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IZ3W/244: In der von Marokko besetzten Westsahara eskaliert der Konflikt erneut


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 323 - März/April 2011

Eine endlose Geschichte
In der von Marokko besetzten Westsahara eskaliert der Konflikt erneut

Von Axel Goldau


Seit Mitte Oktober 2010 erreicht der letzte Kolonialkonflikt in Afrika wieder einmal weltweit die Medien. Tausende Saharauis, wie die BewohnerInnen der Westsahara genannt werden, errichteten »Lager der Würde«. Es kam zu teils blutigen Auseinandersetzungen mit Polizei und Gendarmerie Marokkos, das die Westsahara seit 1975 besetzt hält. Worauf beruht der Westsahara-Konflikt, und welche Rolle spielen Frankreich, die EU und die UNO darin?

Flüchtlingsjugend beim Volleyballspiel im Lager Al-Aaiún. - © Axel Goldau, redaktion@kritische-oekologie.de

Flüchtlingsjugend im Lager Al-Aaiún
© Axel Goldau, redaktion@kritische-oekologie.de

Fuerteventura, im Januar: Die spanische Küstenwache bringt ein kleines Boot vor der Küste auf. An Bord sind 32 Jugendliche. Sie haben sich von El Aaiún, der Hauptstadt der Westsahara, auf die gefährliche Überfahrt gemacht. 17 Stunden haben sie für die 120 km benötigt, die die Kanarischen Inseln als Außenposten der EU von der saharauischen Küste trennen. Sie trotzen der rauen See, vor allem aber Frontex, der Flüchtlingsabwehr der EU. In perfektem Spanisch erklären Sie gegenüber den Behörden: »Wir sind vor der Repression und der Hölle, die wir in El Aaiún erleben, geflohen.« Sie beantragen politisches Asyl. Vermutlich sind noch weitere solcher Boote unterwegs. Wovor fliehen die jungen Menschen?


Antikolonialer Kolonialismus

Die Westsahara, ein Gebiet etwa so groß wie die alte Bundesrepublik Deutschland, ist ein geteiltes Land. Ein System aus Wällen, ausgestattet mit modernsten Kriegsgeräten und todbringenden Minen vor allem aus den USA und Frankreich, erstreckt sich über 2.400 km durch die Wüste. Es trennt die Westsahara in den westlichen, von Marokko besetzten, und den östlichen von der Frente Polisario (1) befreiten Teil. Durch die Besetzung hat sich Marokko Zugang zu den wichtigsten Ressourcen des Landes verschafft: Phosphat aus der Mine von BuCraa im nördlichen Landesteil Saguía el Hamra sowie reiche Fischvorkommen vor der über tausend Kilometer langen Küste. Aus Sicht der UNO ist die Westsahara noch immer ein »nicht-selbstständig regiertes Gebiet«, das zur Dekolonisierung ansteht. Bis 1975 verweigerte die alte Kolonialmacht Spanien den Saharauis ihr Selbstbestimmungsrecht, seit 1975 tut es die neue Kolonialmacht, das Königreich Marokko.

Beide Mächte waren Mitte der 1970er Jahre durch politische Instabilitäten geprägt: In Spanien lag der faschistische Diktator Franco im Sterben; in Marokko putschten Militärs zweimal gegen den König, der jeweils wie durch Wunder die Anschläge überlebte. König Hassan II (2) erkannte in der Westsaharafrage seine Chance zum politischen Überleben: So konnte er sich gegenüber seiner verarmten Bevölkerung als »antikolonialer Held« feiern lassen, indem er »heim« holte, was niemals »heim« war, und seine putschwütige Armee in einem Wüstenkrieg beschäftigen.

Zunächst musste Hassan allerdings fürchten, dass Spanien sich doch an das Völkerrecht hält und der saharauischen Bevölkerung ermöglicht, »entsprechend ihrem Willen und ihren frei geäußerten Wünschen [...] völlige Unabhängigkeit und Freiheit zu genießen«, wie es Resolution 1514 der UN-Vollversammlung bereits 1960 gefordert hatte. Um Zeit zu gewinnen und einem Referendum zuvorzukommen, rief Hassan im Herbst 1974 den Internationalen Gerichtshof an. Dieser sollte »historische Ansprüche« seitens Marokkos und Mauretaniens auf die Westsahara vor der spanischen Kolonisierung bescheinigen. Der Gerichtshof kam in seinem Gutachten nicht zu diesem gewünschten Ergebnis. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hassan seine politische Zukunft bereits so sehr an die Westsahara geknüpft, dass er einem Krieg nicht mehr entrinnen konnte. Ideologisch, logistisch und materiell konnte er sich der Unterstützung Frankreichs und der USA sicher sein: So verhinderten diese beiden Veto-Mächte eine Verurteilung Marokkos durch den Weltsicherheitsrat. Dennoch sollte ihm ein zäher und verlustreicher Krieg, der den Staatshaushalt des Königreichs ruiniert und die nachhaltige Entwicklung im eigenen Land blockiert, bevorstehen.

