld wandert in die vatikanischen Kassen. Das ist wichtig! Von hundert im Laufe der Geschichte kanonisierten Heiligen, waren nur fünf wirklich arme Leute. Die große Mehrheit waren Fürsten, Könige, Königinnen, Bischöfe, Äbtissinnen. Die ihnen Nahestehenden bezahlten ein Vermögen, damit sie heiliggesprochen wurden. Heute ist die Fabrik der Heiligen viel besser organisiert: Niemand kommt zur Ehre der Altäre, der keine mächtige Institution hinter sich hat.

Jesus: Darf ich Sie was fragen, Herr Baltodano?

Andrés: Ja sicher, Jesus Christus.

Jesus: Wofür macht man das alles?

Andrés: Den Prozess der Kanonisierung?

Jesus: Ja. Wenn das so teuer ist ...

Andrés. Um zu beweisen, dass der Heilige bei Gott im Himmel ist.

Jesus: Aber dies bedeutet, den Schatz dort zu suchen, wo er nicht ist. Die Heiligen sind nicht im Himmel, sondern auf der Erde!

Raquel: Nun bin ich diejenige, die nichts versteht.

Jesus: Die Heiligen sind unter uns. Sie sind aus Fleisch und Blut. Die Frauen, die ihr Leben verausgaben, um ihre Kinder vorwärtszubringen, sie sind Heilige. Die Bauern, die auf dem Feld arbeiten, vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. Die Leute, die für die Gerechtigkeit kämpfen. Die Menschen, für die Gott und ihre Schwestern und Brüder wertvoller sind als das Geld, das sind die Heiligen.

Raquel: Uns hat man immer gesagt, dass Heilige Menschen sind, die schon gestorben sind und dass sie vom Himmel aus Wunder tun.

Jesus: Nein, die Heiligen sind lebendige Menschen. Das Wunder, das sie vollbringen, ist das gute Beispiel, das sie geben. Mein Vater Josef war ein Heiliger, aber nicht wegen der Krone, die man dieser Puppe in dieser Kirche hinter uns aufgesetzt hat, sondern weil er gerecht war bis zum letzten Tag seines Lebens.

Raquel: Aber ... wenn die Heiligen diejenigen sind, die sich hier auf der Erde befinden, wie heißen dann die anderen, die bei Gott sind?

Jesus: Das musst du Gott fragen.

Raquel: Ein herzliches Dankeschön an den Hörer, der uns aus Kanada angerufen hat. Und Danke so vielen Heiligen, die ganz sicher zur großen Hörerschaft von Emisoras Latinas gehören. Aus Jerusalem berichtete Raquel Pérez.

(96) Der erwartete Messias?

Raquel: Emisoras Latinas sendet heute aus einem wunderschönen Tal in Galiläa. Wir übertragen die letzten Gespräche mit Jesus Christus während seines zweiten Kommens auf die Erde.

Jesus: Shalim, Raquel!

Raquel: Shalim? Sonst haben Sie mich doch immer mit "Shalom" begrüßt.

Jesus: Shalim sagte man zu meiner Zeit auf Aramäisch. Shalom sagt man heute auf Hebräisch. Es ist dasselbe: Friede sei mit dir!

Raquel: Sagen Sie es, wie Sie wollen, aber Frieden ist das, was die Welt am meisten nötig hat. Vielleicht haben Sie es schon bemerkt: Die drei Religionen, die an einen Gott glauben, haben die Geschichte der Menschheit mit Gewalt erfüllt. Ich spreche vom Judentum, der Religion Ihrer Väter, vom Christentum, der Religion, die Sie gegründet haben, und vom Islam, der Religion, die nach Ihnen Mohammed verkündet hat.

Jesus: Ich muss es leider noch einmal sagen, Raquel. Ich habe keine Religion gegründet.

Raquel: Dann hat man sie eben ohne Ihre Erlaubnis gegründet. Denn es gibt sie und zwar mit ziemlich viel Lärm.

Jesus: Mit welchem Namen wird Gott in der christlichen Religion angebetet?

Raquel: Mit welchem wohl? Mit Ihrem, Jesus Christus. Deshalb habe ich Sie in allen Interviews so genannt Jesus Christus. Sind Sie etwa nicht der Christus? Und ist der Christus etwa nicht der Messias, der Befreier?

Jesus: Pass mal auf, Raquel. Eine Zeit lang suchte mein Volk einen Gesalbten, einen Messias. Jemanden, der die Führung übernimmt und die Probleme dieser Welt löst. Er sollte das Joch der Tyrannen brechen und den Armen Gerechtigkeit bringen. Zuerst stellte man sich vor, er käme wie ein Krieger auf einem Pferd daher. Dann wie ein leidender Knecht. Und dann ...

Raquel: Und dann kamen Sie.

Jesus: Nein. Es kamen viele. Vor mir kämpften viele. Von Moses bis zu den Makkabäern gaben viele ihr Leben, um das Volk zu befreien. Auch viele Frauen, Miriam, Judith, Esther ... Viele Propheten, die eine neue Welt ankündigten.

Raquel: Und dann kamen Sie.

Jesus: Dann entdeckten einige, dass der Christus, der Messias, der so lange Zeit erwartet wurde, nicht nur in einer Person besteht, sondern in vielen Frauen und Männer.

Raquel: Ein kollektiver Messias?

Jesus: Ja, das Volk. Das Volk geht in der Finsternis und sieht ein großes Licht. Dieses Licht ist ihr eigenes Gesicht, gespiegelt im Gesicht Gottes.

Raquel: Entschuldigung ... jetzt verstehe ich gar nichts mehr.

Jesus: Der Messias ist nicht gekommen, wie manche meinen, und er wird nicht kommen, wie andere erwarten. Der Messias ist immer gegenwärtig. Wo der Geist Gottes weht, da ist der Messias. Wo zwei oder drei für die Gerechtigkeit kämpfen, da kämpft der Messias.

Raquel: Aber dann, Sie ...

Jesus: Einmal hat der Rabbiner in Nazareth aus dem Buch des Propheten Ezechiel gelesen. Der Prophet war traurig, am Boden zerstört aufgrund des Elends, in dem sein Volk lebte. Dann führte Gott ihn zu einem Feld, das mit Knochen übersät war, und sagte: Ich will Odem in diese Gebeine bringen, dass sie wieder lebendig werden. Und die Knochen bedeckten sich mit Fleisch und Blut und fügten sich zusammen und der Geist Gottes ging in sie ein und sie wurden wieder lebendig. Es war ein großes Volk, eine unzählbare Menschenmenge, wie der Sand am Meer, wie die Sterne am Firmament. Diese Geschichte hat mir immer gefallen.

Raquel: Und dieses Volk ist der Messias?

Jesus: So habe ich das verstanden. Der Messias, der Christus, das sind die Armen, wenn ihre Knie stark werden. Das sind die Frauen, wenn sie ihr Haupt erheben. Ein großer Körper, der aufsteht und aufersteht.

Raquel: Aber dann ... Sie?

Jesus: Ich, was?

Raquel: Sie sind der Messias, der Christus oder ...

Jesus: Ich bin es und du und alle Männer und Frauen, die kämpfen.

Raquel: Also, Jesus Christus ...

Jesus: Nenne mich lieber Jesus.

Raquel: Gut, dann werden wir Sie in den folgenden Interviews, die zugleich die letzten sind, so nennen. Von einem unbekannten Ort in Galiläa berichtete Raquel Pérez, Emisoras Latinas

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Rezensionsessay von Karl Reitter:

Harald Wolf (Hg.): Das Imaginäre im Sozialen.
Zur Sozialtheorie von Cornelius Castoriadis

