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IZ3W/297: Rezension zu dem Buch "Krisen Proteste" von Peter Birke und Max Henninger


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 335 - März/April 2013

Krisen, Proteste, Flächenbrand?

von Winfried Rust



Seit 2007 kriselt die Finanz- und Weltwirtschaft gewaltig. Und jetzt? Krise & Depression oder Krise & Revolte? Der Sammelband Krisen Proteste titelt dazu programmatisch. Die Herausgeber haben dafür aus der Netzzeitschrift Sozial.Geschichte Online Beiträge über Krisenproteste zusammengestellt. Dieses Internetprojekt begleitet Auseinandersetzungen der internationalen Arbeitsgeschichte aus einer historischen Perspektive, weil dies »eine elementare Voraussetzung für emanzipatorisches Handeln« sei. Das Webprojekt verfolgt die Finanz- und Wirtschaftskrisen seit 2006/2007 von Anfang an mit Blick auf ihre sozialen Begleiterscheinungen.

Das Buch versammelt unterschiedliche Krisenproteste: Unmut gegen hohe Lebensmittelpreise im Mittleren Afrika, Massendemonstrationen in Griechenland, die Bewegung 15. Mai in Spanien, die Occupy-Bewegung in den USA, Arbeitskämpfe in Deutschland (und das Ausbleiben aufgrund von »Ohnmacht und Korporatismus«), Auseinandersetzungen um das »Recht auf Stadt« in Hamburg, »Zerbrechendes Glas« in England, Initiativen Prekarisierter in Italien, Kämpfe von BauernarbeiterInnen in China. Und seit Ende 2010 fegt von der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid aus eine Massenrevolte durch Nordafrika und den arabischen Raum.

Eine Zusammenschau von Klassenkampfaktionen in China und etwa dem »Recht auf Stadt«-Netzwerk in Hamburg ist natürlich gewagt. Dem begegnen die Herausgeber erstens mit einer historischen Parallelisierung. Die derzeitige »große Krise« der Weltwirtschaft wird im Einleitungsartikel einer »großen Verweigerung« gegenübergestellt. Mit diesem Begriff hatte Immanuel Wallerstein schon die »buntscheckigen« Revolten der 1960er Jahre zusammengebunden. So verschieden die heutigen Proteste auch sind: Sie seien zweitens verbunden durch einen »Anspruch auf eine gesicherte Reproduktion«. Damit wird eine aktuelle, vergleichende Bewegungsforschung begonnen - mit guten Anregungen für die bundesdeutsche Debatte, in der »eine Mischung aus distanzierter Ohnmacht und empathischen Weltverbesserungsvorschlägen« vorherrsche.

Karl Heinz Roths Krisenanalyse befasst sich mit Griechenland. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise verschränkten sich dort verheerend mit dem Beutezug inländischer Wirtschaftseliten, die die EU-Integrationsphase für ein »ausuferndes Enrichez-Vous« nutzten. Hinzu kommt die EU-Politik. Sie verpasst dem Land eine unzureichende Umschuldung auf Kosten einer zerschlagenen Binnenwirtschaft: Senkung der Mindestlöhne, Renten und Sozialleistungen, Lohnkürzungen im Privatsektor, Erlahmung der Binnenkonjunktur - der Verarmungsprozess der Unter- und Mittelklassen verstärkt sich ständig neu. So spitzt sich nun die Lage auf eine »soziale Katastrophe« zu - oder auf eine »soziale Revolution«.

Zwei Leerstellen sind allen Artikeln gemein: Die verkürzte Kapitalismuskritik in vielen Bewegungen und die in Krisenfolge steigende Fremdenfeindlichkeit sind kaum ein Thema. Nicht einmal in den beiden Artikeln über Griechenland, wo die Faschisten der Chrysi Avgi auf der Straße MigrantInnen terrorisieren und in das Parlament eingezogen sind. Dafür zeigt das Buch einige überzeugende Zusammenhänge zwischen den aktuellen Krisen und Revolten.


