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IZ3W/363: Hefteditorial von Ausgabe 351 - Bitterer Beigeschmack


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 351 - November/Dezember 2015

Bitterer Beigeschmack
Editorial der iz3w 351


Sorgen, Sorgen, Sorgen. In diesen Tagen machen sich so viele Menschen Sorgen. Wie beispielsweise Winfried Ex aus dem beschaulichen Kurort Badenweiler. Er schreibt in einem Leserbrief an die Badische Zeitung: »So genannte Wirtschaftsflüchtlinge haben keinen Platz hier, rauben den wirklich Bedürftigen den Raum und sollten unverzüglich 'rückgeführt' werden. Die uns Regierenden haben geschworen, 'Schaden vom deutschen Volk abzuwenden'. Die derzeitig geübte Lock-/Willkommenskultur bewirkt genau das Gegenteil.«

Wir kennen Herrn Ex nicht. Gut möglich, dass er ein unsympathischer Fiesling ist, dem wir aus dem Weg gingen, wenn wir ihn träfen. Ebenso gut möglich ist, dass er ein freundlicher Mensch mit guten Manieren und liebenswerten Eigenschaften ist. Einer, wie wir ihn alle im Verwandten- und Bekanntenkreis haben. Ein Mensch, den wir persönlich schätzen, weshalb wir uns auf engagierte Diskussionen mit ihm über Äußerungen wie die obige einlassen. Auch und gerade dann, wenn uns seine Wortwahl irritiert. Wir mögen ihn zu sehr, um seine Ansichten unwidersprochen hinzunehmen oder ihn als Nazi zu beschimpfen.

Wir halten also mit Argumenten gegen Herrn Ex: »Es stimmt nicht, dass Flüchtlinge Schaden anrichten. Sie sichern unsere Rente in Zeiten, in denen die deutsche Bevölkerung schrumpft.« Wir verweisen auf eine Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, laut der die 6,6 Millionen Menschen ohne deutschen Pass den hiesigen Sozialkassen im Jahr 2012 einen Überschuss von 22 Milliarden Euro beschert haben. Wir ergänzen, dass laut Studie jeder ausländische Mensch pro Jahr durchschnittlich 3.300 Euro mehr Steuern und Sozialabgaben zahlt, als er oder sie an staatlichen Leistungen erhält, und dass das Plus pro Kopf in den letzten zehn Jahren um mehr als die Hälfte gestiegen ist.

Wenn Herr Ex weiter zweifelt, holen wir aus. Wir bemühen Herbert Brücker, einen Professor für Volkswirtschaftslehre, der die Exes der Republik in einem Interview regelrecht beschwört: »Jetzt in Bildung und Ausbildung der Flüchtlinge zu investieren, ist sehr gut angelegtes Geld. Wir wissen aus früheren Migrationsbewegungen, dass das einer Volkswirtschaft hohe Renditen bringt. Jeden Euro, den wir dafür ausgeben, werden wir mit Zins und Zinseszins in den Sozialkassen zurückbekommen. Am Anfang kostet das wie jede Investition Geld, aber später zahlen die Menschen Steuern und Abgaben, und sie brauchen gleichzeitig keine oder wenige Sozialleistungen.«

Falls Herr Ex in unserem Streitgespräch hartnäckig bleibt, bemühen wir Gewährsleute, die bei Konservativen hohes Ansehen genießen. Etwa den Generalsekretär des Deutschen Bauernverbandes, Bernhard Krüsken, der die deutsche Scholle künftig gerne von Nichtdeutschen beackern lassen will: »Die Beschäftigung von Flüchtlingen in der Landwirtschaft ist absolut sinnvoll. Wenn wir mehr Möglichkeit hätten, werden wir das auch begrüßen.«

Und einem weiteren Argument kann sich Herr Ex doch nicht verschließen, vor allem, wenn es von einem Wirtschaftsmann wie Christoph Minhoff vom Spitzenverband der deutschen Lebensmittelwirtschaft vorgebracht wird: »Wenn mehr Menschen in Deutschland leben, gibt es auch mehr Kunden und damit mehr Umsatz für die Lebensmittelbranche.« Wir bemühen die taz, die Leuten wie Herrn Ex ebenfalls wuchtige Argumente entgegenschleudern will, und die deshalb Minhoff mit einer Modellrechnung assistiert: 1,36 Milliarden Euro Umsatzplus gäbe es durch die 800.000 Geflüchteten bei Lebensmitteln, selbst wenn nur der Mindestsatz von 144,66 Euro nach Hartz IV zugrunde gelegt sei!

Selbst wenn Herr Ex nun doch beeindruckt ist und wir das Rededuell gewinnen - wir fühlen uns hinterher gar nicht gut. Wir wissen, welch bitteren Beigeschmack es hat, den ökonomischen Nutzen von Geflüchteten zu bemühen, um Rassismus zu begegnen. Wider besseren Wissens hintertreiben wir die Universalität der Menschenrechte. Wir ärgern uns, zu wenig über Fluchtursachen und die Schuld Europas an der Misere gesprochen zu haben. Wir gingen davon aus, dass Herr Ex nur mit wirtschaftlichen Argumenten zu beeindrucken ist, und erlegten uns diskursive Selbstbeschränkung auf. So gesehen hat eigentlich Herr Ex gewonnen.