Denn aus der kleinen Guerillaarmee der Frente Polisario wurde während des Krieges ab 1975 eine der kampferprobtesten Armeen der Welt: Nachdem die Kämpfer zunächst den Exodus eines großen Teils der saharauischen Bevölkerung ins algerische Exil organisiert hatten, gingen sie dazu über, die Westsahara Stück für Stück wieder zurückzuerobern. 1979 musste sich Mauretanien dem saharauischen Druck beugen und zog sich aus dem Krieg zurück. Daraufhin versuchte Hassan, das gesamte Gebiet unter seine Kontrolle zu bringen. Anfang der 1980er Jahre musste Marokko beinahe ebenfalls das Land verlassen. Die königlichen Invasionstruppen konnten sich zu diesem Zeitpunkt nur noch in den großen Garnisonen El Aaiún, Bojador, Dakhla und Smara verschanzt halten und wagten sich nicht mehr in die Wüste hinaus. Aber auch aus dieser misslichen Situation befreiten wieder treue Freunde - vor allem in Paris und Washington - den Kriegsfürsten mit Waffenlieferungen, militärischer Ausbildung und der Errichtung des mittlerweile auf über 2.400 km ausgebauten Wallsystems. Die Frente Polisario konnte auf etwa ein Drittel der Territorialfläche nach Osten zurückgedrängt werden.


Halbherzige UNO

Die Aktivitäten der Frente Polisario blieben nicht nur auf den Krieg beschränkt. Aufgrund der tiefen Verankerung innerhalb der saharauischen Bevölkerung erkannte die UNO die Frente Polisario als legitime Vertreterin der Westsahara an, sie bekam den Beobachterstatus bei der UNO zugesprochen. 1976 proklamierte die Frente Polisario die Gründung der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS), die bis heute von etwa 70 Staaten - zumeist aus Afrika und Lateinamerika - anerkannt ist. Der Polisario-Staat ist Gründungsmitglied der Afrikanischen Union. Zu Beginn der 1990er Jahre handelte die Frente Polisario mit der UNO und Marokko einen Waffenstillstand aus, der die Einrichtung der UNO-Mission für ein Referendum in der Westsahara (Minurso) möglich machte. Deren Mandat wurde in der Sicherheitsratsresolution 690 vom April 1991 detailliert beschrieben. Zentrales Element ist die Durchführung einer allgemeinen Volksbefragung darüber, ob die Bevölkerung in Zukunft in einem eigenen Staat leben will oder den Anschluss an das Königreich Marokko wünscht. Doch die Minurso wird in diesem Jahr zwanzig Jahre alt, ohne dass das zentrale Element, das Referendum, stattgefunden hätte.

Auch während dieses UN-Friedensprozesses konnte sich Marokko der uneingeschränkten Solidarität vor allem Frankreichs sicher sein. Von Anfang an verwässerte Frankreich alle Sicherheitsratsresolutionen im Minurso-Prozess und ließ Bestrebungen, Marokko wegen seiner ständigen Obstruktionen zur Verantwortung zu ziehen, erst gar nicht aufkommen. Längst ist die Minurso personell derartig ausgedünnt, dass sie selbst ihrem letzten verbliebenen Auftrag - den Waffenstillstand zu überwachen - nicht mehr nachkommen kann.

Die Lage der Menschenrechte in den besetzten Teilen der Westsahara zählte Freedom House 2006 zu den schlimmsten der Welt. 2006 führte das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte der UN eigene Recherchen zur Lage der Menschenrechte sowohl in den besetzten als auch den befreiten Teilen der Westsahara und den Flüchtlingslagern in Algerien durch. Sein nie veröffentlichter Bericht war Anlass für Forderungen an den Weltsicherheitsrat, die Beobachtung der Lage der Menschenrechte ins Minurso-Mandat aufzunehmen. Aber auch hier ist Frankreich wachsam und konsultiert seinen Verbündeten, so dass Marokko faktisch als Vetomacht mit im Sicherheitsrat sitzt.

