Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

IZ3W/231: Rezension - Der relativierte Multikulturalismus


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 321 - November/Dezember 2010

Der relativierte Multikulturalismus

Von Wolf-Dieter Vogel


»Multikulti« steckt in der Krise. Einst von Linken gehätschelt und von Rechten zum Feindbild erkoren, sind die Koordinaten des Konzepts vom gleichberechtigten Zusammenleben verschiedener 'Kulturkreise' gehörig durcheinander gekommen. Zwangsverheiratungen und »Ehrenmorde« lassen den Publizisten Hendrik M. Broder zu dem fragwürdigen Schluss kommen: »Toleranz hilft nur den Rücksichtslosen.« Im Bemühen, MigrantInnen gegen rassistische Angriffe zu verteidigen, verklären indes viele Linke konservative Traditionen. Das Tragen von Kopftüchern wird zum schützenswerten Kulturgut, Feministinnen wie Christina von Braun (v)erklären die Burka zum Schutz vor der kapitalistischen Verwertung der Frau und zum Gegenstück der Pornografisierung des weiblichen Körpers. Säkulare Positionen, einst Grundlage emanzipatorischen Denkens, werden gegen die Gefahr abgewogen, islamische Gefühle zu verletzen.

Wird der Kampf gegen patriarchale Gewalt rassistisch, wenn er sich gegen die Tradition nichteuropäischer Kulturen richtet? Und wer verteidigt dann das Menschenrecht? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Kulturwissenschaftlerin Imke Leicht in ihrem Buch Multikulturalismus auf dem Prüfstand. Der Kern der Problematik, so Leicht, »liegt schon in der Begründung des Kulturrelativismus im ausgehenden 19. Jahrhundert.« Die Frage ist: Gibt es universelle, für die gesamte Menschheit geltende Normen oder sind jeweils spezifische Kulturen die einzige Legitimationsquelle für rechtliche und moralische Prinzipien?

Es waren zunächst fortschrittliche Kräfte, die den kulturellen Relativismus in Abgrenzung zum von der Kolonialzeit geprägten ethnozentristischen Denken entwarfen. Gegen die Evolutionisten, die von einer sich weltweit nach ähnlichen Gesetzmäßigkeiten entwickelnden Kultur ausgingen und die westeuropäische Zivilisation als die am weitesten entwickelte betrachteten, setzte der Ethnologe Franz Boas Ende des 19. Jahrhunderts seine antikoloniale Theorie. Demnach hat jede Kultur ihre eigene Entwicklung und spezifische historische Wurzeln. Darauf aufbauend vertrat Boas als grundlegende Idee des Kulturrelativismus die absolute Toleranz gegenüber fremden Kulturen. Nach dem Nationalsozialismus und zwei imperialistischen Weltkriegen entstand die Forderung nach Anerkennung kultureller Identität und Differenz sowie »nationaler Souveränität der Völker«, wie sie der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss vertrat. Mit seinem Plädoyer »gegen Monotonie und Uniformität« und die »fortschreitende Verschmelzung der Populationen« brachte er die Ambivalenz kulturrelativistischer Position auf den Punkt.

Lévi-Strauss' Thesen erlangten für antikoloniale Kämpfe zentrale Bedeutung, dennoch wurden sie von vielen TheoretikerInnen kritisiert. Etwa von Alain Finkielkraut: Wo kulturelle Identität zum Sinnbild von Unabhängigkeit und die Betonung der Verschiedenheit zum Stolz über die eigene Wesensart werde, würden die Kolonisierten erneut eingesperrt: diesmal in einer kollektiven Identität als aufgezwungener Homogenität, erklärte der französische Philosoph. Folgt man dieser Kritik, so ist es nahe liegend, dass das Postulat nach einem »Recht auf Differenz« auch mit rechten Ideologien vereinbar ist. Tatsächlich verteidigt beispielsweise Alain de Benoist, der Chefideologe der französischen Nouvelle Droite, die »Vielfalt der Rassen, der Ethnien, der Sprachen, der Sitten oder Religionen« gegen eine »US-amerikanische Verwestlichung«.

