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IZ3W/325: Frauenproteste in Indien - Nicht still halten, nicht schweigen


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 340 - Januar/Februar 2014

Nicht still halten, nicht schweigen

von Maya Subrahmanian



Frauenproteste in Indien

Die indische Frauenrechtsbewegung ruft dieses Jahr am internationalen Tag zur Beseitigung jeglicher Gewalt gegen Frauen zu einem Nachtmarsch auf. Es geht um das Recht auf Bewegungsfreiheit und Sicherheit für Frauen im öffentlichen Raum. Die diesjährige Kampagne gegen Gewalt gegen Frauen steht insbesondere im Zeichen der landesweiten Proteste des letzten Jahres nach einer tödlich endenden Vergewaltigung in einem Bus in Delhi.

Maya Subrahmanian, Soziologin aus Kerala, hebt die Rolle der Religion für das kulturelle Verständnis des indischen Frauenbildes als Grund für die Gewalt hervor. Vibhurti Patel, Präsidentin der Organisation Women Power Connect, beurteilt in einem Interview die steigenden Gewaltraten in Indien auch als Folge ökonomischer und politischer Rahmenbedingungen.

Die indische Kultur, so das dominante Verständnis der indischen Gesellschaft, respektiert die Frau als Mutter, Ehefrau, Tochter oder Schwester. Dieses Frauenbild wird regelmäßig mit Zitaten aus heiligen Schriften belegt. Um zu untermauern, dass Frauen von ihren Männern Schutz erhalten, zitieren indische Kulturvertreter gerne die berühmte Maxime na stree swatantryamarhati (Frauen bedürfen keiner Freiheit) aus dem Sanskrit. Sie führen entsprechende Passagen aus den hinduistischen Textlehren Manusmrti an, dem »Gesetzesbuch des Manu«, das 'angemessenes Verhalten' regelt und rechtfertigende Texte zu dem inzwischen gesetzlich verbotenen Kastenwesen beinhaltet. Die Verse erklären, dass die Frau in ihrer Kindheit Schutz vom Vater genießt, in der Jugendzeit vom Ehemann und in den reifen Jahren vom Sohn. Daraus wird geschlussfolgert, dass eine Frau keinerlei Freiheit benötige und nicht eigenständig handeln oder entscheiden muss.

Diese entwürdigende frauenfeindliche Haltung wird in Indien im Kontext von Religion, individuellen Freiheitsrechten und Kultur kontrovers diskutiert. Ähnlich kontrovers waren dann auch die Debatten über das Recht der Frau auf Bewegungsfreiheit nach dem tödlich endenden Vergewaltigungsfall im Dezember letzten Jahres in Delhi. Denn schließlich belegen jährlich über 24.000 offiziell angezeigte Fälle von Vergewaltigungen, dass die Realität der Frauen eine andere ist, als der Glaube es nahelegt. Laut UNFPRA haben zwei Drittel aller Männer im Alter zwischen 15 und 49 Jahren der Partnerin oder Ehefrau mindestens einmal Gewalt angetan. Nach der Internationalen Kommission für Genderfragen und Gleichberechtigung hat einer von fünf Männern eine Frau zu sexuellen Handlungen gezwungen.

Nachdem am späten Abend des 16. Dezember 2012 in Delhi eine 23-jährige Studentin im Beisein ihres Partners in einem Bus von einer sechsköpfigen Gang mehrfach vergewaltigt wurde und an den Folgen starb, folgten landesweite Proteste. Auch religiöse Überzeugungen konnten den Protest dieses Mal nicht unter dem Teppich halten. Noch 2009 waren Studentinnen von bewaffneten Hindufundamentalisten in Mangalore in einer Kneipe attackiert worden, mit der Begründung, Frauen, die sich mit Freunden öffentlich zeigten und trinken, würden die Kultur verderben. Trotz kritischer TV-Berichterstattung gab es kaum öffentliche Proteste, von wenigen Frauenrechtlerinnen in Mangalore abgesehen. Damit war erneut klar: Die Religion sieht keine individuellen Freiheitsrechte für die Frau vor, und daran hält sich die Mehrheit.