Göttingen: Wallstein Verlag 2012, 136 Seiten, Euro 24,90


Dem aus Griechenland stammenden und ab dem Endes des II. Weltkriegs in Paris lebenden Philosophen und Psychoanalytiker Cornelius Castoriadis (1922-1997) blieb der große Durchbruch bis dato versagt. Ursprünglich Trotzkist wandte er sich in den 50er und 60er Jahren immer stärker vom Marxismus ab um seine eigene, höchst eigenständige und originelle Philosophie zu entwickeln. Als Mitherausgeber der einflussreichen Zeitschrift Sozialismus oder Barbarei (socialisme ou barbarie), bei der auch unter anderem Claude Lefort, Jean-François Lyotard sowie Edgar Morin mitwirken, entwickelte Castoriadis Ideen, die er zusammenfassend in seinem Hauptwerk Gesellschaft als imaginäre Institution publizierte. Das Buch erschien 1975 auf Französisch, 1984 erfolgte endlich die deutschsprachige Ausgabe. Während etwa sein deutscher Philosophenkollege Jürgen Habermas stets die Anschlussfähigkeit der eigenen Philosophie an dominierende Strömungen in der akademischen Welt forderte und dies auch in seinen Texten realisierte, ging Castoriadis sozusagen den gegenteiligen Weg. Nie um eine Polemik verlegen attackierte er nicht ohne Witz und Berechtigung die neuen aufstrebenden "Geistes-Heroen" (H. Steinert) des (Post)Strukturalismus. Weitaus wesentlicher als diese Kritik war und ist die Entwicklung seiner eigenen Philosophie, mit der Castoriadis versuchte, neue Denkwege zu gehen. Auf die Frage nach den Kernaussagen seines Denkens gibt der vorliegende, von Harald Wolf herausgegebene Sammelband durchaus erhellende Antworten. Der erste Beitrag stammt von Castoriadis selbst. Es handelt sich dabei um einen übersetzten Vortrag aus 1981, in dem der Autor versucht, die Grundzüge seiner Philosophie dem damaligen Publikum zu erläutern. Der Titel ist mit einem seiner Zentralbegriffe identisch: Das Imaginäre. Wenn ich in aller Knappheit und mit all der unvermeidlichen Verkürzung diesen Ausdruck erläutern darf: Das Imaginäre ist für Castoriadis kein Abklatsch der Realität, kein verzerrtes, unvollständiges Abbild der Wirklichkeit und auch keine von Wunschphantasien getragenes Phantasien sondern verweist auf die grundlegende Dimension der kollektiven wie individuellen schöpferischen (Ein)Bildungskraft, aus der alle gesellschaftlichen Formen und Institutionen entspringen und entspringen müssen. Wohl erfolgt dieser Akt der Schöpfung nicht im luftleeren Raum, sondern das Imaginäre muss sich an die vorgegebene Realität "anlehnen". Den Ausdruck Anlehnung hat Castoriadis dem Denken Freuds entnommen, wie er mehrfach feststellt und meint, dass das Imaginäre die vorgegebene Welt in nicht bestimmbarer Weise berücksichtigen muss. Ein Beispiel: Jede Gesellschaft muss irgendwie auf die Tatsache der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen reagieren, sich daran anlehnen. Wie dies geschieht, ist jedoch nicht vorbestimmt. Es ging Castoriadis nicht zuletzt darum, die kreative, schöpferische Dimension der Gesellschaft freizulegen, die - so können wir Castoriadis paraphrasieren - das funktionale oder strukturalistische Denken niemals erfassen kann. Nicht ohne Pathos verweis Castoriadis immer wieder auf den Umstand, dass das "herkömmliche" Denken die (für ihn gegebene) Tatsache der absoluten Schöpfung gesellschaftlich-geschichtlicher Formen nicht erfassen kann. Der Doppelausdruck gesellschaftlich-geschichtlich verweist auf die Verknüpfung von Schöpfung und Zeit. Zeit ist ihm kein bloßer linearer Ablauf von Stunden oder Tagen, sondern die fundamentale Bedingung für das Neue. Das Denken des Imaginären, der schöpferischen Bildungskraft fußt wiederum auf einer von Castoriadis entwickelten Ontologie, also einer Lehre vom Sein, die im Begriff des Magmas kulminiert. Mit dem Begriff des Magmas will Castoriadis die Tatsache ausdrücken, dass sich die Wirklichkeit (die Natur wie die Gesellschaft oder die Psyche) zwar einerseits identitätslogisch und mengenlogisch aussagen und organisieren lässt (das ist ein Baum, das ist ein Kind, das ist eine Frau), andererseits niemals in dieser identitätslogischen Ordnung aufgeht und stets einen unabzählbaren Überschuss enthält. "Ein Magma 'enthält' Mengen - sogar eine unbegrenzte Zahl von Mengen -, ist aber nicht auf Mengen oder Mengensysteme, wie reichhaltig und komplex sie auch sein mögen, reduzierbar." (30)[1] SpezialistInnen werden Berührungspunkte zu Badiou vermuten, der in seinem Hauptwerk Sein und Ereignis ähnliche Überlegungen formuliert. Allerdings: Während bei Castoriadis die nicht identitätslogische Dimension des Seins das Imaginäre ermöglicht, reformuliert Badiou die Heideggersche Formel des Ereignisses, welches wir keineswegs intentional anstrebten, sondern zu dem wir uns nur antizipierend öffnen können. Wenn, so könne wir Castoriadis Denken in diesem Punkt zusammenfassen, die gesellschaftliche Wirklichkeit ein Produkt der kollektiven Imagination ist, dann können wir unsere eigenen Schöpfungen auch reflektieren, beurteilen und vor allem verändern. Eine Gesellschaft, die diese Möglichkeit institutionalisiert hat, geht den Weg der Autonomie. Wird hingegen die herrschende gesellschaftliche Ordnung als unantastbar, göttlich gewollt oder, und das ist wohl der aktuelle Fall, als vernünftig und selbstverständlich erklärt, wenn also die herrschenden Institutionen im weitesten Sinne (so ist zum Beispiel der Kapitalismus eine Institution für Castoriadis) der kritischen Reflexion und Veränderbarkeit entzogen ist, dann dominiert Heteronomie. Demokratie ist daher für Castoriadis engstens mit Autonomie verknüpft. Nicht die Tatsache der bloßen Wahl oder der Abstimmung sei demokratisch, sondern die Möglichkeit, die Grundlagen der gesellschaftlichen Verhältnisse einer permanenten und reflektierenden Überprüfung zu unterziehen. Und so endet der im Buch abgedruckte Aufsatz nicht zufällig mit den Worten: "Es ist diese geschichtliche Schöpfung der Autonomie und, um es zu wiederholen, eines neuen, zum Infragestellen seiner eigenen Existenzgesetze befähigten Seinstyps, die für uns sowohl die Möglichkeit zur heutigen Diskussion, als auch, was noch viel wichtiger ist, zu einem genuin politischen Handeln eröffnet, das auf eine den Autonomieentwurf in vollem Umfang realisierende Neuinstitution der Gesellschaft anzielt." (38)

Der hier mehr als grob skizzierte Philosophieentwurf Castoriadis birgt nun eine ganze Reihe von Problemen und offenen Fragen mit sich, die von den im Buch vertretenen Autoren Johann P. Arnason, Harald Wolf, Bernhand Waldenfels und Ferdinando G. Menga unter unterschiedlichen Gesichtspunkten diskutiert werden. Ich nenne selektiv einige Aspekte. Ob die Kritik von Castoriadis an Marx wirklich so überzeugend ist, wie Arnason behauptet, sei dahingestellt. Castoriadis liest Marx als strikten Hegelianer und unterstellt ihm durchgehend einen ungebrochenen Geschichtsdeterminismus ohne Wenn und Aber. Hingegen überzeugt mich der Einwand von Harald Wolf, es gebe zwei Dimensionen der Autonomie bei Castoriadis, einerseits die "ontologische Reflexion", andererseits die "Handlungstheorie". Was ist damit gemeint? Einerseits konstatiert Castoriadis, dass die kapitalistische Herrschaft vor einem unlösbaren Dilemma stehe. Einerseits müsse sie die Kreativität und Autonomie der arbeitenden Subjekt fördern und zulassen, andererseits müsse sie diese Kreativität doch wieder rigide kontrollieren, gängelnd und begrenzen, mit anderen Worten, diese in den Zustand er Heteronomie zwingen. Diesen Konflikt hat Harald Wolf in seinem empfehlenswerten Buch Arbeit und Autonomie mit Bezug zu Castoriadis ausgearbeitet, sich sozusagen auf der Eben der Handlungstheorie (wie Autonomie in Betrieb, Schule, Universität und Verwaltung erringen?) bewegt. Dem steht eine sozialphilosophische Großtheorie zur Seite, in der die Konflikte innerhalb der Gesellschaft eingezogen und durch das Modell einer anonymen schöpferischen Hervorbringung der geltenden Institutionen ersetzt wird, wobei nun der Gegensatz von Autonomie und Heteronomie auf die Gesellschaft insgesamt übertragen wird. Allerdings meint Wolf, das eine erfordere das andere. "Ohne die ontologische Reflexion auf die Eigenart des Imaginären ... ist daher meiner Ansicht nach die noch auszuarbeitende Handlungstheorie ... nicht zu haben." (77) Geleistet, so Wolf, sei diese Ausarbeitung jedoch noch nicht. Bleibt somit das Verhältnis zwischen Ontologie und Handlungsdimension letztlich offen?

Bernhand Waldenfels unterzieht die grundlegenden Begriffe (Kreation, Imaginäres, Institution, Ko-Kreation, Autonomie) einer systematische Kritik, die nach meiner Sichtweise dahin hinausläuft, die Radikalität des Denkens von Castoriadis etwas zurückzunehmen. Ich nenne selektiv einige Beispiele dafür. Es gäbe, so Waldenfels, bei Castoriadis eine "Übersozialisierung des Individuellen" (94). Zweifellos können wir Gesellschaft, wie dies im philosophischen Liberalismus geschieht, nicht aus vorgängigen "fertigen" Individuen zusammengesetzt denken (die dann ein wenig auch von den gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmt werden). Bei Castoriadis ist aber das Gesellschaftliche so radikal gedacht, dass Individualität, aber und vor allem auch die Interaktion zwischen den Individuen letztlich in Bedeutungslosigkeit versinkt. Waldenfels zitiert dazu eine Passage aus dem Hauptwerk von Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution: "Das Intersubjektive ist gewissermaßen der Stoff, aus dem das Gesellschaftliche gemacht ist. Doch dieser Stoff kommt nur als Teil und Moment des Gesellschaftlichen vor." (94, in Gesellschaft als imaginäre Institution 184) Ich meine: damit formulierte Castoriadis eine Alternative zur Habermas Schule, die sich teilweise in die Behauptung verstieg, die geltenden gesellschaftliche Institutionen und Strukturen würden permanent und umfassend in den kommunikativen Akten verflüssigt und stünden so zur Dispositionen. Das Verhältnis zwischen Struktur und Handlung wurde teilweise radikal zugunsten der Handlung aufgelöst. Castoriadis versuchte zweifellos diesem Dilemma - bestimmt die Struktur die Handlungen oder bestimmen die Handlungen die Struktur - zu entkommen. Alltagshandlungen gibt es in autonomen wie heteronomen Gesellschaften. Gesellschaft sei kollektive, anonyme Schöpfung von Institutionen und Bedeutungen, insofern Handlungen bestimmend. In den Akten der Autonomie, die sich nicht schlicht und einfach mit banalen Handlungen im Alltag gleichsetzen lassen, können diese imaginären Schöpfungen reflektiert und neu bestimmt werden. Gesellschaft kann so reflexiv werden, diese Möglichkeit muss aber politisch institutionalisiert werden. (Für SpezialistInnen: was Castoriadis der institutionalisierten Autonomie zuschreibt, mutet die Habermas Schule dem Alltag via dem Unbegriff der "Moderne" zu, das heißt, sie transferieren den Gegensatz von Heteronomie und Autonomie in den Gegensatz von traditionalen Gesellschaften und ihren behaupteten unbefragten Geltungen und der Moderne, in der vorgeblich alles und jedes hinterfragt werden kann.) Auf der individuellen Ebene setzt Castoradis jedoch den Gegensatz zwischen der vorgesellschaftlichen psychischen Monade und den Bedeutungen, die von außen auf das Individuum einströmen und die Monade aufbrechen müssen. Die psychische Monade sei zwar kreativ und schöpferisch, aber im Kern stets a-sozial oder besser proto-sozial. Insofern unterscheiden sich die individuelle und die kollektive Dimension der Autonomie bei Castoriadis deutlich. Während die kollektive Autonomie sozusagen auf derselben Eben abläuft - autonome Gesellschaften instituieren die Möglichkeit, ihre eigenen Schöpfungen zu reflektieren - geht es beim Prozess der Fabrikation (Originalton Castoradis) des gesellschaftlichen Individuums um die Schaffung einer nicht leeren Schnittmenge von Psyche und Gesellschaft. "Erst die Institution der Gesellschaft, die sich aus dem gesellschaftlichen Imaginären speist, vermag der radikalen Imagination der Psyche Schranken zu setzen und eine Realität für sie aufrichten, indem sie eine Gesellschaft für die sein lässt." (Castoriadis 1984; 511) Während auf der gesellschaftlichen Ebene die Gesellschaft ihre eigenen Produkte reflektiert, ist die psychische Monade keineswegs die Schöpfung des Individuums.