Es wäre zu kurz gegriffen, angesichts solcher Interpretationen kulturrelativistische Theorien in Bausch und Bogen zu verurteilen. Imke Leicht zeigt auf, wie sich aus der Ablehnung des US-geprägten »Melting-Pot« der Multikulturalismus als Alternative entwickelte. Gegen ein Zusammenschmelzen, das de facto die Akzeptanz einer »vermeintlich US-amerikanischen Identität« bedeutet habe, sei in den 1960er Jahren aus sozialen Bewegungen und der »Black Community« ein »ethnic revival« entstanden. Die daraus weiter entwickelte Multikulti-Debatte verfolgt die Autorin bis in die heutige Zeit. VertreterInnen eines liberalen Multikulturalismus kommen ebenso zu Wort wie Ayaan Hirsi Ali und Necla Kelek, deren radikale Kritik an islamischen Traditionen weite Kreise der Linken provozierte. Leicht selbst enthält sich aufgeregter Polemiken, verzichtet aber nicht auf eine kritische Einordnung. Ohne den Rassismus der Mehrheitsgesellschaft außer Acht zu lassen, erteilt sie den Versuchen eine Abfuhr, durch eine alleinige Fokussierung auf das Problem der rassistischen Diskriminierung vor einer Kritik am frauenfeindlichen Traditionalismus mancher migrantischer Milieus zurückzuweichen. Diese Strukturen würden häufig als pure Reaktion auf Ausgrenzung relativiert oder entschuldigt. Zudem verweist die Autorin auf die Menschenrechtsdiskussion. Denn die Romantisierung traditioneller Kulturen und die Verteidigung »nationaler Souveränität« stehen immer wieder gegen die Grundsätze der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Wie in der deutschen Multikulti-Debatte werden auch auf internationaler Ebene autoritäre oder frauenfeindliche Verhältnisse hingenommen, um nicht 'imperialistischen Aggressionen' Vorschub zu leisten: Folterungen im Iran, die Verfolgung Oppositioneller in Kuba und in letzter Konsequenz sogar Genitalbeschneidungen in Somalia oder Ägypten.

Gegen solche meist von linken und anderen AntiimperialistInnen eingenommene Haltungen bringt Leicht das universelle Menschenrechtsverständnis des Philosophen Heiner Bielefeldt in Anschlag. Bielefeldt verweigert sich dem Vorwurf, die Menschenrechte seien eurozentrisch definiert und ein Werkzeug imperialistischer Mächte. Vielmehr seien sie eine weltweite Reaktion auf Unrechtserfahrungen und Ausdruck politischer und sozialer Missstände. Nicht Kulturen oder Religionen seien die Subjekte menschenrechtlicher Anerkennung, sondern Menschen, »die solche kulturellen Traditionen tragen oder auch nicht mehr tragen wollen und die ihre je eigenen Identitäten ausbilden und verändern«. Dieser Ansatz sollte zum Ausgangspunkt weiterer Debatte werden. Menschenrechtsverletzungen mit »kulturellen Traditionen« zu rechtfertigen wäre dann ebenso wenig möglich wie rassistisch verallgemeinert von »den Muslimen« zu reden.


Imke Leicht:
Multikulturalismus auf dem Prüfstand.
Metropol Verlag, Berlin 2009. 208 Seiten, 19 Euro.


*


Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 321 - November/Dezember 2010


Dossier:
Corpus delicti - umkämpftes Recht auf Gesundheit

Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Sie umfasst sowohl körperliches als auch psychisches und soziales Wohlbefinden. Doch das insbesondere Menschenrecht von Frauen auf Gesundheit ist stetig umkämpft und wird oft verletzt. Der Frauenkörper gilt weithin als Ware, er wird als begehrens- und besitzenswertes Objekt ge- und misshandelt. Spätestens mit Geburt des neuzeitlichen Staates war die Verwaltung und Kontrolle des Frauenkörpers auch ein wichtiges Instrument der Bevölkerungsregulierung.

Das hierarchische Verhältnis zwischen Nord und Süd kommt beim Zugriff auf Frauenkörper ebenfalls zum Tragen - in allen Aspekten wie race, class, gender, disability und identity. Das Dossier zeichnet die vielfältigen Eingriffe, Angriffe und Übergriffe auf Frauenkörper nach, präsentiert aber auch Ansätze zur Veränderung. Im Mittelpunkt steht dabei das Recht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit.