Frauen antworteten mit der Pink Chaddi Campaign, einer Briefaktion gegen diese frauenfeindlichen Statements: Am Valentinstag schickten über 500 Inderinnen pinkfarbene gebrauchte Slips in das Büro von Muthalik, dem Chef der hinduistischen Rashtriya Hindu Sena. Auch dem Fall in Delhi folgten gehässige fundamentalistische Kommentare, die ermordete Studentin selbst wurde aufgrund nichtkonformen Verhaltens und Kleidens für schuldig erklärt. Dennoch kam es zu den wohl größten landesweiten Protesten von Frauen und Männern aller sozialen Schichten.

Es gibt jedoch unzählige vergleichbar brutale Fälle in der Vergangenheit, ohne dass ein öffentlicher Aufschrei folgte, weil die Gewalttaten nicht im modernen Delhi in einem Zusammenhang verbrochen wurden, mit dem sich viele StädterInnen identifizieren können, sondern im ländlichen Milieu der Armen. Außerhalb der Städte gab es bisher kaum Proteste in Form einer breiten Bewegung - von einigen Aktionen progressiver und feministischer Gruppen einmal abgesehen.

Dabei findet Gewalt gegen Frauen überall statt: innerhalb wie außerhalb der Familien und in allen sozialen Schichten. Bis vor einem Jahrzehnt wurde häusliche Gewalt noch nicht einmal als solche anerkannt. Inzwischen werden stapelweise Anzeigen erstattet. Dennoch sind Schuldsprüche selten und das Strafmaß meist gering, nicht zuletzt, weil einflussreiche Akteure das Rechtssystem untergraben. Oft werden die Fälle über Jahre hingezogen und den Opfern keinerlei Entschädigung gewährt.

Feministische Kreise dekonstruieren seit rund drei Jahrzehnten das homogene Konzept der 'indischen Frau', indem soziale und ethnische Kategorien mit bedacht, Geschlechterrollen kritisiert sowie sexuelle Identitätskonzepte debattiert werden. Doch das traditionelle religiöse und kulturelle Verständnis der Frauenrolle ist in der indischen Gesellschaft sehr wirkungsmächtig, verankert mit nachhaltigen patriarchalen Strukturen und starken religiösen Leitfiguren. Auch reagieren die politischen Parteien auf frauenpolitische Belange extrem patriarchal. Die eigene Agenda wird gewahrt und die 'maskuline Würde' bewahrt. Zwar garantiert die moderne Verfassung gleiche Rechte für Frauen und Männer, dennoch steigt die Gewalt gegen Frauen.

Die heftige Reaktion der Öffentlichkeit letztes Jahr wäre sicher anders ausgefallen, hätte sich die Vergewaltigung nicht in der Großstadt Delhi ereignet. Die schnelle Verurteilung sowie das Todesurteil gegen einen Täter ist eine Folge der Proteste. Dem schnell gefällten Urteil stehen jedoch tausende anhängige Prozesse gegenüber und abertausende von Fällen, in denen es nie zu einer Verurteilung kam.

Historisch gesehen ist die kulturelle Prägung von Frauen, still zu halten und zu schweigen. Ihre Bitterkeit laut aussprechen, ist für sie nach wie vor eine riskante Angelegenheit. Die Einforderung einer umgehenden und konsequenten Rechtsprechung bei den angeklagten Fällen im institutionellen Rahmen ist somit die derzeit einzige Möglichkeit, gegen die in Indien starken patriarchalen und religiösen Systeme anzukommen.


Maya Subrahmanian veröffentlichte in Kerala drei Bücher mit Gedichten und Artikeln zu feministischen Konzepten und Frauenrechtsfragen. Sie forschte zuletzt mit dem Stipendiat Erasmus Mundus an der Universität Freiburg.

Übersetzung: Martina Backes

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 340 - Januar/Februar 2014

Eigentor Brasilien
vom Elend eines Global Players

Mit der Ausrichtung der Männer-Fußball-WM im Juni 2014 und der Olympischen Sommerspiele 2016 unterstreicht Brasilien seinen Anspruch, künftig ein Global Player zu sein. Doch hinter den Erfolgsmeldungen vom Aufstieg Brasiliens zur sechstgrößten Wirtschaftsnation der Welt geraten die sozialen Kosten aus dem Blick. Die Spaltung zwischen Arm und Reich wächst, Umweltprobleme verschärfen sich, und Minderheiten bekommen nicht die Rechte, die ihnen zustehen.