Ohne es wohl gewollt zu haben meine ich eine Tendenz bei Castoriadis zu erkennen, die die Gesellschaft als übermächtige Einheit, ja Totalität dem Individuum entgegensetzt. Das Problem bei aller Richtigkeit: Gesellschaft wird als geschlossene Einheit gedacht die alle Konflikte, Spaltungen und Entgegensetzungen überwölbt, was Castoriadis auch klar ausspricht: "Die Institution der Gesellschaft ­... besteht natürlich aus verschiedenen Einzelinstitutionen. Diese bilden ein - und funktionieren als - kohärentes Ganzes. Selbst in Krisensituationen, inmitten heftigster interner Konflikte und Bürgerkriege ist eine Gesellschaft immer noch diese eine Gesellschaft." (21, Herv. im Org.) Aber gerade wenn wir Gesellschaft mit Castoriadis als Schöpfung aus dem Nichts denken, liegt dann nicht die Idee nahe, aktuelle Gesellschaften als Mischung von Gegebenen und dem Auftauchen des Neuen zu interpretieren? Verändert tatsächlich ausgeübte Autonomie nicht immer nur Teilbereiche und lässt so das Neue entstehen? Oder, mit Marx gefragt, muss das Neue nicht (in verhüllter Form) bereits im Alten enthalten sein? Wie können wir dann weiter von dieser einen Gesellschaft sprechen? Muss nicht diese Rede ungewollt die Substanz der Konflikte und Unterschiede herabsetzen, die Differenz zwischen den Momenten der Befreiung und den Momenten der Herrschaft herabstufen?

Waldenfels verweist auf ein weiteres Problem. Er schreibt bezogen auf den Begriff der Autonomie bei Castoriadis: "Selbstgesetzgebung geschieht entweder nach Gesetzen, die ihr vorgegeben sind, dann ist sie in radikalem Sinne nicht autonom; oder sie geschieht frei von Gesetzen, dann ist sie nicht im radikalen Sinne auto-nom, sondern a-nom." (96) Waldenfels zerlegt in diesem Argument das Wort autonom in die Bestandteile auto (selbst) und nom für Nomos, das Gesetz, die Norm. Dagegen ist einzuwenden, dass die Nomos setzende Instanz keineswegs notwendig ebenso unter Gesetzen stehen muss. Umgekehrt: Erfordert das Konzept der Creatio ex nihilo (Schöpfung aus dem Nichts) nicht geradezu die Voraussetzung, dass das radikale Imaginäre eben unter keinen Gesetzen steht? Allerdings, wenn Autonomie bloß als Reflexion, als immer schon nachträgliche in Fragestellung der bereits institutionalisierten Bedeutungen gedacht wird, dann ist Autonomie in gewissen Sinne leer. Castoriadis: "Wir machen die Gesetze, wir wissen es und sind somit für unsere Gesetze verantwortlich. Folglich müssen wir uns jedes Mal fragen: Warum dieses Gesetz und nicht vielmehr ein anderes?" (37) Und das soll es gewesen sein? Castoriadis wollte offenbar eine substanzielle Ethik vermeiden. Das Gute, das Erwünschte, das Angestrebte wird nicht bestimmt, es bleibt bloß die Figur der Befragung und in Fragestellung der gegebenen Verhältnisse. Zweifellos ist das Projekt einer substanziellen Ethik problematisch und, nebenbei gesagt, alles andere als unumstritten. Aus der Marxschen Perspektive (und noch mehr aus jener Spinozas) lassen sich durchaus inhaltliche Momente angeben: Etwa die radikale Verkürzung der Arbeitszeit, die Überwindung der geltenden ökonomischen Formen und die Rücknahme des Staates in die Gesellschaft. Auch das Projekt des bedingungslosen Grundeinkommens oder die soziale Infrastruktur stellen inhaltliche, normative Momente dar. Zusammenfassend gesagt: Die Figur der radikalen Infragestellung des Gegebenen zweifellos die Ausgangsbedienung für Autonomie, bleibt aber ohne weitere inhaltliche Bestimmung doch nur formal. Ob dies eine Stärke oder eine Schwäche darstellt, steht sozusagen auf einem anderen Blatt.

Ferdinando G. Menga setzt sich in seinem Beitrag mit der Konzeption der Demokratie bei Castoriadis auseinander. Autonomie, so Castoriadis, könne nur in der Form radikaler Demokratie ausgeübt werden, von der niemand ausgeschlossen sein könne und an der alle in gleicher Weise teilhaben müssten. Repräsentation widerspreche somit der Demokratie. "Anders gesagt realisiert sich für Castoriadis eine wahrhaft autonome und ebenso radikal demokratische Gesellschaft nur in ihrer Ausgestaltung als direkte Demokratie." (106) Menga will nun auf eine ganze Reihe von Problematiken verweisen, die sich im Kern in etwa folgendermaßen zusammenfallen lassen: Die je immer schon instituierte Gesellschaft weise unabdingbar Züge von Heteronomie auf. Die radikale Demokratie hingingen müsse, will sie tatsächlich Autonomie ausüben, als instituierende (schaffende, schöpfende) Gesellschaft wirken. Der politische Raum, in dem sich die absolute Demokratie entfalten müsse, kann jedoch nicht gleichzeitig als instituierende und instituierte Instanz wirken, der Unterscheid zwischen dem schaffenden Imaginären und den geschaffenen Bedeutungen und Institutionen könne nicht einfach eingezogen, die Gesellschaft nicht mit sich selbst identisch und durchsichtig werden, so dass die Differenz zwischen dem Instituierendem und dem Instituierten erlösche. Dieses "Wir" nun, welches die direkte Demokratie realisieren soll ist jedoch nie einheitlich und kann niemals die Heteronomie vollständig auflösen. Menga daher kritisch:"Der Anspruch, einen Zustand der Autonomie zu erreichen und sich die eigenen Gesetze selbst zu geben, bringt einerseits strukturell ein als harmonisch und einheitliches Ganzes konstituiertes soziales Gefüge mit sich." (115) Andererseits könne Heteronomie nicht als vollständig aufgehoben werden, da sich jedes soziale Handeln, auch die unmittelbare Demokratie, in bereits geschaffenen und daher vorgegebenen Institutionen vollziehe. Politische Akteure müssten immer als plurale Vielfalt gedacht werden, zugleich plädiert Menga für die Unumgänglichkeit der Repräsentation, unter anderem mit einem Argument von Bourdiou, nur eine repräsentierte Gruppe könne überhaupt sich selbst als Gruppe konstituieren, ohne Repräsentation gäbe es sie im politischen Feld überhaupt nicht, obwohl, das räumt Bourdiou wohl ein, gerade darin die Gefahr der politischen Entfremdung liege, ein leider unaufhebbares Risiko. Auch wenn wir Menga nicht in allen Punkten zustimmen, völlig von der Hand sind seine Einwände nicht zu weisen. (Ich selbst sehe das Defizit der unmittelbaren Demokratie in dem kaum beachteten Gegensatz von Staat und Gesellschaft, sowohl bei Castoriadis als auch bei Menga, aber das ist hier nicht von Relevanz.)

Wer also eine gut geschriebene, allerdings doch einiges Vorwissen erfordernde Einführung in das Denken von Castoriadis sucht, eine Einführung, in der wesentliche Kategorien unseres Autors kritisch diskutiert werden, ist mit dem Buch gut beraten. Auch wenn ich heute, im Gegensatz zu vor zwanzig Jahren Castoriadis kritischer gegenüber stehe als damals, so ist doch eine Beschäftigung mit seinem hoch interessanten Werk in jedem Fall nützlich und erhellend, auch wenn es nur dazu führt, den eigenen Standpunkt in Kontrast dazu zu entwickeln. Und dass eine intensive Auseinandersetzung wirklich lohnt, würde ich nicht über alle gegenwärtig im Kurs stehende AutorInnen sagen.

E-Mail: k.reitter@gmx.net


Anmerkung

[1] Einfache Zahlen in Klammern beziehen sich auf das vorliegende Buch, die Liste der Artikel ist unten angefügt.

Castoriadis enthaltene Texte:

Castoriadis, Cornelius: "Das Imaginäre: die Schöpfung im gesellschaftlich-geschichtlichen Bereich", Seite 15-38

Arnason, Johann P.: "Castoriadis im Kontext: Genese und Anspruch eines metaphilosophischen Projekts", Seite 39-62

Wolf, Harald: "Das Richtige zur falschen Zeit - zur Schöpfung des Imaginären bei Castoriadis", Seite 63-81

Waldenfels, Bernhard: "Revolutionäre Praxis und ontologische Kreation", Seite 82-102

Menga, Ferdinando G.: "Die autonome Gesellschaft und das Problem der Ordnungskontingenz. Kritische Anmerkungen zu Castoriadis' Diskurs der radikalen Demokratie", Seite 103-134

Weitere Text von Cornelius Castoriadis:

Castoriadis, Cornelius, (1983) "Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft", Frankfurt am Main

Castoriadis, Cornelius, (1984) "Gesellschaft als imaginäre Institution", Frankfurt am Main

Castoriadis, Cornelius, (1990) "Die griechische polis und die Schaffung der Demokratie", in: U. Rödel (Hg.), "Autonomie Gesellschaft und libertäre Demokratie", Frankfurt am Main, Seite 298-328

Castoriadis, Cornelius, (2009) "Mai 68. Die vorweggenommene Revolution", Moers

Weiters möchte ich auf Ausgewählte Schriften von Cornelius Castoriadis verweisen, die von M. Halfbrodt und H. Wolf herausgegeben werden. Bisher sind folgende Bände erschienen:

Castoriadis, Cornelius, (2006) "Autonomie oder Barbarei" Ausgewählte Schriften Band 1,

Castoriadis, Cornelius, (2007) "Vom Sozialismus zur autonomen Gesellschaft: Über den Inhalt des Sozialismus" Ausgewählte Schriften Band 2.1