Themen des Schwerpunkts:
Jungfräulich, nackt, unrein - Eine Reise in die Porno-Tropen + Untergeben und erobert - Der Schwarze Frauenkörper in Südafrika + Gespendet, gehandelt, getauscht - Interview über die Globalisierung der Eizellmärkte + Kinderlos, unfruchtbar, nutzlos - Unerwünschte Kinderlosigkeit in Brasilien + Umkämpft und verteidigt - Streit um (un-)sichere Abtreibungen in Lateinamerika + Symptomatisch verkannt - Gegen Müttersterblichkeit helfen keine einfachen medizinischen Lösungen + "Weg vom Albert-Schweizer-Modell" - Interview über medizinische Entwicklungszusammenarbeit + Verletzt, verstümmelt, verkannt - Genitalverstümmelung im Nordirak + Ausgebeutet oder ausgeschlossen? - Recht auf Gesundheit im Kontext migrantischer Prostitution


INHALTSÜBERSICHT


Hefteditorial: Hurra wir sind erwachsen!


POLITIK UND ÖKONOMIE

Swaziland: Die Tyrannei des Löwen
Ein besonders repressives Patriarchat fördert die Ausbreitung von Aids
von Thomas Schmidinger

Ruanda: Kagame, wer sonst?
Tagebuchnotizen zur Präsidentenwahl in Ruanda
von Stefan Sommer

Namibia: Entlang der Roten Linie
Die Landreform ist mehr als eine Frage der Umverteilung
von Sören Scholvin

Aserbaidschan: Regiert wie geschmiert
Was bedeuten Wahlen im Erdölstaat Aserbaidschan?
von Ismail Küpeli

Zypern: Kalter Krieg im Mittelmeer
Die Lösung des Zypernkonflikts rückt in die Ferne
von Sabine Hagemann-Ünlüsoy

Ausstellung: Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg
Das iz3w präsentiert umfangreiches Begleitprogramm zur Ausstellung in Freiburg
von Jan Keetman


DOSSIER: AFRIKA POSTKOLONIAL

Editorial: "Your body is a battleground"

Was ist neu am Neokolonialismus?
Formelle und informelle Herrschaft im unabhängigen Afrika
von Reinhart Kößler

Jungfräulich, nackt, unrein
Eine Reise in die Porno-Tropen
von Alice Rombach

Untergeben und erobert
Der Schwarze Frauenkörper in Südafrika
von Rita Schäfer

Gespendet - gehandelt - getauscht
Interview mit Erika Feyerabend über die Gobalisierung der Eizellmärkte

Umkämpft und verteidigt
Streit um (un-)sichere Abtreibungen in Lateinamerika
von Kirsten Achtelik

Symptomatisch verkannt
Gegen Müttersterblichkeit helfen keine einfachen medizinischen Lösungen
von Martina Backes

»Weg vom Albert-Schweitzer-Modell«
Interview mit dem Arzt Michael Runge über medizinische Entwicklungszusammenarbeit

Verletzt - verstümmelt - verkannt
Genitalverstümmelung im Nordirak
von Arvid Vormann

Ausgebeutet oder ausgeschlossen?
Gesundheit im Kontext migrantischer Prostitution
von Veronika Ott


KULTUR UND DEBATTE

Sklaverei: Wettstreit der Erinnerungen
Ein neues Buch facht die Debatte über den arabischen Sklavenhandel an
von Simon Brüggemann

Medien: »Wir sind offen für Kontroversen«
Interview mit Tidiane Kassé über die panafrikanische Internetplattform Pambazuka News

Kunst: Die Versprechen der Moderne
Lateinamerikas abstrakte Kunst
von Katja Behrens

Film: Das »Coca-Cola der Fruchtsäfte«
Eine Doku über Jaffa-Orangen zeichnet palästinensisch-israelische Geschichte nach
von Ulrike Mattern

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


*


Quelle:
iz3w Nr. 321 - November/Dezember 2010
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
Herausgeberin: Aktion Dritte Welt e.V. - informationszentrum 3. welt
Postfach 5328, Kronenstr. 16a (Hinterhaus)
79020 Freiburg i. Br.
Tel. 0761/740 03, Fax 0761/70 98 66
E-Mail: info@iz3w.org
Internet: www.iz3w.org

iz3w erscheint sechs Mal im Jahr.
Das Einzelheft kostet 5,30 Euro plus Porto.
Das Jahresabonnement kostet im Inland 31,80 Euro,
für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und
Zivildienstleistende 25,80 Euro,
Förderabonnement ab 52,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. November 2010