Frankreich unterhält enge politische und wirtschaftliche Bindungen an sein ehemaliges Protektorat Marokko. Noch während der Kolonialzeit gründete Frankreich 1924 die Omnium Nord-Africaine (ONA) als Vermögensverwaltung, um die französischen Kolonialinteressen zu wahren, und stellte sie unter die Vormundschaft des Sultans. Mit der formalen Unabhängigkeit Marokkos 1956 ging die ONA in den Besitz der königlichen Familie über. Die ONA dominiert die gesamte Wirtschaft des Landes, etwa die lukrative Phosphatausbeute der Westsahara. Die Gewinne fließen vor allem direkt ins marokkanische Königshaus und indirekt ab nach Frankreich. Zwar hat bisher kein Land der Erde de jure die marokkanischen Ansprüche auf die Westsahara anerkannt - selbst Frankreich nicht. Aber faktisch gibt es diese Anerkennung: zum einen, indem keinerlei Druck auf Marokko ausgeübt wird, die saharauische Bevölkerung demokratisch über ihre Zukunft entscheiden zu lassen, zum anderen durch internationale Verträge, die stillschweigend die völkerrechtswidrige Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko akzeptieren. Solche Abkommen sind beispielsweise die Fischereipartnerschaftsabkommen zwischen der EU und Marokko, die allesamt die Gewässer der Westsahara mit einbezogen. »Diese Abkommen haben leider nur zur Verschärfung der Unterdrückung der saharauischen Bevölkerung durch Marokko geführt«, betont Aminatú Haidar, Trägerin verschiedener internationaler Menschenrechtspreise.


EU als Teil des Problems

Für die EU böte sich immer wieder die Möglichkeit, deeskalierend in den Westsahara-Konflikt einzugreifen. Damit würde sie nicht nur die von ihr gewünschte Integration des Maghreb voranbringen, sondern auch zur Stabilisierung Marokkos beitragen, das seine gewaltigen Kriegskosten besser für seine eigene nachhaltige Entwicklung nutzen könnte. Stattdessen folgt die EU blindlings den alten kolonial-imperialistischen Vorgaben Frankreichs und verbaut sich den Weg, in diesen Konflikt vermittelnd eingreifen zu können. Mit ihrer Parteinahme für Marokko ist die EU längst zum Teil des Problems geworden.

Während im Herbst 2010 in Brüssel die Verhandlungen über die Fortführung des Fischerei-Partnerschaftsabkommen zwischen der EU und Marokko begannen, verließen tausende Saharauis die großen Städte und errichteten in der Wüste »Lager der Würde«. Wie bei jedem friedlichen Protest der Saharauis bisher, reagierte die marokkanische Kolonialverwaltung darauf mit Härte. Ende Oktober erschossen marokkanische Truppen einen 14-jährigen Jugendlichen. Die Stadt El Aaiún stand teilweise in Flammen, es ist von elf Todesopfern, 723 Verletzten und 159 »Verschwundenen« die Rede. Der vorläufige Höhepunkt der jüngsten Repression gegen die saharauische Bevölkerung wurde mit der Räumung des »Lagers der Würde« von Gdeim Izik bei El Aaiún am 8. November und den anschließenden Gewalteskalationen erreicht. Aus dieser Hölle sind die jungen Menschen entflohen, die im Januar vor Fuerteventura aufgegriffen wurden.


Axel Goldau ist redaktioneller Herausgeber der Zeitschrift Kritische Ökologie und Deutschland-Koordinator von Western Sahara Resource Watch
(www.wsrw.org).

Weitere Informationen:
Initiative "Stärke des Rechts" (StdR)
http://www.ifak-goettingen.de/ifak/index.php?option=com_content&task=view&id=95&Itemid=120



Anmerkungen:

(1) Frente Popular para la Liberación de Saguía el Hamra y Río de Oro (Volksbefreiungsfront von Saguía el Hamra und Río de Oro)

(2) Hassan II ist 1999 verstorben, Thronfolger ist sein Sohn Mohamed IV. Die Westsahara ist vom Reformeifer des jungen Monarchen bisher ausgenommen geblieben.