Castoriadis, Cornelius, (2008) "Vom Sozialismus zur autonomen Gesellschaft", Ausgewählte Schriften 2.2

Castoriadis, Cornelius, "Das imaginäre Element und die menschliche Schöpfung", Ausgewählte Schriften, Band 3

Castoriadis, Cornelius, "Philosophie, Demokratie, Poiesis", Ausgewählte Schriften Band 4

Castoriadis, Cornelius, "Psychische Monade und autonomes Subjekt", Band 5

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Buchbesprechung von Robert Foltin:

Peter Birke, Max Henninger: Krisen Proteste. Beiträge aus Sozial.Geschichte Online

Berlin, Hamburg: Assoziation A 2012, 312 Seiten, 18.00 Euro


Es ist auffällig, dass sich so wenige Bewegungen unmittelbar auf die 2007 einsetzende Krise beziehen, obwohl viele mit ihr indirekt in Beziehung stehen, zum Beispiel die politischen und sozialen Erhebungen des "Arabischen Frühlings" oder die Forderungen der weltweiten Studierendenproteste. Eine der wenigen Ausnahmen bildet die Occupy-Bewegung. Sie stellt die ablaufende Krise in unmittelbaren Zusammenhang mit der ungleichen Verteilung des Reichtums, indem sie hierin ein die Krise verschärfenden Moment erblickt. Die leider nur mehr als Internet-Zeitschrift bestehende Sozial.Geschichte hat neben theoretischen und historischen Artikeln auch immer die aktuellen Bewegungen durch Beiträge und Kommentare begleitet. Insofern ist es nur folgerichtig, dass ein Teil dieser Artikel jetzt als Buch veröffentlicht wurde. Am Charakter der Artikel lässt sich die Stärke und Intensität der jeweiligen Bewegung, wie auch ihr "Erfolg" ablesen, wobei Erfolg nur in Anführungszeichen stehen kann, denn welche Bewegung läßt sich schon als erfolgreich betrachten. Der Sammelband will ausdrücklich keine Ergebnisse vorlegen, was vermessen wäre, sondern Ansätze zur Diskussion stellen und hoffentlich auch dazu anregen, sich mehr mit den Ungleichzeitigkeiten der Bewegungen auseinander zu setzen.

In der Einleitung von Peter Birke und Max Henninger "Krisen und Proteste: Eine Annäherung an ihre jüngste Geschichte" wird ausdrücklich auf die Lücke zwischen "Krise" und "Protesten" hingewiesen. Es lässt sich offensichtlich teilweise nur eine Parallelität feststellen, wie etwa die Finanzkrise (oder Bankenkrise oder jetzt Staatsschuldenkrise) und dem Aufbegehren im "Arabischen Frühling". Weiters wird dargestellt, dass zur Erklärung der aktuellen Situation ein Zurückgehen auf die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Entwicklung seit den 1970ern erforderlich ist: das Geschehen wird zuerst für Europa und anschließend für den globalen Süden nachgezeichnet. Diskutiert wird auch, welche Segmente der Bevölkerungen heutzutage sozialrevolutionäres Potential enthalten könnten. Die zentrale Funktion der "doppelt freien Lohnarbeiter_in" bei Marx wird in Frage gestellt. Dass es mehr Fragen als Antworten gibt, verdeutlicht auch die Diskussion über Kontinuität und Bruch. Einerseits entstehen Bewegungen völlig unerwartet, andererseits lassen sich danach (fast) immer Kontext und Vorgeschichte in einen Begründungszusammenhang bringen. Trotzdem bleiben Fragen ungeklärt: Wieso löste der Selbstmord eines Gemüsehändlers in Sidi Bouzid eine solche Dynamik aus, aber nicht die Selbstmorde bei France Telecom in den letzten Jahren? Auch die entscheidende Frage, wie die weltweiten Bewegungen kommunizieren könnten, bleibt offen.

Der Reigen der Beschreibungen beginnt mit "Die tunesische Revolte als Fanal" von Helmut Dietrich, der die Geschichte der Aufstände in den letzten Tagen des Jahres 2010 im Landesinneren Tunesiens nachzeichnet. Die Geschichte wird von Beginn an detailliert und spannend geschildert, auch mit Ereignissen, die nicht so bekannt sind. Eindrücklich ist die Verbreiterung und Ausbreitung des Aufstandes zu erkennen, aber auch das Hinterherhinken der herrschenden Oligarchie und den Freund_innen des Ben-Ali-Regimes im Westen, besonders in Frankreich. Im deutschen Sprachraum konnten sich die deutschsprachigen Medien und Politiker_innen (aber auch sympathisierende Linke) von vornherein nur auf eine Beobachter_innenrolle beschränken.

Das war und ist in Griechenland völlig anders, die deutsche Politik spielt dort eine maßgebliche Rolle, somit auch die deutschsprachige Öffentlichkeit. In "Griechenland - Epizentrum der europäischen Schuldenkrise" von Karl Heinz Roth wird die kapitalistische Entwicklung Griechenlands im Strudel der Wirtschaftskrise nachgezeichnet, wobei die allgemeine ökonomische Struktur und die mit den Parteien verknüpfte Oligarchie ein zentrales Thema bilden. Genau wird auf die unrühmliche Rolle der so genannten Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds eingegangen und klar gemacht, dass deutsche Politik und deutsches Kapital auf die griechischen Verhältnisse Einfluss nehmen. Im zweiten Beitrag "Die Demokratie in Griechenland zwischen Ende und Wiedergeburt" von Gregor Kritidis wird die Gegenwehr von unten und von links beleuchtet. Die unterschiedlichen Positionen werden vorgestellt und eingeordnet, von der PASOK[1] über die sich selbst isolierende KKE[2] bis hin zu den Anarchist_innen. Aber auch der neu auftauchende Faktor der "Empörten" (motiviert durch die Platzbesetzungen in Spanien) wird beschrieben und gezeigt, dass im letzten Jahr ein neues der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber antagonistisches Element aufgetaucht ist. Das Buch war im Februar 2012 abgeschlossen. Deshalb konnten zwar die verschiedenen Wellen der Massenmobilisierungen berücksichtigt werden, nicht aber die Wahlen im Frühjahr. So bleibt der Achtungserfolg des linken Bündnisses SYRIZA wie der Katzenjammer wegen des Siegs der Sparprogrammparteien unbehandelt. Aber trotz ihres Sieges mußten die regierenden Oligarchieparteien sich auf Grund des Druckes von unten gegen die Auflagen der Troika stellen.

Die "Empörten" in Spanien werden in "Niemand repräsentiert uns: Die Bewegung 15. Mai im spanischen Staat" von Andy Durgan und Joel Sans beschrieben. Es wird gezeigt, dass die "spontane" Bewegung sehr wohl eine Vorgeschichte hat, aber auch wie sie im Widerspruch zur "traditionellen Linken" steht. Die Widersprüchlichkeit innerhalb des breiten Spektrums der Platzbesetzungen als "unpolitischem" Aufbruch zu beschreiben, ist eine gelungene Darstellung, wie auch das Herausarbeiten des mehr politischen, ich würde sogar sagen, anarchistischen, Charakters der Bewegung in Barcelona im Vergleich zu Madrid. Diese Bewegung ist so vielfältig wie die Menschen, die sich daran beteiligen.

Das gilt auch für das in New York entstehende "Occupy". Das Interview mit der daran beteiligten Feministin Silvia Federici ("Wir erleben das Ende einer Epoche. Ein Gespräch über die Occupy-Bewegung in den USA") ist leider zu kurz, trotzdem eine sehr genaue Darstellung sowohl was die Vorläufer_innen in der Bewegung der Studierenden betrifft, als auch den Einfluss der internationalen Bewegungen. Hierher gehört die Betonung, dass zuerst die Kämpfe im globalen Süden begannen (Besetzungen von Brasilien bis Afrika). Spannend ist es auch, über die soziale Zusammensetzung und die Einflüsse durch Feminismus, Anarchismus und die "Commons"-Bewegung zu erfahren.

Die weltweiten Aufbrüche waren in unterschiedlichem Ausmaß mit Arbeitskämpfen verbunden, wobei sehr oft die institutionalisierten Strukturen von linken Parteien und Gewerkschaften eine systemkonforme Funktion erfüllten. Besonders auffällig wird das in Deutschland, wo nach einer Welle sich teilweise selbst ermächtigender Arbeiter_innenkämpfe zwischen 2003 und 2007 scheinbar Flaute eingekehrt ist (das Vorkrisenjahr 2006 zeigte die meisten Streiks). Peter Birke zeichnet die Probleme in "Macht und Ohnmacht des Korporatismus. Eine Skizze zu den aktuellen Arbeitskämpfen in Deutschland" nach. In diesem Beitrag werden zwei Elemente hervor gehoben, einmal, dass die Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen für die meisten Arbeitenden nicht in direkter Beziehung mit dem Kriseneinbruch stehen, sondern bereits im Trend der letzten Jahre (oder Jahrzehnte?) angelegt sind, dann dass sich die Kämpfe in immer mehr "weibliche" und prekäre Bereiche verlagerten, also Bereiche, in denen Gewerkschaften wenig präsent sind und in denen Streiks sich häufig als schwierig erweisen und selten spektakulären Charakter annehmen. Die Verlagerung der Kämpfe, in einem Fall von der Fabrik auf die Stadt zeigt ein weiterer Beitrag von Peter Birke: "Herrscht hier Banko? Die aktuellen Proteste gegen das Unternehmen Hamburg"). An der Besetzung des Gängeviertels, hauptsächlich durch Künstler_innen, werden die neuen Zonen der Auseinandersetzungen um oder gegen die "Entwicklung der Stadt" beschrieben. Dabei wird die Widersprüchlichkeit der Stadtpolitik deutlich, welche einmal von der künstlerischen Aufwertung profitiert, andrerseits deren kreative Freiheit und autonome Strukturen nur bedingt zu akzeptieren bereit ist. In den letzten beiden Beiträgen wird sichtbar, dass ein Teil der Auseinandersetzungen nicht um und gegen die Krise stattfindet, sondern parallel dazu und nicht beschränkt auf die letzten (Krisen)Jahre.