Von den gewaltigen Problemen wollte bis vor kurzem weder die fußballbesoffene Weltöffentlichkeit noch der politische Mainstream Brasiliens etwas wissen. Das änderte sich erst, als im Juni 2013 lang angestauter Unmut aufbrach und bei Massenprotesten kritische Stimmen laut wurden. Hunderttausende gingen auf die Straßen, sie forderten mehr Ausgaben für Bildung und Gesundheit, bezahlbaren öffentlichen Nahverkehr und die Bekämpfung der Korruption. Das gemeinsam mit KoBra (Kooperation Brasilien e.V.) herausgegebene Dossier will dazu motivieren, einen Blick hinter die Kulissen der glamourösen Großevents zu werfen.

BEITRÄGE IM DOSSIER:

Editorial zum Dossier

Traum oder Alptraum?
Brasiliens Metamorphose vom sozialen Vorzeigeland zum Polizeistaat
von Verena Glass

»Das Neue ist immer schwierig«
Interview mit Eduardo Pereira über die Proteste in Brasilien

Alles Ninja, oder was?
Brasiliens alternative Medienlandschaft im Umbruch
von Nils Brock

Grobes Foulspiel
Die WM unterhöhlt die Rechte der Stadtbevölkerung
von Adrian Mengay und Maike Pricelius

»40 Jahre sind genug!«
Deutsch-brasilianische Kooperation zwischen Solidarität und Atomgeschäften
von Christian Russau

Schönfärbendes Weißwaschen.
Das postkoloniale Brasilien ist keineswegs eine egalitäre Regenbogennation
von Sarah Lempp

Latinos, das sind die anderen
Brasilien hat ein kompliziertes Verhältnis zu Lateinamerika
von Dawid Danilo Bartelt

Konflikte exportieren
Das Agrarprojekt ProSavana in Mosambik wiederholt brasilianische Fehlentwicklungen
von Fátima Melio

Dumping mit Hühnerfleisch
Brasilien bedrängt Agrarmärkte im südlichen Afrika
von Stefan und Andreas Brocza

Brasilien, Land des Fußballs
Debatten über einen identitätsstiftenden Mythos
von Thomas Fatheuer

Einfach Spitze!
Eine kleine Polemik über das Bedürfnis nach Brasilienbildern
von Simon Brüggemann

Luiz Ruffatos Romane über die Marginalisierten

Rezensionen
von Anne Reyers und Judith Felizita Säger

Zeitschriften - Bücher - Multimedia


WEITERE THEMEN IM HEFT:

Hefteditorial


Politik und Ökonomie:

Südsudan: Rückkehr oder Vertreibung?
Die "Returnees" in Juba
von Ulrike Schutz

Mexiko: »Sie schenkten uns dieses Haus«
Modelldörfer in Chiapas stoßen auf Kritik
von Anne Haas

Erster Weltkrieg: »Die Front ist die Hölle«
Im Ersten Weltkrieg wurden Millionen Kolonialsoldaten eingesetzt (Teil 1) 
von Karl Rössel

Umfangreiche Literaturliste zum Thema Afrika im Ersten Weltkrieg
von Oliver Schulten

Indien: Nicht still halten, nicht schweigen
Frauenproteste in Indien
von Maya Subrahmanian

»Das dominante Konzept von Sexualität in Frage stellen«
Interview mit Vibhurti Patel

Gesundheit: Weibliche Genitalverstümmelung...
ist kein "afrikanisches" Problem
von Oliver M. Piecha

Antiziganismus: Zum Davonlaufen
Roma in Serbien und im Kosovo
Langfassung mit Bilderstrecke
von Albert Scherr und Elke Scherr


KULTUR UND DEBATTE:

Musik: Fuerte, rapido, duro
Wie Punk zu einer globalen Jugend- und Protestkultur wurde
von Ingo Rohrer

Buch & Film: Von Freunden und Feinden
Schlaglichter auf Israel
von Gaston Kirsche

Literatur: Klagelied für Teheran
Amir Hassan Cheheltans Roman über die "Stadt ohne Himmel"
von Azadeh Hatami

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Quelle:
iz3w Nr. 340 - Januar/Februar 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Januar 2014