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 323 - März/April 2011


Die Islamdebatte

Ganz unten angekommen

Spätestens seit 9/11 wird weltweit eine erbitterte 'Islamdebatte' geführt. In den Medien tobt seither ein in seiner Rigorosität oft unerträglicher Schlagabtausch zwischen "IslamkritikerInnen" und "IslamversteherInnen". Auf beiden Seiten wird munter essentialisiert: Den einen gilt der Islam als per se friedliche Religion; der Islamismus wird als mehr oder minder randständige Abweichung vom wahren Geist der islamischen Religionslehre verharmlost. Reflexhaft wehren sie jede Religionskritik am Islam ab und verfangen sich in den Angeln des Kulturrelativismus oder des Orientalismus. Die anderen geißeln den Islam und den Koran als durchweg gewaltorientiert; er habe keine Aufklärung nach westlichem Vorbild durchlaufen und sei daher rückständig.

Unser Themenschwerpunkt soll nicht eruieren, was "der Islam" wirklich ist oder welche Facetten er aufweist. Gegenstand ist vielmehr die Debatte über den Islam. Anders gesagt: Es geht um die kritische Analyse der Diskurse über den Islam - im Wissen, dass legitime Religions- und Ideologiekritik umschlagen kann in antimuslimisches Ressentiment.


INHALTSÜBERSICHT


Hefteditorial: Wir haben einen Traum


POLITIK UND ÖKONOMIE

Nordafrika: Die Angst wechselt das Lager
Im Nahen Osten und in Nordafrika beginnt eine neue Epoche
von Frederic Schmachtel

Sudan: Stabiler Frieden in weiter Ferne
Der Südsudan auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft
von Thomas Schmidinger

Westsahara: Eine endlose Geschichte
In Marokkos Kolonie eskaliert der Konflikt erneut
von Axel Goldau

Ägypten: Wenn Schlepperbanden zu Geiselnehmern werden
Skrupellose Geschäfte mit afrikanischen Flüchtlingen
von Philipp Eckstein

Somalia: Gar nicht romantisch
Die militärische Pirateriebekämpfung
von Miriam Edding

Cote d'Ivoire: Déjà Vu
Das Wahldesaster von 2000 droht sich zu wiederholen
von Bettina Engels

Entwicklungspolitik: Ohne Risikodeckung
Können Mikroversicherungen Gesundheit für alle gewährleisten
von Andreas Wulf


SCHWERPUNKT: ISLAMDEBATTE

Editorial zum Themenschwerpunkt

Die Regression der Islamdebatte
von Jörn Schulz

Kritik ja! Aber woran?
Eine Debatte über Rassismus, Ressentiment und Islamkritik
von Birgit Rommelspacher, Lothar Galow-Bergemann, Markus Mersault und Ismail Küpeli

Licht und Dunkel
Die Islamdebatte und der Rechtspopulismus
von Winfried Rust

Alles Machos?
Der Topos »islamische Jugendliche« wird niemandem gerecht
von Ahmet Toprak

Unter Kontrolle des Staates
In der Türkei wird eine ganz eigene Islamdebatte geführt
von Sabine Küper-Busch

Nachhaltig angekratzt
Die Islamdebatte wird in arabischen Medien als Kampf der Religionen empfunden
von Hannah Wettig

What's right with America
In den USA etabliert die Tea Party eine anti-islamische Stimmung
von Michael Hahn

Land der kurzen Lunten
Die niederländische Islamdebatte ist notorisch leicht entflammbar
von Tobias Müller

Grenzen der Nation Die Islamdebatte in Frankreich zwischen Universalismus und Rassismus.
Eine Diskussion zwischen Lotte Arndt, Kolja Lindner und Bernhard Schmid


KULTUR UND DEBATTE

Glosse: Ein Job für Lebensmüde
In der Zeitschrift welt-sichten sucht die Bundeswehr Kanonenfutter für Afghanistan
von Christian Neven-du Mont

Postkolonialismus: Ich helfe, du hilfst, ... ihnen wird geholfen
Der Freiwilligendienst weltwärts reproduziert altbekannte Strukturen
von Kristina Kontzi

Literatur: Trilogie des Terrors
Drei Romane von Yasmina Khadra zeigen die Gesichter hinter der islamistischen Gewalt
von Winfried Rust

Debatte: Lieberman in Freiburg?
Eine Replik zur Rezension von Moshe Zuckermanns Buch »Antisemit!«
von Gerhard Hanloser


Rezension, Tagungen & Kurz belichtet


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Quelle:
iz3w Nr. 323 - März/April 2011, S. 6-7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2011