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IZ3W/203: Agender - Bigender - Genderqueer - Feministische Auseinandersetzungen um das Internet


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 315 - November/Dezember 2009

Schwerpunkt: Digitale Welten

Agender - Bigender - Genderqueer
Feministische Auseinandersetzungen um das Internet

Von Tanja Carstensen


Seit etwa 15 Jahren ist das Internet ein Feld der öffentlichen Kommunikation und seit dieser Zeit werden auch hier die Geschlechterverhältnisse verhandelt. Dabei ist das Internet durchaus ein besonderes Terrain für feministische Vernetzungen und queer-feministische Initiativen, die die gängigen geschlechtlichen Identitäten infrage stellen.


Um die Geschichte feministischer Auseinandersetzungen um das Internet ranken sich unterschiedliche Erzählweisen: Die pessimistische Version beginnt bei der Befürchtung, das Internet könne wie viele andere Technologien zu einer Männerdomäne werden. Das Internet stammt aus den männlich geprägten Entstehungskontexten Militär, Technikforschung und Hackerkulturen. Auch die Inhalte im WWW waren zunächst männlich dominiert: Auto, Computer, Sport und Pornografie machten den Großteil der Internet-Angebote aus. Im Laufe der Zeit verlor die Kategorie Geschlecht für die Internetnutzung aber an Relevanz. In den Industrienationen ist inzwischen fast Gleichstand zwischen Männern und Frauen erreicht. Zudem ist eine Vielzahl von Angeboten von und für Frauen entstanden. Die pessimistischen Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet. In der optimistischen Version wird das Internet als Chance für die Stärkung feministischer Politik gefeiert. Mit dem Internet verbanden sich Hoffnungen auf die Herstellung weltweiter Solidarität und Vernetzung von Frauen, besserer Partizipation und neuen feministischen (Gegen-)Öffentlichkeiten. Poststrukturalistisch inspirierte FeministInnen richteten Hoffnungen auf die Auflösung der Zweigeschlechtlichkeit durch das Internet. In der körperlosen, anonymen Kommunikation im Internet könnten Identitäten frei erfunden, neue Geschlechtsidentitäten denkbar werden und Geschlechterverhältnisse in Bewegung geraten. Donna Haraways Figur der Cyborg beflügelte Phantasien, im Internet würden sich die Grenzen zwischen Mensch und Technik sowie zwischen Mann und Frau auflösen.

Erste Untersuchungen zeigten jedoch schnell, dass die Frage nach Geschlechtszugehörigkeit in Chats oder bei Online-Spielen eine der ersten ist, die gestellt wird. Es entstanden kaum Räume, in denen Geschlecht gar keine Rolle mehr spielt oder weitere Geschlechter entworfen wurden. Auch die Hoffnungen auf Stärkung feministischer Solidarität wurden zunächst gedämpft. Die fehlende technische Infrastruktur in den Trikontländern ließ die weltweite Vernetzung von Frauen vorerst einen schönen Traum bleiben. Die euphorischen Hoffnungen haben sich damit ebenfalls nicht bewahrheitet.


Feministische Seiten

Eine Untersuchung der TU Hamburg-Harburg von 2002 bis 2005 über die Nutzung des Internets in feministischen Projekten in der Bundesrepublik zeigte, dass es bereits damals selbstverständlich war, dass feministische Initiativen mit einer eigenen Homepage im Internet präsent sind. Allerdings zeigte sich auch, dass das Internet fast ausschließlich als Informationsmedium genutzt wurde und nur sehr zögerlich für Diskussion, Meinungsbildung und politische Aktionen. (1) Inzwischen stellen Seiten wie beispielsweise die des Feministischen Instituts Hamburg (2) einen Ort im Netz dar, an dem unterschiedlichsten Diskussionen ein Raum gegeben wird. Neben Selbstdarstellungen von feministischen Projekten behaupteten sich früh auch CyberfeministInnen im Netz. Diese Bewegung setzt programmatisch auf Vielfalt und Widersprüchlichkeit. Ironie und Verfremdung sind wichtige Strategien im Versuch, auf der symbolischen Ebene Bedeutungsverschiebungen zu erreichen, Stereotype von Geschlecht aufzugreifen und Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit zu irritieren. Hierfür nutzen CyberfeministInnen neben Texten auch Bilder und andere künstlerische Ausdrucksformen des Internets. (3)