Wer sich im daran anschließenden Artikel "Let England Shake" von "The Free Association" erwartet, eine Beschreibung der Riots im August 2011 zu finden, wird enttäuscht. Es geht um mehr, dem Beginn von Kämpfen in drei Bereichen, die nebeneinander existieren, sich aber sicher aber in gewisser Hinsicht zusammengefunden haben: die organisierte Arbeiter_innenklasse, die Graduierten ohne Zukunft und die städtischen Armen. Bei der Demonstration "Marsch für eine Alternative" am 26. März 2011 ergänzten sich die meist getrennt Kämpfenden mit ihren unterschiedlichen Kampfformen. Die Organisierten waren auf der Veranstaltung ihrer Gewerkschaftsführung präsent, die von UK Uncut besetzten ein Luxuslebensmittelgeschäft und ein Black Block, der politische Ausdruck der Massenarmut, randalierte. "The Free Association" sieht im Zusammenkommen dieser drei "Stämme" die Perspektive, gegen die zunehmende Austeritätspolitik Widerstand zu leisten.

Immer wieder war Italien für die deutschsprachige Linke ein Bezugspunkt, weil dort mehr und radikalere Kämpfe stattfanden. Um so erstaunlicher ist die augenblickliche Ruhe, wo doch Italien von der Krise härter betroffen ist als die nördlich liegenden Länder. Kristin Carls beschreibt in "Krise und Bewegung in Italien - Die Stille vor dem Sturm?" die aktuelle Situation. Trotz der laufenden Verschlechterungen der sozialen Situation beschränkte sich der Widerstand auf die ritualisierten Generalstreiks der großen Gewerkschaften. Radikale Bewegungen orientieren sich trotz der Krisenszenarios am Kampf gegen die Schnellbahntrasse zwischen Turin und Lyon. Die Platzbesetzungen durch "Empörte" fanden im Gegensatz zu vielen anderen Städten Europas keine Resonanz.

Den Herausgebern ist bewusst, dass die Krise und die Bewegungen nicht nur in Europa stattfinden, so ist es nur folgerichtig, dass sich die letzten beiden Beiträge über den Tellerrand des globalen Nordens hinausbegeben. In den Medien werden die Hungerrevolten im Süden kaum beachtet. Im Beitrag von Max Henninger "Ernährungskrisen und Hungersnöte" geht es um diesen Aspekt der aktuellen Krise, wobei allerdings die Revolten nur als Symptom betrachtet werden, hier im Zusammenhang mit der Zerstörung der lokalen Nahrungsmittelproduktion sichtbar gemacht.

Im letzten Beitrag von Pun Ngai und Lu Huilin "Unvollendete Proletarisierung. Das Selbst, die Wut und die Klassenaktionen der zweiten Generation von BauernarbeiterInnen im heutigen China" wird eine Region behandelt, die nicht im Zentrum der Krise liegt, aber immer im Zusammenhang mit den USA und möglicher "Lösungen" genannt wird. Der Schwerpunkt ruht auf den Lebensbedingungen der zweiten Generation von WanderarbeiterInnen. Es zeichnet sich ab, dass diese Generation mit ihren Lebensverhältnissen wenig zufrieden ist und sich in Zukunft kollektive Aktionen entwickeln werden. Entscheidend ist, dass (im Gegensatz zu Europa im 19. Jahrhundert) durch die gesetzlichen Bedingungen (Houkou - Wohnsitzbeschränkung) Urbanisierung und Proletarisierung auseinanderfallen, wodurch ein zusätzlicher Widerspruch entsteht, weil die Wanderarbeiter_innen ihren Lebensmittelpunkt trotz aller Beschränkungen in die Stadt verlagern.

Einige Lücken müssen angemerkt werden, was aber nicht den Herausgebern anzulasten ist. So wird z.B. in Zusammenhang mit dem arabischen Frühling Ägypten übergangen, wie auch die unterschiedliche und differenzierte Situation in den Staaten des Mittelmeerraums. Auch die Besetzung des Kapitols in Madison / Wisconsin, bei der es um die Einschränkung von Gewerkschaftsrechten ging, wird nur am Rande erwähnt. Wichtig finde ich die Hereinnahme Chinas, das ja als "Werkbank der Welt" eine entscheidende Bedeutung haben wird, auch wenn die revolutionären Aufbrüche dort - wenn überhaupt - entweder ohne überregionalen Zusammenhang geblieben sind oder von Europa aus gesehen, kaum wahrnehmbar sind. Wie die Herausgeber bereits in ihrer Einleitung vermerkt haben, läßt sich die Abfolge der Proteste nur in Parallelität zur Krisenentwicklung darstellen. Nur indirekt ist zu erkennen, dass die Proteste mit der Krise in Verbindung stehen, Dies läßt den die Leser_in ein bisschen ratlos zurück. Trotz aller Lücken ist dieses Buch ebenso unverzichtbar wie die Zeitschrift "Sozial.Geschichte".


Endnoten

[1] PASOK (griechische Sozialdemokratie).
[2] KKE (Kommunistische Partei Griechenlands, mit noch stalinistischer Orientierung)

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Rezension von Elisabeth Steger

Danke tausendmal. Wie positives Denken und Dankbarkeit das Leben veränden

Gustav Schörghofer: Graz, styria premium 2011, 165 Seiten, 16,99 Euro


"Die Undankbarkeit der Religionsdiener scheint mir daher der einzige Grund aller Erschütterungen in den Religionen zu sein", schreibt Thomas Hobbes in einem Kapitel über Religion im Leviathan, der unter dem Titel "Des Engländers Thomas Hobbes Leviathan, oder der kirchliche und bürgerliche Staat" auf Deutsch erschienen ist; erst im Jahr 1794, also fast 150 Jahre nach der Originalausgabe (1651). Ob sich der Jesuitenpater und Künstlerseelsorger von Wien, Gustav Schörghofer SJ, der auch noch Kirchenrektor der Uni-Kirche/Jesuitenkirche ist, diese "alte" Kritik im Jahr 2011 zu Herzen genommen hat, weiß ich nicht. Mit seinem Buch danke tausendmal gibt er sich auf jeden Fall als treuer Jesuit zu erkennen.

Als die Lesenden des deutschsprachigen Raumes Ende des 18. Jahrhunderts Hobbes Kritik lesen konnten, hatte sich in Europa nämlich etwas ereignet, was viele Menschen im buchstäblichen Sinn und ganz massiv erschütterte und grundsätzlich an einem guten Gott und einer guten Welt zweifeln ließ: am 1. November 1755 hatte die Erde in Lissabon gebebt und das war eine große Katastrophe für Europa gewesen. Voltaire schrieb kurz nach dem Beben ein Klagegedicht mit dem Untertitel "Prüfung des Axioms Alles ist gut" in dem es heißt: "Du entsetzliche Ansammlung, ach, aller Plagen! Schmerz, der sinnlos doch ist, aber ewig nicht ruht! Philosophen, irrend, sagen: Alles ist gut!" Denn der Philosoph Leibniz hatte ein paar Jahre vorher, 1710, in einem "System des Optimismus" die Theodizee veröffentlicht und behauptet, diese Welt sei die bestmögliche Welt, woraufhin französische Jesuiten leibnizkritisch im Journal de Trévoux den Ausdruck "optimisme" überhaupt erst einmal geprägt hatten. Das war 1737. Das ist also das Geburtsjahr des Ausdrucks Optimismus - und dann, 18 Jahre später, geschieht ein riesiges Erdbeben mit zigtausenden von Todesopfern und viel Zerstörung. Und nun ist ja seitdem noch viel mehr Grausiges auf der Erde passiert. Es kriselt an allen Ecken und Enden und die Wiener und Wienerinnen jammern ja unglaublich gerne. Wie soll man da mit Dankbarkeit auf unsere Welt oder die Welten, auf einen möglichen oder unmöglichen Gott, oder gar auf mehrere Götter oder Göttinnen blicken?

Gustav Schörghofer SJ vollbringt dieses Kunststück. In 29 Kapiteln plus Einleitung und Anhang versucht der 1953 in Salzburg geborene und auf der Feste Salzburg aufgewachsene Gustav Schörghofer, der Kunstgeschichte, klassische Archäologie, Philosophie und Theologie studiert hat, seinen Lesern und Leserinnen das Prinzip Dankbarkeit näher zu bringen. Er erzählt dabei viel aus seinem Leben, das nicht zuletzt durch seine Tätigkeit als Künstlerseelsorger in Wien geprägt ist; er organisiert seit Jahren im Ausstellungsraum des Jesuitenfoyers (1. Bezirk) und in der Zacherlfabrik (19. Bezirk) Ausstellungen und Konzerte zeitgenössischer Kunst, er ist Mitkurator des Otto-Mauer-Preises und in seinem Buch kommen Beispiele, auch aus der jüngsten Kunstgeschichte nicht zu kurz. Mir gefällt daran am besten der präzise Blick auf Bilder, auf Menschen, in präzise Sprache übersetzt, und auch der angenehme Humor tut gut. Die Liebe zur Stille und Leere teile ich voll. Alle Burnout-KandidatInnen aufgepasst: Es ist darin auch ein Aufruf zur Faulheit enthalten. Der Text wurde in roter Farbe gedruckt und darin eingefügt wurden feine Radierungen und Lithographien des Jesuiten Giovanni Poggeschi. Der Untertitel kommt nicht vom Autor selbst, behauptet derselbe, sondern vom Verlag. Ich denke mir: Alles in allem ein schönes, gutes und interessantes Buch.

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Buchbesprechung von Philippe Kellermann:

Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung

Ton Veerkamp: Hamburg: Argument Verlag 2012, 438 Seiten, 46 Euro.