Peter Birke / Max Henninger (Hg.):
Krisen Proteste
Assoziation A, Berlin, 2012. 312 Seiten, 18 Euro

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 335 - März/April 2013


Wissenschaft global
Das Rektorat bleibt im Norden

Dem Anspruch der Wissenschaften auf Universalität zum Trotz: Die Wissensproduktion zwischen Süd und Nord findet nicht egalitär statt. Sie ist von postkolonialen Machtverhältnissen, Ungleichheiten und Dominanzstrukturen durchzogen. Gerade die Geisteswissenschaften sind bis heute eurozentrisch geprägt. Die wissenschaftliche Produktion aus dem Norden wird als »Theorie«, diejenige aus dem Süden als »Praxis« wahrgenommen. WissenschaftlerInnen aus dem Globalen Süden werden an hiesigen Universitäten kaum zur Kenntnis genommen.

Auch rein quantitativ dominiert die Triade EU, USA und Japan bei der Wissensproduktion. Das lässt sich schon anhand der ungleichen Zahl der Fachpublikationen oder der unterschiedlichen Verteilung von Ressourcen für die Forschung belegen. Der Themenschwerpunkt befasst sich mit dieser Asymmetrie und versucht, die Perspektive zugunsten globalen Wissens zu erweitern.


Hefteditorial
Auf der Tiefe der ZEIT

POLITIK UND ÖKONOMIE:

Mexiko: Kämpfend schreiten sie voran
Die Zapatistas melden sich zurück
von Rosa Lehmann

Philippinen: Von Rechts wegen
Mittels illegaler Verhaftungen geht der Staat gegen AktivistInnen vor
von Hannah Wolf

Mali: Wiederherstellung eines Staates
Die Intervention ist Teil einer regionalen Kapitalstrategie
von Olaf Dehler

Ägypten: Die lange Geschichte des Islamismus
Die Konfliktlinien im neuen Ägypten kommen nicht überraschend
von Lutz Boßhammer

Senegal: Y'en a marre
Eine erfolgreiche Jugendrevolte
von Louisa Prause

Klimaanpassung: Agents of Change im Einsatz
Frauen und Klimaanpassung im ländlichen Tansania
von Katja Flockau

Australien: Ab auf die Inseln
Australien setzt gegenüber Bootsflüchtlingen auf Abschreckung
von Till Schmidt


BEITRÄGE ZUM THEMENSCHWERPUNKT:

Editorial zum Themenschwerpunkt

Zentrum versus Peripherie
Hierarchien der Wissenschaft im Weltmaßstab
von Wiebke Keim

Unheilige Allianz
Die westliche Wissensgesellschaft als Entwicklungsparadigma
von Maren Borkert und Nina Witjes

Den Ton angeben oder das Wort abtreten
Asymmetrien in der Genderforschung
von Veronika Wöhrer

Kämpferisch gegen Hegemonie
Gewerkschaftswissen zwischen Nord und Süd
von Ercüment Çelik

Lokalisieren, nicht kopieren
Internationale Beziehungen aus Perspektive der chinesischen Politikwissenschaft
von Christian Ersche


KULTUR UND DEBATTE

Debatte: Falschmünzerei statt Wertkritik
David Graebers Buch »Schulden« ist das Geld dafür kaum wert
von Peter Bierl

Film I: »Den eigenen Ideen treu bleiben«
Interview mit June Giovanni über Süd-Süd-Kooperationen im afrikanischen Film

Film II: Für die Würde
Das Filmfest FrauenWelten präsentierte Filme zum Opfer-Täter-Ausgleich
von Martina Backes

Film III: Märchenhafte Selbstermächtigung
Tarantinos »Django Unchained« ist ein filmischer Rachefeldzug gegen die Sklaverei
von Winfried Rust

Rezensionen

Szene/Tagungen

Impressum

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Quelle:
iz3w Nr. 335 - März/April 2013, Rezensionen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. März 2013