Mittlerweile hat sich mit der Weblog-Technologie zudem eine diverse feministische BloggerInnen-Szene entwickelt. Prominente Beispiele sind der mädchenblog, der Genderblog oder die Mädchenmannschaft. (4) Gemäß der Blog-Kultur finden sich vor allem Kommentare und Diskussionsbeiträge auf feministischen Weblogs. Aktuelle Themen werden kritisiert und kommentiert. Auffällig sind daneben die starke Vernetzung und das intensive Verweisen aufeinander. Blogroll und Kommentarfunktionen erzeugen eine enge Verflechtung feministischer Diskussionen in der Blogosphere. Dass Weblogs so intensiv von FeministInnen genutzt werden, liegt sicher an der weiten Verbreitung von Weblogs. Auch sind es vermutlich eher die jüngeren FeministInnen, die die Blogosphäre erobern. Vielleicht ist die intensive Weblog-Nutzung aber auch ein Indiz dafür, dass Weblogs den Ansprüchen insbesondere queer-feministischer Politik eher entsprechen als Homepages: Sie sind flüchtiger und entziehen sich starren Kategorisierungen. Über schnelles Positionieren ermöglichen sie die Bildung temporärer Bündnisse. Auf einer traditionellen Homepage zeigen die Linklisten meistens dauerhafte Verbindungen an. Diese Starrheit ist für eine queer-feministische Kritik, die Identitätspolitik kritisiert, problematisch und kann in Weblogs eher vermieden werden.


Facebook Trouble

Während auf Webseiten und Weblogs selbstbestimmt feministische Politik gemacht wird, kommt es an den zentralen Treffpunkten im Netz wie Wikipedia, Facebook, MySpace und studiVZ zu teils heftigen Kämpfen um die Relevanz feministischer Themen. So sind in Wikipedia feministische Inhalte keineswegs selbstverständlich. Die Einträge »Ladyfest« und »riot grrrl« standen bereits zur Diskussion, gelöscht zu werden. Sie wurden als »freie Assoziation zum Thema« kritisiert und seien nicht objektiv. Der »riot grrrl«-Eintrag wurde z.B. mit folgenden Worten angegriffen:

»Ich will mal ganz ketzerisch die Frage nach der Relevant stellen und frage mich auch was das nun genau sein soll. Entstanden in einem eher unbedeutenden Kaff, reagiert wie auch immer auf eine empfundene männliche Dominanz in der Musikszene (ist dem so? Wenn ich Radio höre habe ich den Eindruck öfter Frauen, denn Männer singen zu hören), und dann ein paar nicht wirklich bekannte Musikkapellen als Beispiele. Als Literatur werden vor allem Artikel in Zeitschriften mit doch sehr begrenzter Leserschaft angegeben, die Weblinks sind irgendwelche Foren. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier krampfhaft etwas groß geschrieben werden soll, von dem kaum jemand je Notiz genommen hat.« (5)

Durch vehementes Verteidigen der Relevanz konnte die Löschung der beiden Einträge verhindert werden. Gleichzeitig existieren auch feministische Nutzungsweisen der Wiki-Technologie: An der Humboldt-Universität Berlin gründeten Studierende ein Wiki für die deutschsprachige Frauen- und Geschlechterforschung. Das Gender@Wiki (6) will ein zentraler Ort im Internet sein, um feministisches Wissen zu bündeln. Sehr prominent geworden sind in den letzten Jahren auch soziale Netzwerkseiten wie Facebook, XING oder studiVZ. Aus feministischer Sicht fällt zunächst auf, dass Geschlecht in den Eingabeformularen, die bei der Anmeldung ausgefüllt werden müssen, sowie in den Persönlichkeitsprofilen eine zentrale Rolle einnimmt. Die meisten Netzwerke bieten dabei lediglich die Auswahlmöglichkeiten männlich und weiblich; wird die Auswahl verweigert, ist eine Anmeldung nicht möglich. Bei studiVZ erscheint bei Freilassen des Feldes die Meldung: »Bei uns können sich nur weibliche oder männliche Wesen anmelden!« Personen, die sich weder als männlich noch als weiblich verstehen, haben damit keine Möglichkeit, ihre Geschlechtsidentität zum Ausdruck zu bringen. Allerdings finden sich in den sozialen Netzwerken auch interessante Gegenstrategien: Zum einen gibt es Persönlichkeitsprofile, die sich dem Authentizitätszwang entziehen und der Aufforderung, die Felder mit ausführlichen persönlichen Angaben zu füllen, ironisch, polemisch und politisch begegnen. Zum anderen wird in internen Gruppen z.B. bei studiVZ über die Strategie diskutiert, bei jeder Anmeldung die Angabe zum Geschlecht zu wechseln. Auf diese Weise entwerten UserInnen die Aussagekraft der Felder und wehren sich gegen Positionierungszwänge. Gemeinsame Versuche allerdings, bei den Verantwortlichen auf Veränderungen der Anmeldeformulare hinzuwirken, wurden abgewiegelt: Zum einen wurde Zweigeschlechtlichkeit als biologisches Fakt behauptet, zum anderen zogen sich Administratoren auf die unsinnige Position zurück, es wäre »höchst kompliziert«, andere als binäre Kategorien im BenutzerInnenprofil und geschlechtergerechte Sprachformen zu programmieren.