Politische Bibellektüre und emanzipatorische Sehnsucht

Ton Veerkamp, wohl einer der Großen einer marxistisch inspirierten politischen Theologie, legt mit Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung seine eigene große Erzählung vor. Ausgangspunkt des Buches ist das Verlassensein, Verlassensein von einer Großen Erzählung, welche die "Sehnsucht nach einer völlig anderen" Welt verkörpere (S. 421) und durch welche Bewohnbarkeit in der Welt gestiftet werde: "Ich nenne Große Erzählung eine von der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder erkannte und anerkannte Grunderzählung, in der sie ihre einzelnen Lebenserzählungen miterzählt wissen, durch die sie einen Platz in der Gesellschaft zugewiesen bekommen und so die gesellschaftliche Grundstruktur mit ihren Loyalitäten und Abhängigkeiten verinnerlichen." (S. 14) Dies wirkt aufs erste seltsam konservativ und man wundert sich, warum ein Linker hier von "Erinnerungsarbeit, ja, Trauerarbeit" spricht (S. 14). Nachvollziehbarer wird dies, wenn man Veerkamps Voraussetzungen teilt, dass nämlich a.) man einer Großen Erzählung bedarf, um wirklich etwas zu verändern, "die unmenschliche Welt (...) aus den Angeln" zu heben (S. 421) und b.) davon ausgeht, dass auch eine freie Gesellschaft einer solchen Großen Erzählung bedarf (S. 199f.). Was aber hat das alles mit "Gott" und Religion zu tun? Um das zu verstehen, muss man sich Veerkamps Gottesverständnis vergegenwärtigen: "Es existiert kein Wesen Gott, so wie es kein Wesen, sondern nur die Funktion 'König' gibt. 'Gott' ist ein Funktionsbegriff, kein Nomen für ein 'Wesen'. (...) 'Gott' fokussiert alle Loyalität, er ist weniger ein Gravitationszentrum, eher ein Konvergenzpunkt. In 'Gott' konvergiert alle Autorität und Loyalität. Die Frage ist daher nicht, ob 'Gott' existiert. Eine solche Frage verrät eine essenzialistische Auffassung von 'Gott' als 'höchstem Wesen'. Die Frage ist: 'Was funktioniert in einer gegebenen Gesellschaftsordnung als zentrales Organisationsprinzip für Autorität und Loyalität, was funktioniert in einer gegebenen Gesellschaftsordnung als Gott?' (S. 50f.)

Von diesen Voraussetzungen her erklärt sich auch Veerkamps Bezug die Bibel, denn nur deren Große Erzählung scheint für Veerkamp das Programm von "Autonomie und Egalität", bzw. einer "Gesellschaft von Freien und Gleichen" formuliert zu haben (S. 216). Es ist diese Erzählung, der Veerkamps Sehnsucht gilt. Strikt wird diese von den Erzählungen anderer Völker abgegrenzt, z.B. der der Griechen: "Die Tendenz der Erzählung Israels ist die klassenlose Gesellschaft, die Tendenz der griechischen Erzählung ist die Hinnahme der Klassenstruktur, die Sklaverei prinzipiell zulässt, aber ihre Exzesse zähmt. Die Erzählung Israels ist die Ermöglichung von Egalität, die Erzählung Griechenlands ist die Zähmung der Tyrannen." (S. 20) Eine Gegenüberstellung, die ich in dieser Striktheit im Übrigen nicht schlüssig finde.

Die "Verwandlung der Großen Erzählung"

Veerkamp geht davon aus, dass die Bibel kein "homogenes Buch" sei, also nicht wie ein "Parteiprogramm" "widerspruchsfrei". Nichtsdestoweniger habe man es mit einem "einheitliche[n]" Buch zu tun, dessen Einheit durch "die Einheit des Gottes Israels gegen alles, was sonst noch Gott Israels war und sein wollte", gestiftet werde (S. 50). Dieser Gott steht nun für das erwähnte Projekt von Autonomie und Egalität, während sämtliche anderen Götter Ausbeutungsgesellschaften repräsentieren würden. Von den Ausführungen im Deuteronomium, dem 5. Buch Mose ausgehend, welches Veerkamp als Schrift "des Sonderweges Israels" versteht, in dem es "keinen Platz für den Staat und für zentralstaatliche Institutionen" gebe, und insofern einen "anarchistischen Eindruck" mache (S. 74), skizziert er die Auseinandersetzungen innerhalb der Lebenswelt des Toravolkes, wie auch mit dessen feindlicher Umwelt. Immer steht dabei die Frage im Zentrum, wie sich das emanzipatorische Projekt Israel als "regulierte[.] Anarchie" (S. 80), nur kurzfristig existierend (S. 79f.) und ansonsten von einer Minderheit getragen, im Kampf gegen herrschaftsförmige Tendenzen innerhalb der Gemeinschaften, wie auch gegen die (feindliche) Umwelt zu behaupten, bzw. umzusetzen versuchte.

Von entscheidender Bedeutung sei der Übergang von der persischen zur hellenistischen Zeit gewesen mit der sich eine "ökonomisch, politisch und ideologisch völlig andere Welt" durchsetzte (S. 167), welche im Großen und Ganzen "zersetzend auf das traditionelle Gesellschaftsgefüge" gewirkt (S. 188) und so in einem "schleichenden, aber unaufhaltsamen Prozess" mehr und mehr "die Autonomie zerstört" habe: "Für die kleine Welt Judäas war die hellenistische Umgestaltung der Wirtschaft eine wirkliche Globalisierung: Zerstörung jeder Aussicht auf Autonomie und folglich auf Egalität." (S. 206) Diese Entwicklung werde durch die Etablierung der Römischen Reiches weiter forciert, mit dem "das hellenistische Ausbeutungssystem (...) eine neue Qualität" erhielt, "abgesichert durch eine weltweit operierende und zentral geleitete Militärmaschinerie, die nur zeit- und gebietsweise in die Schranken gewiesen werden konnte" (S. 255).

Durch die zunehmende Ohnmachtserfahrung setze sich immer mehr ein "Verzicht auf Politik" durch (S. 223), um stattdessen "Hilfe nur noch vom Himmel" zu erwarten: "Es schlug die Stunde des Messianismus." (S. 242) In diesem Zusammenhang erlangt die Deutung der Figur Jesus durch Paulus seine Bedeutung. Denn Paulus und seine SchülerInnen hätten einerseits erkannt, dass das Römische Reich einen Rahmen geschaffen habe, in dem die "Lösung der gerade auch das jüdische Volk betreffenden globalen Probleme global" sein müsste - Schluss mit der Politik der Völkertrennung -, und andererseits verstanden, dass man gegen diese Macht nicht (mehr) militärisch siegen könne, dass also "dieser Messias nicht auf 'römische' Weise siegen würde, sondern so, dass alles Militärische ad absurdum geführt wird" (S. 256).

Zuerst gedacht als Strategie des "Standhalten[s] und widerstehen[s]" in der "messianischen Gemeinde" (S. 275), die in "Solidarität" miteinander verbunden die herrschende Ordnung als kurzfristige erträgt: "politischer Realismus während der kurzen Zeit, bis der Messias kommt" (S. 283), war die "Nacht" aber "endlos" geworden (S. 317). Da nun die "Christen keine reale Strategie der radikalen Weltveränderung" besaßen, ergab es sich: "Die Prediger hatten die Wahl zwischen immer blasser werdenden Durchhalteparolen oder Vertröstung auf das Jenseits. Sie entschieden sich für Letzteres" (S. 290). Dieser Prozess ende schließlich mit der Etablierung des Christentums als Staatsreligion, hatte sie doch die ihr zugewiesene Aufgabe übernommen "als ideologischer Hauptapparat" die "Verinnerlichung gesellschaftlicher Verhältnisse" zu besorgen und sei so "zur Religion im strikten Sinne des Wortes geworden" (S. 394).

Soviel in (zu wenigen) Worten zum Inhalt von Veerkamps historischer Darstellung und Bibelexegese, die wohl kaum einen Eindruck von der Komplexität und Akrybie - "[i]n unseren Texten ist nichts überflüssig: vielmehr trägt jedes winzige Detail zur Lösung des Problems bei" (S. 318) - von gut 400 Seiten lebenslanger Forschungstätigkeit vermitteln können. Deren Darstellung, wie auch eine eingehende, der Sache angemessen ausführliche Besprechung kann im Umfang einer normalen Rezension kaum geleistet werden; ich wäre dazu auch aufgrund meiner beschränkten Kenntnisse nicht in der Lage. Und so will ich mich auf ein paar kritische Anmerkungen beschränken.

Skeptisches zur Methode

Problematisch scheint mir der methodische Ansatz Veerkamps zu sein. Einerseits schreibt er - wie mir scheint zu Recht: "wir haben es nicht mit alten Bekannten, sondern mit fremden Menschen zu tun. Wir wollen uns diese Fremdheit zumuten." (S. 31) Liest man aber das Buch, so erscheint alles merkwürdig nachvollziehbar. Die Menschen agieren und reagieren im Grunde einer ähnlichen (Handlungs-) Rationalität folgend wie heute auch. Dass sich die Menschen z.B. einer übermächtigen Ausbeutung durch Aussteigertum zu entziehen versuchen, fällt nicht schwer zu verstehen und man könnte einen Großteil der Darstellung und der auftretenden Konflikte und Bewältigungsstrategien, die Veerkamp skizziert, im 19. und 20. Jahrhundert spielen lassen. Auch das analytische historisch-materialistische Instrumentarium das Veerkamp nutzt trägt dazu bei die erwähnte Fremdheit der Vergangenheit zu negieren. Er selbst erklärte in einem Interview: "Eine Bedingung für eine ernsthafte Lektüre ist gründliche Kenntnis der Welt, in der wir leben. Für mich gehört die politische Ökonomie wesentlich dazu. Deswegen gibt es in meinem Buch lange Passagen über die politische Ökonomie des Hellenismus und des Römischen Reiches." (Veerkamp 2012, S. 40) Dient aber diese Kenntnis der Welt, in der wir leben, so ohne weiteres dazu, die Vergangenheit zu erklären? Interpretiert Veerkamp nicht letztlich zu politisch? So erscheint mir auch sein oben angeführtes Gottesverständnis als Raster zur Interpretation vergangener AktuerInnen problematisch, weil es das Religiöse in das Politische auflöst. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch Veerkamps Vorwurf an Friedrich Engels, es sich mit seiner Betrachtung des radikalen Reformators des 16. Jhr., Thomas Müntzer, zu leicht zu machen, wenn er einwendet, dass für Müntzer die Religion nicht nur eine "religiöse Decke" gewesen sei, hinter denen die Interesse einer Klasse standen, sondern, diese religiöse Decke "die Sache selbst" gewesen wäre (S. 296f.). Das Religiöse wird also einerseits durchaus ernst genommen, andererseits, indem er dann dieses Religiöse mit dem Politischen, hier: "einer umfassenden Erneuerung aller gesellschaftlichen Verhältnisse" in eins setzt (S. 296f.), wieder in seiner Eigenständigkeit, seiner Sperrigkeit negiert. Man ist hier an einer wirklich schwierigen Frage und wenngleich ich sehr viel Interessantes an Veerkamps methodischer Herangehensweise und deren Ergebnissen finden kann, bleiben Zweifel über die Reichweite bestehen. Es ist deshalb auch schade, dass Veerkamp sich weitestgehend auf polemische Seitenhiebe gegen andere methodische Herangehensweisen beschränkt, die mich oftmals nicht so recht überzeugen konnten. Zu wünschen wäre, wenn sich an dieser Frage eine mit Sicherheit spannende Diskussion entzünden würde.

