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IZ3W/256: Rezension - "Lexikon der Vertreibung", herausgegeben von Brandes, Sundhaussen und Troebst


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 326 - September/Oktober 2011

Brandes: Deutsche Opfer

Rezension von Ismail Küpeli


Die Geschichte der Nationalstaaten ist untrennbar mit der Homogenisierung ihrer Bevölkerungen verbunden. Neben weniger gewaltsamen Methoden dienten auch Genozide, Massaker und Vertreibungen dazu, diese Homogenisierung zu erreichen. Diese Feststellung beschränkt sich keineswegs nur auf autoritäre Systeme oder gar nur auf »totalitäre« Regime. Auch demokratische Staaten waren und sind durchaus in der Lage, Teile der Bevölkerung als »anders« zu definieren und diese Gruppen dann mehr oder weniger gewalttätig zu dezimieren. Die Durchsetzung des Nationalstaates als dominante Form der politischen Ordnung führte so dazu, dass unzählige Gruppen Opfer staatlicher Gewalt wurden.

Einen Ausschnitt dieser Geschichte soll das Lexikon der Vertreibungen darstellen. Das 800-seitige Werk mit über 300 Einzelartikeln beschränkt sich auf Europa im 20. Jahrhundert. Das Schicksal vertriebener Deutscher erhält dabei überproportional viel Platz. Allein unter der Rubrik »Deutsche aus ...« lassen sich 22 Artikel finden, so etwa »Deutsche aus Dobruscha«. Problematisch ist aber nicht nur das quantitative Übergewicht: Wie im Dobruscha-Artikel dargestellt wird, handelt es sich hierbei um die freiwillige Übersiedelung von circa 14.000 Deutschen aus Rumänien in das Deutsche Reich, wobei das zurückgelassene Eigentum entschädigt wurde. Offen bleibt, ob es sich hier überhaupt um Vertreibung handelt. Diese Übersiedlung bekommt im Lexikon in etwa gleich viel Raum zugesprochen wie der Genozid an der ArmenierInnen (1915) im Osmanischen Reich, der über eine Million Todesopfer hervorbrachte.

Dieser Schwerpunkt auf die deutschen Vertriebenen wird weder thematisiert noch begründet. Eine wohlwollende Erklärung wäre, dass die Autoren das Buch ausschließlich für LeserInnen konzipiert haben, die bisher wenig über deutsche Vertriebene erfahren konnten. Dies ist aber angesichts der deutschen Debatten der letzten Jahrzehnte, einschließlich jener in den Massenmedien, absurd.

Eine weitere Merkwürdigkeit bezieht sich auf die Sowjetunion als Täterin von Vertreibungen und Massaker. So geht es bei dem einzigen Artikel über die KurdInnen um die etwa 10.000 KurdInnen, die innerhalb der Sowjetunion in den 1930er und 1940er Jahren nach Zentralasien deportiert wurden, und um die Benachteiligung der KurdInnen in den postsowjetischen Staaten Armenien und Aserbaidschan. Dass die KurdInnen in Iran, Irak und Syrien nicht erwähnt werden, lässt sich vielleicht noch mit der Begrenzung auf Europa erklären. Aber dass die KurdInnen in der Türkei völlig ausgeblendet werden, ist sehr merkwürdig. Weder die Vertreibungen und Massaker noch die kurdischen Aufstände gegen die staatliche Türkisierungspolitik werden dargestellt. Geht das lediglich auf einen Eurozentrismus zurück, der sich allen jahrzehntelangen Debatten zum Trotz immer noch aufrechterhalten kann? Oder geht es weniger um die KurdInnen als Opfergruppe, als vielmehr um die Betonung der sowjetischen Vertreibungen? Oder wusste der Autor einfach nichts über das Schicksal der kurdischen Bevölkerung in der Türkei?

Auf einer methodischen Ebene lassen sich zwei zentrale Schwachstellen des Lexikons der Vertreibungen ausmachen. Erstens handelt es sich hierbei nur bedingt um eine gesamteuropäische Geschichte der Vertreibungen - zumindest wenn man Europa nicht mit Mittel- und Osteuropa gleichsetzt. Zweitens führt der Fokus auf die deutsche und sowjetische Geschichte dazu, dass dieser Blickwinkel auch dort dominiert, wo andere Zusammenhänge relevanter wären. Das bewirkt wiederum, dass die Unterschiede zwischen Genozid, Massaker, Vertreibungen und »sanfteren« Formen der Bevölkerungspolitik verwischt werden. Es wird ein Geschichtsbild konstruiert, in dem viel von deutschen Opfern und sowjetischen Tätern die Rede ist. Das Lexikon befördert somit politisch höchst fragwürdige Tendenzen in den deutschen Geschichtsdebatten.