Bei Facebook hat sich eine Gruppe gegründet, die alternative Anmeldeformulare entwickelt hat. Die Gruppe »For a queer positive facebook....« (7) fordert u.a. ein Blancofeld für Gender und für das Feld »interested in« auch die Felder »none« und »other«. Als Gender-Identität können zahlreiche Kategorien angegeben werden wie: Agender, Bigender oder Genderqueer. Die AutorInnen schreiben: »Hiermit kannst Du Deine sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität exakt ausdrücken, auf die Art, auf die sie ausgedrückt werden sollte: deine Art! Wähle aus vielen Möglichkeiten, binär oder nicht-binär, für Geschlecht, Übergangsstatus, Geschlechtsidentität, Geschlechterpräsentation, Orientierung, interessiert an, Titel, Pronomen oder füll es selbst aus.« Zwar war die Gruppe bisher nicht erfolgreich darin, die Anmeldeformulare zu ändern. Für interne Diskussionen hat die Initiative - ebenso wie die anderen genannten Beispiele - mit über 11.000 Mitgliedern und hunderten von Diskussionsbeiträgen bereits gesorgt.

Das heißt, es gibt also jede Menge Feminismus im Netz, mal mit eigenen Projekten und in eigens geschaffenen Räumen, mal mit Interventionen und Kritik an den Geschlechterstrukturen und Identitätsangeboten der zentralen Treffpunkte. FeministInnen kämpfen um die Mitgestaltung von technischem Design und geschlechtergerechte Nutzungsweisen, die Stärkung feministischer Themen, Vernetzung sowie um die Ermöglichung von Identitätspositionierungen jenseits der Zweigeschlechtlichkeit. Das Internet ist längst ein Feld geworden, in dem die gleichen Auseinandersetzungen um Geschlechterverhältnisse und Feminismus ausgetragen werden wie außerhalb des Netzes.


Tanja Carstensen ist Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Hamburg-Harburg, Arbeitsgruppe Arbeit-Gender-Technik, und Mitgründerin des Feministischen Instituts Hamburg.


Anmerkungen:

(1) www.frauenbewegung-online.deempowermentStart.htm

(2) www.feministisches-institut.de/

(3) z.B. http://obn.org

(4) http://maedchenblog.blogsport.de/
http://genderblog.de/
http://maedchenmannschaft.net/

(5) http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:
L%C3%B6schkandidaten/5._August_2007#Riot_grrrl_.28erledigt.29.
(Schreibfehler im Original).

(6) www.genderwiki.de

(7) www.facebook.com/group.php?gid=2214484023


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 315 - November / Dezember 2009


THEMENSCHWERPUNKT:
Digitale Welten - SoftWares und das Internet

Über 1,2 Milliarden Menschen weltweit und über die Hälfte der EU-BürgerInnen nutzen inzwischen das Internet. Die IT-Kommunikation wird in gelegentlich aber immer noch in überirdischen Metaphern beschrieben: "Nur gut, dass man das Internet nicht hören kann, denn allein das chinesische Netzgeschnatter wäre wohl laut genug, um das gesamte Universum zum Einsturz zu bringen", schreibt Christian Y. Schmidt in seinem neuen China-Buch "Bliefe von dlüben". Die Volksrepublik steht mit über 300 Millionen registrierten InternetnutzerInnen weltweit an erster Stelle derer, die spielen, chatten, posten und bloggen, "was die Tasten hergeben".