Wir fassen daher einen guten Vorsatz: Gerade in Zeiten, in denen das »Sommermärchen« zum »Winteralptraum« für Geflüchtete zu werden droht (so konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza), biedern wir uns bei Herrn Ex nicht mehr an. Gerade wenn wir ihn eigentlich mögen, sagen wir ihm, dass er wie ein Rassist spricht und wir ihm die Freundschaft aufkündigen, wenn das so bleibt. Wir lassen uns von Leuten wie ihm nicht mehr dazu zwingen, dem Wort »schädlich« das Wort »nützlich« entgegen zu halten. Das sind wir uns, aber mehr noch den Geflüchteten und ihrer Würde schuldig, findet


die redaktion

P.S.: Im nächsten Heft bringen wir abweichend von der bisherigen Planung einen Themenschwerpunkt zu Refugees (siehe Vorschau auf Seite 50). Herr Ex wird darin keine Rolle spielen, die Vorstellungen von Geflüchteten umso mehr.

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 351 - November/Dezember 2015

Sex sells
Zwischen Akzeptanz und Stigma

Seit einigen Jahren tobt international eine heftige Debatte um Sexarbeit, die sich zwischen den Polen von Verbot und Ächtung versus Entkriminalisierung und Entstigmatisierung bewegt. In unserem Themenschwerpunkt werfen wir einen Blick nicht nur auf die Situation von SexarbeiterInnen in Ländern des Südens, sondern auch von MigrantInnen in Europa. Welche Auswirkungen haben restriktive Gesetze auf deren Lebensumstände? Welche Forderungen erheben SexarbeiterInnen und ihre Selbstorganisationen an Politik und Gesellschaft?

Es geht uns weder um die Idealisierung von Sexarbeit noch um ihre Dämonisierung, sondern um einen möglichst unvoreingenommenen Blick auf die Lage von SexworkerInnen und deren eigene Vorstellungen, wie sie sich verbessern ließe. Denn eines der Grundprobleme der extrem polarisierten Debatte ist, dass allzu oft viktimisierend über SexarbeiterInnen gesprochen wird statt auf Augenhöhe mit ihnen.


Inhaltsübersicht

Hefteditorial
Bitterer Beigeschmack


Themenschwerpunkt: Sexarbeit

Sexarbeit: Eine globale Debatte
Editorial zum Schwerpunkt

Prostitution versus Sexarbeit
Worum geht es in den kontroversen feministischen Debatten?
von Carolin Küppers

Vom »Dirnenberuf« zur »Sexarbeit«
Die zwiespältige Geschichte des staatlichen Umgangs mit der sexuellen Arbeit
von Sonja Dolinsek

Das Unbehagen an der Prostitution
Sexpositiv? Ja, gerne. Frauen als Konsumprodukte? Nein, danke.
von Eva Gutensohn und Katrin Dietrich

»Sexarbeit ist eine feministische Handlung«
Interview mit der queeren Sexarbeiterin Emy Fem über den Kampf gegen Stigmatisierung

Der Zwang der Verhältnisse
Der europäische Kampf gegen Frauenhandel ist ein Krieg gegen MigrantInnen
von Mary Kreutzer

»Unglückliche Gewinnerinnen der Globalisierung«
Einblicke in die Lebens- und Arbeitsverhältnisse migrantischer Sexarbeiterinnen
von Maritza Le Breton

»Prostitution ist mit Gewalt verbunden«
Die Situation von Sexarbeiterinnen im Libanon
von Anna-Theresa Bachmann

Aufmerksamkeiten für schöne Männer
Ethnosexuelle Beziehungen in Ägypten unterlaufen die Geschlechterverhältnisse
von Anna-Theresa Bachmann


POLITIK UND ÖKONOMIE

Flucht I: »Losziehen kann auch sterben heißen«
In Mali organisieren sich Opfer der europäischen Abschottungspolitik
von Susanne U. Schultz

Flucht II: »Das soll Demokratie sein?«
Interview mit Alassane Dicko von der Association Malienne des Expulsés

Frauenrechte: »Es bleibt noch viel zu tun«
Gegen Gewalt gegen Frauen in Burkina Faso
von Renate Staudenmeyer und Irma Bergknecht

Myanmar: Happy Season für Mönche
In Myanmar werden muslimische Rohingya durch Buddhisten bedroht
von Dominik Müller

Kanada: Gewalt im Internat
Verbrechen an Kindern der First Nations
von Doro Wiese

Iran: »Sie trauen sich wieder«
Interview mit Ali Schirasi über die heutige iranische Studentenbewegung

Türkei: »Die unser Blut saugen«
Antisemitismus ist in der Türkei tief verankert
von Jan Keetman

Entwicklungspolitik: Das Paradox der Resilienz
Ein neues entwicklungspolitisches Modewort verhindert Ursachenbekämpfung
von Thomas Gebauer


KULTUR UND DEBATTE

Musik: Antisemitismus im »Zion Train«
Die internationale Reggae-Szene neigt zu seltsamen Ansichten
von Patrick Helber

Nachruf: Ohne Rückfahrkarte nach Venezuela
Mit Heinz R. Sonntag starb ein 68er, der zum Chávez-Kritiker wurde
von Nikolaus Werz

Comic: Kopfjäger mit Maschinengewehr
Die »Deutsche Südsee« im Comic
von Stefan Brocza und Andreas Brocza

Rezensionen

Mona Eltahawy:
Warum hasst ihr uns so? Für die sexuelle Revolution der Frauen in der islamischen Welt

James Ferguson:
Give a Man a Fish. Reflections on the New Politics of Distribution

Bernhard Jaumann:
Der lange Schatten

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Quelle:
iz3w Nr. 351 - November/Dezember 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2015

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