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IZ3W/177: Rezension - Sozialstrukturen in Lateinamerika


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 312 - Mai/Juni 2009

Sozialstrukturen in Lateinamerika

Von Timm Schützhofer


Der Sammelband Sozialstrukturen in Lateinamerika widmet sich einem bislang wenig beachteten Thema. Einleitend stellt Mitherausgeber Dieter Boris zwar ein steigendes Interesse an Lateinamerika fest, das er auf die Machtübernahme der »Mitte-Links-Regierungen« zurückführt. Die überwiegend politisch-ökonomischen Analysen müssten jedoch verkürzt bleiben, »da ökonomische und politische Prozesse letztlich immer von kollektiven sozialen Akteuren, die gesondert als solche herauszuarbeiten sind, getragen werden.«

Maristella Svampa schildert »Kontinuitäten und Brüche in den herrschenden Sektoren« Argentiniens seit Ende des 19. Jahrhunderts. Sie verweist auf die kulturellen Exklusionsmechanismen jener ökonomisch und politisch privilegierten Sektoren, deren kollektive Praktiken und soziale Strategien ihrem »individualistischen Diskurs« widersprächen. Beispielsweise werde durch gemeinsam ausgeübte exklusive Sportarten wie Golf oder Polo eine soziale Abgeschlossenheit ermöglicht. In den 1990er Jahren hätten die Oberschichten »in ihrem historischen Gegner, dem Peronismus, einen unverhofften Verbündeten« gefunden. Voraussetzung hierfür sei allerdings die Öffnung gegenüber den neureichen Verbündeten des Menemismus gewesen.

Gabriel Kessler und Maria Mercedes Di Virgilio beschreiben das Phänomen der »neuen Armut« in Argentinien und Lateinamerika. Hierbei werden die negativen Auswirkungen der neoliberalen Politik insbesondere auf die Mittelschichten herausgearbeitet: »Die Haushalte verbleiben zwar in ihren angestammten Vierteln der Mittelschichten und gelegentlich können sie ihren Lebensraum auch als Eigentum behalten; aber für die Verbesserung und Instandhaltung ihrer Wohnräume können sie keine weiteren Mittel aufbringen.« Die Verarmung zwinge »zur Aussparung eines Teils des sozialen Lebens.« Gleichwohl könne der Einsatz sozialen und kulturellen Kapitals Kaufkraftminderung in Teilbereichen wettmachen.

Amy Bellone Hite und Jocelyne S. Viterna analysieren die Veränderungen der Sozialstruktur im Hinblick auf die Geschlechterverhältnisse. Dabei stellen sie eine Annäherung der Klassenstrukturen zwischen Frauen und Männern bei gleichzeitiger allgemeiner Absenkung des Lebensstandards fest. Kürzungen im öffentlichen Sektor wirkten sich vor allem negativ auf Frauen aus, da dies der einzige Sektor gewesen sei, »wo Frauen in formalen Arbeitsbedingungen auch vor 1980 gut repräsentiert waren.« Die These von einer Ghettoisierung weiblicher Arbeit im Zuge neoliberaler Strukturanpassungspolitik sehen sie jedoch nicht bestätigt.

Fabiola Escárzaga zeichnet die Entwicklung indigenen Protests zwischen Autonomie und Integration in den Nationalstaat durch Partizipation bei Wahlen in Ekuador, Bolivien, Mexiko und Peru nach. In weiteren Beiträgen werden die Situation der Jugend (Cepal) oder die lokalen Auswirkungen transnationaler Migration in Zentralamerika (Katharine Andrade-Eekhoff) dargestellt, wobei auch der soziokulturelle und politische Austausch betrachtet wird. »Das Phänomen der Migration wird hier als vielschichtiger Prozess mit einer breiten Palette an translokalen Bindungen zwischen Familien, Gemeinden und Ländern verstanden.«

Der Band bietet wichtige Ergänzungen bisheriger Analysen, da die soziostrukturelle Basis politischer Akteure und sozialer Bewegungen empirisch dargelegt wird, ohne die Bedeutung kultureller, ethnischer und milieuspezifischer Entwicklungen außer Acht zu lassen. Nur ansatzweise analysiert werden hingegen die sozialen Veränderungen durch die Mitte-Links-Regierungen in Lateinamerika.