Zum Problem der neuen Gesellschaft und ihrer Großen Erzählung

Ein ebenfalls problematischer Aspekt liegt meines Erachtens in Veerkamps Verteidigung von Großen Erzählungen und der Behauptung ihrer Notwendigkeit für jede Gesellschaft. Er schreibt: "[J]ede gesellschaftliche Grundordnung funktioniert als 'Gott', als 'letzte Instanz'. Jede gesellschaftliche Grundordnung verlangt von allen Gesellschaftsmitgliedern den unbedingten Gehorsam. (...) Wenn wir Religion als die bewusste oder unbewusste Anerkennung einer ultimativen Gefolgschaft verlangenden Instanz definieren, dann hat jede Gesellschaft notwendig und unvermeidlich eine religiöse Struktur." (S. 199f.) Ultimative Gefolgschaft, auch immer wieder kehrende Verweise auf eine "Disziplin", welcher die Freiheit bedürfe, machen mich spontan eher stutzig. Nicht, dass das alles einfach beiseite geschoben werden kann und es wäre beispielweise interessant zu erfahren, wie sich Veerkamp zu den Gedanken des Anarchisten Gustav Landauer zur Notwendigkeit eines gemeinschaftsstiftenden "Geistes" positionieren würde. Aber bestehen bleibt das von Stirner gestellte Problem: "Nun weiß Ich, was Ich soll, und der neue Katechismus kann abgefasst werden. Wieder ist das Subjekt dem Prädikate unterworfen, der Einzelne einem Allgemeinen; wieder ist einer Idee die Herrschaft gesichert und zu einer neuen Religion der Grund gelegt. Es ist dies ein Fortschritt im religiösen, und speziell im christlichen Gebiete, kein Schritt über dasselbe hinaus." (Stirner 1844, S. 189)

Ich hätte mir in diesem Sinn auch Erläuterungen zur Frage von Recht und Gesetz gewünscht, denn Veerkamp hebt eigentlich immer nur positiv hervor, dass die in der Bibel zu findende "regulierte Anarchie" eine Rechtsordnung sei: sie wäre - so Veerkamp zum Deuteronomium - "gründlich und durchgängig geregelt, (...) zahllose Gesetzesvorschriften, Handlungsanweisungen und Orientierungen" (S. 74f.). Wie aber lassen sich Recht und Gesetz mit Freiheit vereinbaren? In welcher Weise wird Recht in Freiheit durchgesetzt und von wem? Wieder sehr schwierige Fragen, die eine Diskussion erfordern, gerade wenn diese Rechtsordnung zu einer zukünftigen Großen Erzählung dazugehören mag.

Wie dieser (repressive) Aspekt "nach innen" von Veerkamp nicht weiter thematisiert wird, so auch die Frage der Beziehung zum "Außen". Veerkamp verweist zu Beginn des Buches darauf, dass die Großen Erzählungen durch "gesellschaftliche Kohärenz nach innen, aber auch Abgrenzung und Intoleranz nach außen" gekennzeichnet gewesen wären (S. 14). Wie aber verhält es sich mit der zukünftigen Großen Erzählung? Wie lässt sich gerade Letzteres verhindern? Oder liegt dies möglicherweise in der Struktur von Großen Erzählungen begründet? Vor diesem Hintergrund finde ich auch Veerkamps Seitenhiebe auf die Postmoderne problematisch. So wenn er schreibt: "Die Philosophie der Postmoderne entstand nicht zufällig nach dem Abtritt der Arbeiterbewegung von der politischen Hauptbühne. Die Postmoderne hat keine großen Diskurse und erst recht keine Große Erzählung." (S. 14) Hier würde ich anders akzentuieren: Die Postmoderne war vor allem auch eine politische Reaktion auf die verheerenden Massenmorde des 20. Jhr. - in Gestalt der Großen Erzählungen von Faschismus und Stalinismus. Und ich muss sagen: lieber fühle ich mich etwas weniger behaglich in der Welt, als mich einerseits kuschelig unter "Väterchen Stalin" zu wärmen oder andererseits - Kehrseite - jahrelang im Gulag zu vegetieren. Damit keine falschen Assoziationen entstehen, sei auf Veerkamps Kritik des Leninismus an anderer Stelle verwiesen (vgl. Veerkamp 2005, S. 232ff.).

Schließlich: Wirklich geärgert habe ich mich an einer Stelle, die auch in diesen Zusammenhang gehört, und an der Veerkamp gegen Albert Camus polemisiert und dessen Buch Der Mensch in der Revolte (1951) mit folgender Stimmung in Verbindung bringt: "eine große Epoche ist unwiderruflich vorbei, die Erzählungen werden klein, essen und trinken, das gute Leben mit der geliebten Frau, politische Vorsicht". "Deswegen: lass es gut sein." (S. 214) Was aber hat das mit Camus zu tun? Mit einem Camus, der nicht nur aus sehr guten - historischen Gründen - die "Revolte" gegen die metaphysische Idee der "Revolution" verteidigte und dabei erstere stets hochhielt? Veerkamp scheint, indem er diese Position mit "lass es gut sein" und familiärem Amusement verwechselt, einen Vorwurf von marxistischer Seite aufzugreifen, gegen den sich Camus seinerzeit schon zur Wehr setzte: "Die Erste Internationale und die bakuninsche Bewegung, die noch unter den Massen der spanischen und französischen CNT lebendig ist, werden ignoriert. (...) Der revolutionäre Syndikalismus wird verspottet, während meine wahren Argumente zu seinen Gunsten, gestützt auf seine Errungenschaften und auf die wirklich reaktionäre Entwicklung des cäsaristischen Sozialismus unterschlagen werden. (...) Während Der Mensch in der Revolte bei aller Begeisterung für die nichtmarxistische revolutionäre Tradition die Wichtigkeit und die Beiträge des Marxismus nicht leugnet, ist Ihr Artikel kurioserweise so angelegt, als wenn es immer nur die marxistische Tradition gegeben hätte. Seine Verdrehung meiner These ist in dieser Hinsicht bezeichnend." (Camus 1952, S. 17f.)

Fazit

Veerkamps Buch ist ein großes und wichtiges Buch. Wenngleich ich zugegebenermaßen ein wenig mehr erhofft habe, kann man ohne Zweifel Vieles lernen, Vieles, das auch hier nicht zur Sprache kommen konnte. Wer sich mit christlicher und/oder jüdischer Geschichte beschäftigt, wird die Lektüre nicht bereuen - auch dann nicht, wenn er/sie Widerspruch anzumelden hat. Es dokumentiert nicht zuletzt eine große Sehnsucht, mit all ihren Problemen, aber auch ihrer Kraft - im besten Fall eine Ahnung von jener "Extase des aufrechten Gangs" von der Ernst Bloch einst geschrieben hat.

E-Mail: philippe.kellermann@gmx.de


Zusätzlich verwendete Literatur

Albert Camus 1952: Brief an den Herausgeber der 'Temps Modernes', in: Jean-Paul Sartre. Krieg im Frieden. Band 2. Reinbek: Rowohlt Verlag, 1982. S.7-26.

Max Stirner 1844: Der Einzige und sein Eigentum. Ausführlich kommentierte Studienausgabe. Freiburg/München: Karl Alber Verlag, 2009.

Ton Veerkamp 2005: Der Gott der Liberalen. Eine Kritik des Liberalismus. Hamburg: Argument Verlag.

Ton Veerkamp 2012: Die Vision einer anderen Welt. Gespräch mit Ton Veerkamp, in: Junge Kirche 2 (2012), S. 34-40.

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Seit einiger Zeit kommt es in ganz Europa zu vermehrten Protesten von Flüchtlingen und Asylwerber_innen gegen den sich normalisierenden, institutionellen Rassismus und die entwürdigenden Zustände in den Aufnahmeeinrichtungen. Auch in Wien kommt es zu Protesten, zuerst von somalischen Flüchtlingen und letzten Samstag (den 24.11.) dann zu jenen aus Traiskirchen. Die Protestierenden campieren seither im Zeltlager im Sigmund Freud-Park. Die Grundrisseredaktion erklärt sich solidarisch mit dem Protest und ihren, den folgenden Forderungen:

Forderungen der protestierenden Flüchtlinge

Wir sind Flüchtlinge, in Österreich angekommen um Asyl zu suchen und hier ein neues Lehen aufzubauen. Unsere Länder sind zerstört, durch Krieg, Militärgewalt, und Armut aufgrund kolonialistischer Politik. Wir kommen aus Pakistan, Afghanistan, Somalia, Nigeria, Gambia, Syria, Kurdistan, Iran und anderen Ländern und sind nun hier im Flüchtlingscamp Traiskirchen. Wir dachten, dass wir in diesem Camp Hilfe und Unterstützung von Österreich bekommen, aber was wir hier gesehen und erfahren haben, ist, dass der österreichische Staat bisher nicht gezeigt hat, dass wir willkommen sind. Wir verharren im Flüchtlingscamp unter sehr schlechten Bedingungen.

Wir, die Flüchtlinge aus Traiskirchen erheben nun unsere Stimmen und fordern unsere Rechte. Wir verlangen von den Verantwortlichen folgende Verbesserungen:

1) Die Dolmetscher*innen, die während der Asylverfahren im Einsatz sind, müssen alle durch neue ersetzt werden. Diese Dolmetscher_innen arbeiten hier seit sehr langer Zeit, machen Witze über Betroffene. Es bestehen gravierende Kommunikationsprobleme. Die Dolmetscher_innen übersetzen teilweise absichtlich falsch - dies hat negative Auswirkungen auf die Gerichtsverfahren sowie die Interviews mit Behörden/Beamten. Die Folge sind oftmals negative Bescheide sowie schnelle Abschiebungen. Es gibt mehrere Fälle, in welchen in diesem Zusammenhang bereits innerhalb 2 Wochen der zweite negative Bescheid ausgehändigt wurde.

