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LICHTBLICK/149: Entlassung ins Nichts


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 337 - 5/2008

Entlassung ins Nichts

Tegeler Gefangene in die Obdachlosigkeit entlassen


Der Gefangene wurde im Juni 2005 in der Untersuchungshaftanstalt Moabit inhaftiert und zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zwei Monaten verurteilt. Im Mai 2007 wurde er in die Justizvollzugsanstalt Tegel verlegt.

Seit seiner Inhaftierung verhielt sich der Gefangene stets beanstandungsfrei und ging fortwährend einer anstaltsinternen Arbeit nach. Die Einweisungsabteilung (EWA) befand den Inhaftierten für wohngruppentauglich und wies ihn in den behandlungsorientierten Wohngruppenbereich der TA 6 ein. Obwohl der Gefangene sich nicht mit der Mehrfachbelegung einverstanden zeigte, durfte er zwei Wochen später mit der Doppelbelegung vorlieb nehmen. Seiner Bitte auf Einzelunterbringung entsprach die Justizvollzugsanstalt mit einer Verlegung in den Verwahrvollzugsbereich der TA 2 (vgl. KG Berlin in: NStZ 2005, 51 zum vollzuglichen Qualitätsgefälle/Tegel TA 2...)

Schon seitdem sich der Gefangene in der TA 6 befand, machte er darauf aufmerksam, dass in baldiger Zeit sein Entlassungstermin anstehe und aufgrund dessen entlassungsvorbereitende Maßnahmen in Erwägung gezogen werden sollten. In der TA 6 wurde ihm daraufhin mitgeteilt, dass dies erst frühestens 3 Monate vor dem voraussichtlichen Entlassungstermin möglich wäre und für ihn, aus welchen Gründen auch immer, wie bei fast jedem Inhaftierten im Berliner Vollzug, eine vorzeitige Entlassung nicht vorgesehen sei. Als der Inhaftierte in der TA 2 wiederum darauf hinwies, dass er laut seines Vollstreckungsblattes in nicht allzu ferner Zeit entlassen werde, teilte ihm die für ihn zuständige Gruppenleitung mit, dass er sich die TA 6 ja verbaut habe und er von ihr sowieso nichts erhalten werde. Trotz dieser desozialisierenden Einstellung der Gruppenleitung ging der Gefangene weiterhin seinem bis dato einwandfreien Vollzugsverlauf nach und versuchte sein Recht auf angemessene Behandlung im Vollzug nach wie vor auf dem anstaltsinternen Wege zu erwirken. Leider konnte sich die Gruppenleitung an das am Tage zuvor geführte Gespräch nicht mehr so recht erinnern und machte, wie fast alle in den Verwahrvollzügen der JVA Tegel beschäftigten Gruppenleiter, einen desinteressierten, orientierungslosen und unordentlichen Eindruck.

Inzwischen hatte sich der Inhaftierte 14 Freistellungstage nach Paragraf 43 erarbeitet und wollte sich diese auszahlen lassen. Daraufhin schrieb er ordnungsgemäß einen Antrag an das Vollzugsbüro. Als er nach über zwei Wochen noch immer keine Antwort erhielt, wollte sich die für ihn zuständige Gruppenleitung des Vorgangs annehmen, doch leider hat diese zum wiederholten Male ihre Aufgaben vernachlässigt und meinte daraufhin lapidar zum Inhaftierten: "Sie sind zu spät."

Im Vollstreckungsblatt des Gefangenen war am 10. Juli 2008 als Entlassung der 08. August 2008 eingetragen, vier Tage später, abzüglich der 14 Paragraf 43er-Tage dann der 25. Juli 2008. Da hinsichtlich der entlassungsvorbereitenden Maßnahmen nichts geschehen war und Inhaftierte mit einem konkreten Entlassungsdatum ohnehin keinen Anspruch auf eine Auszahlung ihrer nach Paragraf 43 erworbenen Freistellungstage haben, rückte der Entlassungszeitpunkt nun 14 Tage vor. Die Zeit für entlassungsvorbereitende Maßnahmen für den Gefangenen war somit denkbar knapp. Das Wissen, in wenigen Tagen unvorbereitet in die Obdachlosigkeit entlassen zu werden ist in keinem Fall eine resozialisierungsfördernde Perspektive und das nur, weil Vollzugsverantwortlichen und Sozialarbeitern der Aufwand, die Belastung mit Arbeit dieser Art zu viel ist, für die diese an sich aber gerade ihr (nicht geringes) Gehalt aus Steuermitteln erhalten. Sich für den Tag (Anwesenheitsnachweis) aus der Kantine mit Kaffee und Kuchen versorgen, ein bisschen in alten Akten stöbern, ist vergleichsweise angenehmer.