Dieter Boris/Therese Gerstenlauer/Alke Jenss/Kristy Schank/Johannes Schulten (Hg.):
Sozialstrukturen in Lateinamerika
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008. 339 Seiten, 29,90 Euro.


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 312 - Mai/Juni 2009


Treueschwüre für die Nazis - Kollaborateure in der Dritten Welt

Eine Artikelreihe von Karl Rössel (Rheinisches JournalistInenbüro Köln)

Die hiesige eurozentrische Geschichtsschreibung übersieht, dass der Zweite Weltkrieg auch in Ländern der Dritten Welt geführt wurde und dort Millionen Opfer forderte. Ebenso negiert wird die Tatsache, dass in einigen Dritte-Welt-Ländern Teile der Bevölkerung und hochrangige Politiker mit den Nazis kollaborierten: in Palästina der höchste religiöse und politische Repräsentant der AraberInnen (Hadj Amin el-Husseini), in Indien der zeitweilige Präsident des Indischen Nationalkongresses (Subhas Chandra Bose) und in Argentinien der Staatspräsident (Juan Domingo Perón). Obwohl deren Kollaboration mit den Achsenmächten bekannt und vielfach belegt ist, werden sie in den jeweiligen Ländern bis heute von vielen als "Helden" verehrt.

Die Beschäftigung mit diesem Aspekt der Geschichte ist um so dringlicher, da es eine wachsende Tendenz unter deutschen WissenschaftlerInnen und PublizistInnen gibt, die Kollaboration von Nazi-Sympathisanten aus anderen Kontinenten zu verharmlosen, zu verleugnen oder umzudeuten. Die allesamt von Karl Rössel verfassten Texte in diesem Themenschwerpunkt erinnern daher nicht nur an wenig bekannte historische Fakten, sondern fordern auch zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Geschichtsrevisionismus auf.


Schwerpunkt: Kollaborateure in der dritten Welt

Politik und Ökonomie

Heft - Editorial: Solidarität ist Selbsthilfe

Kambodscha: Im Schatten der Geschichte
Warum Transitional Justice fast 30 Jahre auf sich warten ließ
von Wolfgang Form

Sri Lanka: Why?
Selbstverbrennungen als Mittel des Protests
von Lorenz Graitl

Abtreibungspolitik I: Wie im Vatikan
Lateinamerikas linke Regierungen und ihre Abtreibungspolitik
von Eva Bahl und Judith Götz

Abtreibungspolitik II: »Frauen werden pathologisiert«
Interview mit Sarah Diehl über Abtreibungspolitik und Selbstbestimmung

Außenpolitik: Politik mit Stellvertretern
Neuere außenpolitische Konzepte setzen auf Core States und Ankerländer
von Sören Scholvin

Weltwirtschaft: Shopping in Paris
Korruption und französische Interessen in Afrika
von Bernhard Schmid


Editorial zum Themenschwerpunkt

»Die Fahne hoch...!«
Die faschistische »Internationale« von Buenos Aires bis Shanghai

Bloß nicht dämonisieren!
Deutsche WissenschaftlerInnen verharmlosen arabische Kriegsverbrecher

Auf Seiten der Waffen-SS
Wie indische Kollaborateure zu Freiheitskämpfern umgedeutet werden

Peróns deutsche Freunde
Die Fluchthilfe der argentinischen Regierung für Naziverbrecher

Notwendige Unterscheidungen
Thesen wider den Geschichtsrevisionismus in Sachen Kollaboration


Kultur und Debatte

Film I: Im Schatten der großen Filme
Das afrikanische Filmfestival FESPACO feiert Jubiläum
von Marc-André Schmachtel und Theresa Enders

Film II: Menschen in Bewegung
Das freiburger film forum präsentiert 2009: Geschichten der Migration
von Ulrike Mattern

Literatur: Keine Rückkehr in den Süden
Nachruf auf den Schriftsteller Tajjib Salich
von Thomas Schmidinger

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


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Quelle:
iz3w Nr. 312, Mai/Juni 2009
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für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2009