Detlef Brandes, Holm Sundhaussen, Stefan Troebst (Hrsg.):
Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und
ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts.

Böhlau Verlag, Wien 2010. 801 Seiten, 99.- Euro


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 326 - September/Oktober 2011


LGBTI gegen Homophobie

Schluss mit der Angst

Die Welt besteht nicht nur aus jenen zwei Sorten Mensch, die sich, als männlich und weiblich sauber klassifiziert wie Nord- und Südpol, vom diametral entgegen gesetzten Geschlecht angezogen fühlen.

Sexuelle Identitäten jenseits der heterosexuellen Norm sind weltweit mit gesellschaftlichem Ausschluss, rechtlicher Diskriminierung und der Gefahr gewalttätiger Übergriffe verbunden - mancherorts bis hin zur Todesstrafe.

Wie fungiert Homophobie als Strategie des Machterhaltes, zur Absicherung von Privilegien und Vorrechten, zum Erhalt patriarchaler und nationalistischer Strukturen? Im Themenschwerpunkt fragen wir, welche AkteurInnen, Diskurse und Ideologien hinter den homophoben Einstellungen stehen - und welche nord-südpolitischen Spannungen hier hervortreten.


INHALTSÜBERSICHT


Editorial: Das Böse externalisieren


POLITIK UND ÖKONOMIE

Mexiko: Vogelfrei per Gesetz
MigrantInnen zwischen der Süd- und Nordgrenze Mexikos
von Sebastian Muy

Freie Medien: »Wir müssen für jeden Schritt kämpfen«
Interview mit Karen Thorne über den Offenen Fernsehsender Cape Town TV

Namibia: Wie ein Land
Namibia ist von der ehemaligen Mandatsmacht Südafrika abhängig
von Sören Scholvin

Kambodscha: Sieg im Volkskrieg
Die mörderische Ideologie und Praxis der Roten Khmer
von Junge Linke gegen Kapital und Nation

Tadschikistan: No way
Nachbarn, Gebirge und Geldgier blockieren den Verkehr
von Wladimir Sgibnev


SCHWERPUNKT: HOMOPHOBIE


Editorial zum Themenschwerpunkt - Schluss mit der Angst

»Die wahre Revolution steht uns noch bevor«
O-Töne zum arabischen Frühling aus schwuler Sicht
von Klaus Jetz

Unsichtbar, belächelt, verleugnet
Lesbische Identitäten im arabischen Raum
von Mona Hanafi El Siofi

»Sie schämen sich für dich«
Ostafrika: Gesetze garantieren kein freies Leben
von Carla Schraml

Korrektive Vergewaltigung
Unsichtbares gewaltsam sichtbar machen
von Claudia Körner

Rechte statt Romantik
Indien und Pakistan erkennen ein Drittes Geschlecht an
von Madeleine Eisfeld

Entwicklungsziel Gleichstellung
Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität in der Menschenrechts- und Entwicklungszusammenarbeit (Langfassung)
von Arn Sauer

Mehr Rechte und mehr Gewalt
Homo-Les-Trans-Bi-phobie in Lateinamerika und der Karibik
von Ina Riaskov

»Für einen Feminismus ohne Frauen!«
Interview über den Genderterrorismus in Chile


KULTUR UND DEBATTE

Bedrohtes Radio Victoria
Kritischer Journalismus ist in El Salvador lebensgefährlich
von Knut Hildebrandt

Debatte: Rote Zahlen auf dem Karmakonto
Die Anthroprosophie ist von rassistischem Gedankengut durchdrungen von Peter Bierl

Film: Blinde Flecken auf der Leinwand
Die Ausgrenzung der Dritten Welt in Filmen über den Zweiten Weltkrieg
von Karl Rössel

Rezensionen

Szene/Tagungen

Impressum


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Quelle:
iz3w Nr. 326 - September/Oktober 2011, Rezensionen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. September 2011