Der Gefangene dürfe jedoch laut Aussage eines Bediensteten der Teilanstalt 2 der JVA Tegel nicht mehr erwarten und auch könne die Anstalt nicht mehr für ihn tun. Dem entgegen steht Satz 1 der Paragrafen 74 ff StVollzG, dessen verpflichtender Vorgabe kann sich der Vollzug, insbesondere die mit der Sozialarbeit koordinierte Gruppenleitung, nicht entziehen. Zumindest soll für den Gefangenen ein Termin beim Sozialamt an seinem Entlassungstag vereinbart worden sein.

Leider handelt es sich hier nicht um einen Einzelfall, viele Inhaftierte, die in den Berliner Gefängnissen untergebracht sind werden erst nach Vollverbüßung ihrer Strafe entlassen. Es verstärkt sich zunehmend der Eindruck, dass der Berliner Strafvollzug alles Erdenkliche tut, um die ihnen anvertrauten und zu resozialisierenden Inhaftierten so lange wie möglich festzuhalten und somit die Chance auf eine vorzeitige Entlassung zunichte macht, anstatt sie, wie es der Gesetzgeber vorgesehen hat, in die Gesellschaft zu integrieren. Nach Jahren der sinnlosen Verwahrung sind die Chancen für den Inhaftierten ein Leben ohne Begehung weiterer Straftaten zu führen auf ein Minimum reduziert. Die von der Vollzugsanstalt entworfene Konzeption, deren Maßstäbe in der JVA Tegel laut des ehemaligen Vollzugsleiters und derzeitigem Anstaltsleiter eh nicht eingehalten werden können sowie vielfaches Dulden von Rechtswidrigkeiten (vgl. Rspr. zur Behandlungsuntersuchungsfrist, zum gesetzlichen Mindesterfordernis der Zuweisung zu den Wohn- und Behandlungsgruppen aus Paragraf 7(2) Ziff. 3, zur Rückverlegung aus dem Wohn- und Behandlungsvollzug als willkürlich, verdeckt erfolgende Sanktionierung u. a. m.) seitens der Vollzugsverantwortlichen tragen wohl kaum zur Klärung dieses seit Jahrzehnten bestehenden Missstandes bei.

Der inhaftierte Bürger gelangt meist durch sein defizitäres Verhalten in den Vollzug der Freiheitsstrafe und soll in diesem laut bundeseinheitlicher Rechtssprechung resozialisiert werden. Das heißt, dem inhaftierten Bürger sollen Verhaltensweisen beigebracht werden, die ihn künftig befähigen ein gesellschaftliches Leben zu führen. Dass der Berliner Strafvollzug in seiner Praxis darunter etwas völlig anderes versteht, stellt er immer wieder eindrucksvoll unter Beweis. Durch dieses inakzeptable Verhalten der Justizbehörde werden den Inhaftierten jegliche Chancen auf eine Integration in die Gesellschaft zerstört und er hat nach der Haftentlassung einen weitaus nachteilhafteren Stand, als vor seiner Freiheitstrafe.

Der Strafvollzug in Berlin ist vielfach nicht in der Lage, auch nur den Mindeststandard des Gesetzgebers hinsichtlich der Reintegration zu leisten. Der Gesellschaft ist damit jedenfalls nicht geholfen und dem Gefangenen als zukünftiger Teil dieser schon gar nicht.

Dass die Tegeler Handhabung hinsichtlich einer gesetzlich geregelten Entlassungsvorbereitung von den Vorgaben des Strafvollzugsgesetzes abweicht und diese absichtsvoll ignoriert, sollte der nachfolgende Kontext deutlich aufzeigen.

Mit der Entlassung wechseln für den vorbestraften Bürger die Lebensverhältnisse, deren Strukturen zukünftig wieder offen, unbestimmt und sehr komplex sind. Die im Vollzug klar geregelten Faktoren wie Versorgung, ärztliche Behandlung, geringe Entscheidungsbefugnis sowie die Wahrscheinlichkeit unvorhergesehenen Ereignissen zum Opfer zu fallen (Letzteres in Tegel leider nicht auszuschließen, Anm. des Redakteurs) treten in den Hintergrund. Nach der Entlassung kommen neue Situationen, Ansprüche und Erwartungen auf den Betroffenen zu. Er muss sein Leben neu gestalten und seine Versorgung sichern, und das meistens ohne auf gesellschaftliche Privilegien wie familiären Rückhalt, Beruf, Ersparnisse, Zugehörigkeit zu Gruppen und Vereinen Bezug nehmen zu können. Hinzu kommt der Makel der Vorstrafe, mit dem er in der Gesellschaft eine klare Außenseiterrolle einnimmt und dessen Begleiterscheinungen in Form von Vorwürfen, Diskriminierungen, Verdächtigungen und Misstrauen die prekäre Situation nochmals verschärfen. Dadurch kann der Prozess der Vereinsamung und Verarmung beschleunigt werden und unter Umständen zu einem schnellen Rückfall führen.

