Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

IZ3W/270: Ausgabe 330 - Editorial des Themenschwerpunktes - Arabischer Frühling 2.0


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 330 - Mai/Juni 2012

Editorial zum Themenschwerpunkt
Arabischer Frühling 2.0



»Die Revolution ist die erfolgreiche Anstrengung, eine schlechte Regierung loszuwerden und eine schlechtere zu errichten.« Trifft diese sarkastische Bemerkung von Oscar Wilde auch auf die Umbrüche zu, die unter der Bezeichnung »Arabischer Frühling« zusammengefasst werden? Diese Frage ist eine Art Leitmotiv dieses Themenschwerpunktes. Ihr Ausgangspunkt ist die ernüchternde Beobachtung, dass der Sturz der autoritären Herrscher in Tunesien, Ägypten und Libyen nicht jene Befreiung hervorgebracht hat, die sich viele demokratische AktvistInnen vor Ort und ihre SympathisantInnen hierzulande erhofft hatten.

Auf den Frühling folgte ein Herbst, der von erneuter Repression und von Wahlerfolgen islamistischer Parteien (also der politischen Rechten) geprägt war. In Syrien tobt gar ein blutiger Krieg des Assad-Regimes gegen große Teile der Bevölkerung. Dass manche Widersacher von Assad ebenfalls schwere Menschenrechtsverletzungen begehen und ihre politische Agenda alles andere als fortschrittlich ist, vervollständigt das traurige Bild.

Ein gutes Jahr nach dem ersten Arabischen Frühling lässt sich aber auch viel Positives festhalten und auf einen zweiten Frühling hoffen. Denn allen Rückschlägen und betonartigen Strukturen zum Trotz sind in fast allen arabischen Ländern Veränderungen eingetreten, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden kann. Die Bevölkerungen sehen sich heute mehrheitlich als politisches Subjekt, als aktive Akteure und nicht mehr als zu beherrschendes Objekt. Die tiefgreifenden Folgen dieser Entwicklung können vermutlich erst in einer Dekade resümiert werden.

Zweifelsohne sind die Demokratisierung, die Durchsetzung von Frauenrechten, die Pressefreiheit und vieles mehr noch prekär. Alle Fortschritte müssen wachsam verteidigt werden gegen alte Apparate und neue Tugendwächter. Aber im Vergleich zur Situation vor anderthalb Jahren hat sich unglaublich viel getan. Übereinstimmend wird aus fast allen Ländern berichtet, wie sehr sich die Bevölkerung politisiert hat und kritische Diskussionen alltäglich geworden sind. RevolutionärInnen brauchen aber auch in arabischen Ländern einen langen Atem, daran ändert das rasante Tempo der ersten Veränderungen nichts.

Wünschenswert wäre freilich eine entschiedene Unterstützung des demokratischen Aufbruchs aus dem Ausland. Doch nicht nur Russland und China verhalten sich schäbig gegenüber den RevolutionärInnen, auch westliche Regierungen haben kaum mehr als ein paar warme Worte für sie übrig. Die Sanktionen der EU gegen das Assad-Regime beispielsweise sind in ihrer Harmlosigkeit lächerlich - als ob es Assad beeindruckt, dass seine Frau derzeit nicht mehr in Paris shoppen gehen kann.

Nicht einmal die hiesige Linke kann sich in ihrer Mehrheit zu einer entschiedenen Unterstützung der Revolten entschließen, es dominieren Abwarten und Zuschauen. Gewiss, es gibt Initiativen wie »Adopt a Revolution«, die die demokratische syrische Opposition ideell und materiell stärken. Doch dem stehen bis in die Linkspartei reichende antiimperialistische Strömungen gegenüber, die jegliche Sanktionen gegen das Assad-Regime ablehnen. Sie wenden sich gegen die angeblich von Seiten des Westens drohende Kriegsgefahr und ignorieren, dass Assad schon seit fast einem Jahr einen realen Krieg gegen die Bevölkerung führen lässt.

Wenden wir uns Erfreulicherem zu, etwa den künstlerischen Aufbrüchen in arabischen Ländern, die dem dortigen Frühling eine eigene visuelle Prägung geben. Bebildert ist dieser Themenschwerpunkt mit Cartoons von Khalid Albaih, dem wir herzlich für die Erlaubnis danken. Albaih ist Sudanese, wuchs aber vor allem in Doha auf. Er gehört jener jungen, zornigen Generation in arabischen Ländern an, die sich von Autoritäten gleich welcher Art nichts mehr vorschreiben lassen. Seine Cartoons geißeln die Diktatoren, die Militärs und die Fundamentalisten ebenso wie die Manipulationsmacht der Medien. Er lässt sich vom Westen und dessen Versprechen nicht blenden, aber erst recht glaubt er den Assads der arabischen Welt und den Glaubenseiferern kein einziges Wort mehr.

Leute wie Albaih und ihre Etappenerfolge sind der Grund, warum wir dazu tendieren, Oscar Wildes Zitat zu korrigieren: »Die Revolution ist die erfolgreiche Anstrengung, eine schlechte Regierung loszuwerden und eine weniger schlechte zu errichten.«

die redaktion


P.S.

Ergänzend zu diesem Themenschwerpunkt veröffentlichen wir auf unserer Webseite www.iz3w.org weitere Beiträge zum Arabischen Frühling und seinen Auswirkungen für die gesamte Region. Bereits erschienen sind:

1)‍ ‍die umfangreiche Transkription der Podiumsdiskussion »Iran, Syrien, Hisbollah - Endspiel für die 'Achse des Widerstands'?« (siehe Auszüge auf S.37).