2) Wir fordern wieder Zugang zum Verwaltungsgerichtshof und mehr Verfahrenshilfe. Es werden mehr Anwaltsverteter_innen gefordert, weil ein privater Anwalt bis zu 2000 Euro kosten kann.

3) Alle Abschiebungen müssen gestoppt werden. Es muss den Menschen möglich sein, hier zu bleiben oder in ein weiteres Land zu gehen.

4) Wir fordern mehr Dolmetscher_innen für Arztbesuche, insbesondere Übersetzer_innen der Urdu Sprache.

5) Wir fordern generell mehr Ärzte und Arztinnen für Flüchtlinge.

6) Es gibt viele Überstellungen in abgeschiedene, ländliche Gegenden. Das muss gestoppt werden, da vor Ort benötigte Infrastruktur nicht gewährleistet wird. Die Menschen haben keinen Zugang zu Rechtsanwälten oder Möglichkeiten zum Einkaufen. Das bedeutet für Flüchtlinge faktisch Isolation, da sie derzeit nicht zu benötigter Hilfe kommen.

7) Im Camp selbst müssen Deutschkurse und Berufsvorbereitungskurse mit Praxis-Schwerpunkt z.B. im handwerklichen Bereich eingeführt und abgehalten werden. Auch für die Deutschschule brauchen wir Übersetzer_innen.

8) Kinder von Familien, die im Camp leben, müssen in reguläre lokale Schulen mit ortsansässigen Kindern gehen können.

9) Das Essen muss gesünder und nahrhafter sein. Die Flüchtlinge müssen die Möglichkeit haben, sowohl selbst zu kochen als auch das Essen in ihre Zimmer mitzunehmen.

10) Saubere und gute Kleidung und Schuhe für alle Jahreszeiten muss zur Verfügung stehen.

11) Die Arbeitsbedingungen im Camp müssen verbessert werden, und der Betrag, der für Reinigen und Kochen bezahlt wird, ist nicht ausreichend.

12) Tickets für den Öffentlichen Verkehr müssen unentgeltlich angeboten werden, zumindest für 3 Tage, so dass jede und jeder die Möglichkeit hat, das Land, die Menschen, deren Leben kennenzulernen. So ist es auch möglich, zu Rechtsinformationen zu kommen und sich um den eigenen Fall rechtlich zu kümmern.

13) Wir benötigen einen Friseur für Männer und Frauen.

14) Das Taschengeld in der Höhe von 40.- € monatlich ist absolut nicht ausreichend und muss erhöht werden.

15) Wir benötigen dringend diverse Sanitärartikel. Artikel wie Nagelscheren, Spiegel, ... - es sind nicht einmal Spiegel in den Badezimmern vorhanden(!)

16) Im Flüchtlingscamp sind wir vom Rest der Welt isoliert, weil wir keinen Internetzugang und kein Fernsehen haben. Wir benötigen beides, um Kontakt mit unseren Familien und Freunden zu haben. Obwohl wir im 21sten Jahrhundert leben, haben wir keinen Zugang zu modernen Medien sowie modernen Formen der Kommunikation. Wir fordern freien Internetzugang in den Camps und TV mit Sat-Empfang, um Informationen von der Welt zu erhalten.

Wir fordern diese grundlegenden Rechte von der österreichischen Regierung, der Europäischen Union, für Flüchtlinge weltweit. Wir ersuchen die österreichische Regierung, ihrer Verantwortung gegenüber den Flüchtlingen nachzukommen.

Wir werden unsere Aktionen solange fortsetzen, bis unsere Stimmen gehört und unsere Forderungen erfüllt sind.

Bewegungsfreiheit für alle Flüchtlinge!


We will rise!


Unterstützungsmöglichkeiten unter:
ONLINE-PETITION zur Unterstützung der protestierenden Flüchtlinge und ihrer Forderungen:
http://refugeecampvienna.noblogs.org/support/petition/
Liste aller prominenten ErstunterzeichnerInnen:
http://refugeecampvienna.noblogs.org/petition/

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Klagedrohung gegen AMSAND

Das AMS Österreich hat die Rechtsanwaltskanzlei Höhne In der Maur & Partner mit einer Klagsdrohung gegen die (Erwerbslosen)Initiative AMSAND beauftragt.

Vorgeblicher Gegenstand ist die "missbräuchliche Verwendung" des AMS-Logos auf der Homepage und auf einem Flugblatt das im November an diversen NÖ-Geschäftsstellen verteilt worden sein soll.

Angeblich ist die Verwechslungsgefahr mit dem AMS anhand des Logos immens und führt Erwerbslose und andere Personen in die Irre (die sich womöglich vertrauensvoll an das AMS wenden wollten).

Als Subtext des Vorwurfs der Markenverletzung läuft freilich etwas anderes: eine Warnung des AMS an AMSAND und andere streitbare Erwerbsloseninitiativen, davor sich weiterhin für Menschen einzusetzen, die von Sinnloskursen bedrängt, deren berufliche Hoffnungen zerstört und deren Existenzgrundlage durch Sanktionen bedroht werden.

Klar ist, dass uns diese Parteilichkeit sicher nicht in Verwechslungsgefahr, dafür aber in ständigen Konfliktkurs mit dem AMS bringt. Denn die Einrichtung, die eigentlich gemäß ihrem Namen und ihrer Aufgabe auf eine möglichst gute, seinen KundInnen entsprechende Serviceleistung verpflichtet wäre, will weder seine KundInnen und schon gar keine Kritik hören. Denn Kritik ernstzunehmen hieße auch, einen Auftrag zur Verbesserung anzunehmen. Menschen Bildung zu ermöglichen und ihnen zufriedenstellende berufliche Erwerbsmöglichkeiten zu vermitteln, statt sie in Deppenkursen verkommen zu lassen, wäre schon eine prima Entwicklung. Aber das AMS sieht sich als sakrosankt.

Also werden wir abgestraft, damit wir dem AMS nicht länger in den Ohren liegen. Der genannte Anlass der Verteilung von AMS-kritischen Flugblättern - nebenbei bemerkt stammen sie gar nicht von AMSAND wurde jetzt benützt, um uns mundtot zu machen. Der Knebel besteht in einer ruinösen Klagsdrohung und einem Anwaltsdonner, der sich sehen lassen kann.

Ob die Behörde auf diese Weise die bekannte Erwerbsloseninitiative AMSAND politisch kleinkriegt, sei dahingestellt. Wir glauben es nicht.

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Wien wird Anziehungspunkt für Solidarische Ökonomie

Der Kongress von 22.-24. Februar 2013 will solidarische Wirtschaftsformen sichtbar machen und Alternativen zum herrschenden Wirtschaftssystem ins Gespräch bringen. Zur Mitgestaltung des Kongress-Programmes wird eingeladen.

Wien wird von 22.-24. Februar 2013 ganz im Zeichen der Solidarischen Ökonomie stehen. Der Solidarische Ökonomie Kongress 2013 auf der Universität für Bodenkultur will Projekte und Betriebe der solidarischen Ökonomie auf lokaler, regionaler und globaler Ebene sichtbar machen, zu Austausch und Vernetzung in Theorie und Praxis anregen, sowie zur aktiven Mitarbeit im Bereich der Solidarischen Ökonomie motivieren. Vor dem Hintergrund der derzeitigen Krisensituation wird die Frage nach Alternativen immer drängender gestellt. Zugleich ist eine Vielfalt an lebendigen globalisierungskritischen Bewegungen festzustellen und eine wachsende Anzahl an Projekten Solidarischer Ökonomie zu registrieren. Das Verständnis von Solidarischer Ökonomie legt das Organisationsteam, eine offene Gruppe, breit an - bezogen auf Solidarität als gegenseitige Unterstützung und eine Ökonomie, die sich an den menschlichen Bedürfnissen orientiert. Der Begriff "Solidarische Ökonomie" wird von den Initiator*innen des Kongresses bewusst weit gefasst, um sehr unterschiedlichen Konzeptionen und Ansätzen Platz zu geben und kontroverse Diskussionen zu ermöglichen, wie zum Beispiel über:

Verbindung Arbeit & Leben, Geschlechterverhältnisse in der Ökonomie, Ökologische Grenzen, Öffentliche Dienstleistungen, Care Economy, Grundeinkommen, Politische Rahmenbedingungen und kritische Blickwinkel auf Solidarische Ökonomie, geistiges Eigentum, Commons und Wissensallmende, OpenSource und Copyleft, alternative Bildungseinrichtungen, selbstverwaltete Räume und Betriebe, Genossenschaften, solidarische Wohnformen und besetzte Häuser, Welt ohne Geld und Warentausch - selbstorganisierte Kooperation, Tauschringe, Regionalwährungen, Frauenräume und feministische Projekte, Umsonstökonomie, alternative Finanzierungseinrichtungen, Fairer Handel, solidarische, interkulturelle und Gemeinschaftsgärten, Volxküchen, landwirtschaftliche Direktvermarktung, Ökodörfer, u.v.a.m.

Die Veranstalter*innen knüpfen an den ersten Solidarische Ökonomie-Kongress im Februar 2009 an, der mit gut 1000 TeilnehmerInnen und 120 Workshops sowie anderen Formaten große Resonanz erhalten hatte.

Weiterführende Informationen:
www.solidarische-oekonomie.at

Rückfragehinweis für die Medien:
e-mail: oswald.kuppelwieser@chello.at
T: 0688-812 03 87

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IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 12.12.2012,
Redaktionsschluss der Nr. 45: 15.02.2013

Infos unter: www.grundrisse.net und unter redaktion@grundrisse.net

Ein Jahresabo kostet für 4 Nummern Euro 20,-, das 2-Jahres-Abo nur 35,- Euro!
Bestellungen an redaktion@grundrisse.net

Bankverbindung: Österreich: BAWAG Konto Nr. 01010044347 (K. Reitter), Bankleitzahl 14000.
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International: BIC = BAWAATWW, IBAN = AT641400003010324172,
Empfänger = K. Reitter

Medieninhaberin: Partei "grundrisse" Antonigasse 100/8, 1180 Wien
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"

MitarbeiterInnen dieser Nummer: A.M., Martin Birkner, Robert Foltin, Markus Grass,
Stefan Junker, Minimol, Franz Naetar, Karl Reitter, Gerold Wallner, Walter.

Layout: Stefan Junker.

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1100 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse"

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: Grundrisse (Wien, Print)

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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
winter 2012, nr. 44
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
Antonigasse 100/8, 1180 Wien
E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. März 2013