Wenn vom Süden und dem Internet die Rede ist, muss man auch über die "digitale Kluft" sprechen. Da schon heute in absoluten Zahlen rund 60 Prozent der InternetnutzerInnen im Süden leben, ist eine weitere entscheidende Frage zur digitalen Welt, wie die digitale Kommunikation im Süden genutzt wird. Und gerade in autoritären Regimes spielt das Internet eine wichtige Rolle für dissidente Sichtweisen: Freiheitsbestrebungen, die im politischen Raum scheitern, lassen sich im Netz kaum unterdrücken.

Themen im Schwerpunkt:
Im Netz von Clans - Global verteilte Gemeinschaften statt globaler Gesellschaft + Internet-Vernetzung für Weltverbesserer + to be bangalored... - Internationale Arbeitsteilung in der Softwareindustrie + Copy light - Freie Software und globale Emanzipation + Agender, Bigender, Genderqueer - Feministische Auseinandersetzungen um das Internet + "Das Internet wird überbewertet" - Interview mit John Bwakali über Indymedia Kenya + "Schluss mit dem Kulturpessimismus" - Interview mit Geert Lovink über die neuen Kommunikationsmittel

Weitere Themen im Heft:

Politik und Ökonomie:
Mexiko: Arbeitskampf Contra Continental + Erfolgreiche Skandalisierung - Das NoBorder-Camp auf der griechischen Insel Lesbos + Migration: Ohne Sprachzertifikat kein Ehegattennachzug + Menschenrechte: Erfahrungen mit Kinderrechten in Guatemala und Indien + Chile: Geschichtspolitik um den 11. September + Drogenpolitik: Die ekuadorianische Regierung zwischen Repression und Liberalisierung

Kultur und Debatte:
Film: Der Regisseur Barry Barclay und das indigene Kino aus Neuseeland + Vergangenheitspolitik: Der Berliner Streit um die Ausstellung "Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg" + Nationalsozialismus: Interview mit Raffael Scheck über sein neues Buch "Hitlers amerikanische Opfer"



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INHALTSÜBERSICHT

Hefteditorial: Schlimmer geht's immer!


Politik und Ökonomie

Arbeitskämpfe: Contra Continental
Ein mexikanischer Arbeitskampf fordert deutsche Gewerkschaften heraus Interview mit Lars Stubbe

NoBorder: Erfolgreiche Skandalisierung
Das NoBorder-Camp auf der griechischen Insel Lesbos
von Miriam Edding

Migration: »Ihr wollt uns nicht«
Ohne Sprachzertifikat kein Ehegattennachzug
von Katja Giersemehl

Menschenrechte: Die Ohnmacht des Rechts
Erfahrungen mit Kinderrechten in Guatemala und Indien
von Manfred Liebel

Chile: Erinnern, um zu vergessen
Geschichtspolitik um den 11. September in Chile
von Sebastian Sternthal

Drogenpolitik: »Legt euch nicht mit Ekuador an!«
Die Drogenpolitik der Regierung Correa zwischen Repression und Liberalisierung
von Linda Helfrich


Schwerpunkt: Digitale Welten

Editorial

Im Netz von Clans
Global verteilte Gemeinschaften statt globaler Gesellschaft
von Karsten Weber

Internet-Vernetzung für Weltverbesserer
von Sascha Klemz

to be bangalored - or not to be
Internationale Arbeitsteilung in der Softwareindustrie
von Vaba Mustkass und Winfried Rust

Copy light
Freie Software und globale Emanzipation
von Stefan Meretz

Agender - Bigender - Genderqueer
Feministische Auseinandersetzungen um das Internet
von Tanja Carstensen

»Das Internet wird überbewertet«
Interview mit John Bwakali über Indymedia Kenya

»Schluss mit dem Kulturpessimismus!«
Interview mit Geert Lovink über die neuen Kommunikationsmittel


Kultur und Debatte

Film: Der Wegbereiter
Barry Barclay und das indigene Kino aus Neuseeland
von Ulrike Mattern

Vergangenheitspolitik: Erinnerung als Politikum Der Berliner Streit um die Ausstellung »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg«

Nationalsozialismus: »Sie wurden einfach erschossen«
Interview mit Raffael Scheck über sein Buch »Hitlers afrikanische Opfer«

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


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Quelle:
iz3w Nr. 315 - November / Dezember 2009, S. 30-31
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
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für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und
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Förderabonnement ab 52,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Februar 2010