Dringend sollte daher den Verantwortlichen des Berliner Vollzuges vor Augen gehalten werden, dass die Entlassungsvorbereitung eine wichtige und unumgängliche Aufgabe des Vollzuges ist und nicht, wie die Praxis bedauerlicher Weise immer wieder offenbart, eine in den Hintergrund gedrängte Kann-Bestimmung. Durch eine gewissenhafte Entlassungsvorbereitung wird die Möglichkeit der Rückfallgefahr entscheidend reduziert sowie eine erfolgreiche Eingliederung gefördert. Hierbei darf die Anstalt jedoch nicht, wie sie es bekanntlicher Weise praktiziert, auf die Initiative des Inhaftierten warten. Vielmehr sollte sie von sich aus aktiv werden und den Gefangenen darin unterstützen, seine Angelegenheiten selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu regeln.

Die Entlassungsvorbereitung muss möglichst frühzeitig und nicht erst in den letzten Wochen oder Monaten der Inhaftierung beginnen. Bereits die Vollzugsplanung ist auf die zukünftige Entlassung hin auszurichten. Dementsprechend schreibt Paragraf 7 Abs. 1 Nr. 8 StVollzG vor, dass der Vollzugsplan die notwendigen Maßnahmen zur Vorbereitung der Entlassung enthalten muss, sofern denn regelmäßig ein Vollzugsplan erstellt wird. (Auch das geschieht rechtswidriger Weise in der JVA Tegel nur in unzureichendem Maße, Anm. des Redakteurs)


Paragraf 74 Hilfe zur Entlassung

Um die Entlassung vorzubereiten, ist der Gefangene bei der Ordnung seiner persönlichen, wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheit zu beraten. Die Beratung erstreckt sich auch auf die Benennung der für Sozialleistungen zuständigen Stellen. Dem Gefangenen ist zu helfen, Arbeit, Unterkunft und persönlichen Beistand für die Zeit nach der Entlassung zu finden.

Leider scheint dieser Paragraf in der JVA Tegel keinen größeren Bekanntheitsgrad zu haben. Da eine systematisch betriebene und koordinierte Entlassungsvorbereitung nicht nur für den Gefangenen, sondern auch für die Gesellschaft von größter Bedeutung ist, sollte auch die Anstalt ein Interesse daran haben, dass durch eine gründliche und intensive Entlassungsvorbereitung die Haftentlassung nach Möglichkeit vorzeitig erfolgt. Es hat sich gezeigt, dass bei vergleichbaren Fällen eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung gegenüber der vollen Strafverbüßung in spezialpräventiver (vorbeugender) Hinsicht eindeutige Vorteile aufweist, indem die spätere Rückfälligkeit um ca. 15% geringer ist (vgl. Dünkel/Maelicke NK 4/2004, 131 ff.)

Der zentralen Bedeutung, der Entlassungsvorbereitung und Entlassenenhilfe zukommt, entspricht nicht die bisherige Handhabung in den Vollzugsanstalten. Von den jährlich ca. 70.000 entlassenen Strafgefangenen werden rund 72% zum Strafende und nur 28% vorzeitig aus der Haft entlassen (vgl. Laubenthal 2003, Rn. 653). Berlin schafft es sogar diese miserable Quote eindrucksvoll zu unterbieten. Viele der Haftentlassenen verfügen nicht über einen Arbeitsplatz, haben keine gesicherte Unterkunft und keine gültigen ausreichenden Papiere. Etwa 2/3 der Klienten zentraler Beratungsstellen für Haftentlassene sind ohne ausreichenden Wohnraum.

Die aufgezeigten Mängel stehen nicht im Einklang mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf Resozialisierung, wie es das BVerfG betont hat (BVerfGE 98, 168 ff.). Dem zufolge sollte sich die Anstalt dringend an den schon 1986 vom Gesetzgeber erforderlich erachteten Paragraf 454a StPO orientieren, der die Voraussetzungen für einen planbaren Entlassungstermin verbessert. (Meyer/Goßner StPO Paragraf 454a, Rn. 1).

Es muss wiederholt darauf hingewiesen werden, dass in der JVA Tegel inhaftierte Bürger durch eine nicht gesetzeskonforme Verschleppungstaktik ihre Zeit sinnlos absitzen und eines Tages wieder Mitglied der freien Gesellschaft sind. Und das manchmal mit fatalen Folgen...


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Quelle:
der lichtblick, 40. Jahrgang, Heft Nr. 337, 5/2008, Seite 12-13
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2009