2)‍ ‍Ein Beitrag von Stefan Brocza über die Beziehungen zwischen dem neuen Tunesien und der EU.

3)‍ ‍Eine Reportage von Inken Bartels über Flüchtlinge im tunesischen Küstenort Hammam Lif.

Wir danken der Rosa Luxemburg Stiftung für die Förderung dieses Themenschwerpunktes

Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 330 - Mai/Juni 2012


Arabischer Frühling 2.0
Die Wut ist nicht verraucht

»Die Revolution ist die erfolgreiche Anstrengung, eine schlechte Regierung loszuwerden und eine schlechtere zu errichten.« Trifft diese sarkastische Bemerkung von Oscar Wilde auch auf die Umbrüche zu, die unter der Bezeichnung »Arabischer Frühling« zusammengefasst werden? Diese Frage ist eine Art Leitmotiv dieses Themenschwerpunktes.

Selten hat eine Bewegung von der viel zitierten "Straße" weltweit so viele Hoffnungen geweckt wie die Aufstandsbewegung in arabischen Ländern. Trotz aller Rückschläge und betonartiger Strukturen bleibt festzuhalten: Die Bevölkerung sieht sich zunehmend als aktive politische Akteurin und nicht mehr als zu beherrschendes Objekt.


INHALTSÜBERSICHT

Hefteditorial - Ernüchterte Ernüchterung

POLITIK UND ÖKONOMIE


Migration: Kein Frühling für Flüchtlinge
Ägyptische Behörden gehen gegen eritreische Opfer von Menschenhändlern vor
von Meena Federer

Welthandel: Kein Grund zur Freude
Die WTO steckt in der Sackgasse
von Angela Geck

Konzerne: Gefährliche Pestizide
Das Permanent Peoples' Tribunal klagt Agromultis an
von Philipp Mimkes

Zentralasien: Aufstieg der Marschrutkas
Öffentlicher Nahverkehr und Linientaxis
von Wladimir Sgibnev, Janny Schulz und Friederike Enssle

Gambia: Jammeh auf Lebenszeit
Ein wahrlich bizarrer Präsident
von Günter Spreitzhofer

Pakistan: Vom Terror erdrückt
Warum wird Pakistan von Oligarchen, Militärs und Taliban dominiert? (Teil II)
von Jakob Rösel

*

SCHWERPUNKT: Arabischer Frühling 2.0
Editorial zum Themenschwerpunkt

Vorwärts und nichts vergessen
Die Demokratisierung ist nicht mehr aufzuhalten
von Jörn Schulz

Den Reset-Knopf drücken
Blogger-Pioniere in arabischen Golfstaaten (Langfassung nur online)
von Sultan Al-Qassemi

Moschee statt Kaserne
Inwieweit ist die türkische AKP ein Modell für Nordafrika?
von Magnus Engenhorst

Lang ersehnte Freiheit
Aufbruchstimmung in Libyen nach der Revolution
von Jacqueline Passon und Klaus Braun

Alexandria in der Hand von Islamisten
Eine ägyptische Bloggerin erklärt, wie es dazu kam
von Shahinaz Abdel Salam

Das Gefühl, alles verändern zu können
Eine Deutsch-Ägypterin spürte den Geist der Revolution
von Jasmin Ateia

Die Lebenden und die Toten
Eine deutsche Journalistin würdigt die Opfer des Kampfes um Befreiung
von Juliane Schumacher

Die Revolution bleibt aus
In Algerien erkauft sich das Regime politische Ruhe
von Rachid Ouaissa

Marokkos moderner Monarch
Mohammed VI. begegnet Protesten mit Schein-Demokratisierung
von Janina Pohle

»Was hat sie getrieben?«
Die syrische Opposition droht zerrieben zu werden
von Markus Bickel

Neue Spielräume
Wie die KurdInnen in Syrien den Arabischen Frühling für sich nutzen (Langfassung nur online)
von Thomas Schmidinger

nur online: Die Tür steht nur zum Teil offen
Die EU bietet dem neuen Tunesien eine "privilegierte Partnerschaft" an
von Stefan Brocza

*

KULTUR UND DEBATTE

Film I: Revolten auf der Leinwand
Cineastische Reflexionen der Umwälzungen in Nordafrika
von Karl Rössel

Film II: »Wenn die Revolution scheitert...«
Interview mit der ägyptischen Journalistin Nora Younis

Film III: »Du kannst die Erinnerung nicht zerstören«
Interview mit dem kambodschanischen Dokumentarfilmer Davy Chou.
Mit einer Einführung von Isabel Rodde
Rezensionen
Szene/Tagungen
Impressum

*

Quelle:
iz3w Nr. 330 - Mai/Juni 2012, S. 18
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
Herausgeberin: Aktion Dritte Welt e.V. - informationszentrum 3. welt
Postfach 5328, Kronenstr. 16a (Hinterhaus)
79020‍ ‍Freiburg i. Br.
Tel. 0761/740 03, Fax 0761/70 98 66
E-Mail: info@iz3w.org
Internet: www.iz3w.org
 
iz3w erscheint sechs Mal im Jahr.
Das Einzelheft kostet 5,30 Euro plus Porto.
Das Jahresabonnement kostet im Inland 31,80 Euro,
für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und
Zivildienstleistende 25,80 Euro,
Förderabonnement ab 52,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2012