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LICHTBLICK/167: Fatale Beichtpraktiken


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 342 - 1/2010

Fatale Beichtpraktiken

Von Klaus-Dieter Langer


In diesem Aufsatz geht es darum, individuelle und allgemeine polizeiliche Ermittlungs- und Verhörmethoden aufzuzeigen.
Diese führen zu Geständnissen, aber auch zur Wandlungsbereitschaft eines Täters.
Wie beginnt eine Vernehmungssituation? Zunächst versucht der Verdächtige sich schuldfrei zu geben. Ermittler gehen deshalb taktisch vor, um zu entlarven. Sie verwenden ausgeklügelte Winkelzüge, sind listig und legen verwegene Fallstricke aus.
Dies führt in der Praxis dazu, dass sich sowohl Schuldige als auch Unschuldige um Kopf und Kragen reden können.
Das ist tückisch. Denn in einigen Fällen kommt es zu Fehlurteilen.


Ein geheimer Plan, versteckt eingefädelt.

In der Praxis sind nahezu alle Formen des polizeilichen Verstellens von den Aufsichtsbehörden geduldet.
Erst wenn das Täuschen schon in den Betrug mündet, kann es nicht mehr hingenommen werden. Zu den Listen der Ermittler gehören lauschen, aushorchen und observieren.
Es gibt, und das ist schon ein unerlaubtes, betrügerisches Täuschen, das ins soziale Umfeld gesetzte falsche Darstellen von Sachverhalten, um Ermittlungen in Gang zu bringen und um damit scheinbare Indizien künstlich zu erzeugen.
Ein spektakuläres Beispiel ist der Fall einer anonymen Strafanzeige, die ein Staatsanwalt aus Oldenburg mitverfasst hatte (Name der Redaktion bekannt). Die in der Anzeige enthaltenen Formulierungen führten absichtsvoll dahin, dass der Staatsanwalt das Verfahren gegen einen Fleischfabrikanten an sich ziehen konnte. Ein angeblicher Anonymus, der zudem noch wegen Betrugs vorbestraft war, sollte später als Kronzeuge auftreten.
Das, was ermittelt wurde, war schon zuvor von der Polizei oder von V-Personen absichtsvoll in die Welt gesetzt worden. Hier blieb es bei einer Rüge der Aufsichtsbehörde.
In einem anderen Fall war ein besonderer Trick erlaubt. Es handelt sich um den oft durch die Presse gegangenen Fall des Holzklotzwurfes von einer Autobahnbrücke am 23. März 2008 auf die Autobahn in Oldenburg.
Was war geschehen? Ein Unbekannter warf von einer Brücke einen Baumstumpf in Richtung Fahrbahn.
Das Geschoß traf unglücklich ein heranrasendes Auto.
Es durchschlug die Windschutzscheibe und die Beifahrerin war auf der Stelle tot.
Die Polizei verbreitete in der Presse wahrheitswidrig, dass sich Genspuren an dem Tatwerkzeug befänden.
Das ist so neu nicht. Massengentests werden mit großem Brimborium angekündigt.
Daraufhin meldete sich der Zeuge H. Er behauptete, er habe den Holzklotz angefasst. Aber nur, um ihn beiseite zu räumen.
Damit wollte er seine vermeintlichen Genspuren erklären. Er wusste, dass sein Datensatz gespeichert war. Rasch wurde H. zum Beschuldigten. Er gab die Tat zu. Doch bald darauf widerrief er sein Geständnis wegen unlauterer Verhörmethoden.
Ohne den täuschenden Aufruf jedoch hätte sich dieser angebliche Zeuge niemals bei der Polizei gemeldet. H. wurde schließlich verurteilt.
Listig ist auch, wenn Ermittler Gerüchte oder Peinliches ins Täterumfeld über Verdächtige verbreiten, um zu Aussagen anzuregen.
Denn spontanes Aussageverhalten wird oft durch Erzeugung von Frustration und Wut erzeugt. Wie sieht es bei größeren Strafsachen aus?
Im Vorfeld des Verhörs wird der Verdächtige in seiner Persönlichkeitsstruktur analysiert. Daraus ergeben sich Ansätze zur Vernehmungstaktik.
Die erstellten Täterprofile werden stereotyp angegangen.
Dem rachsüchtigen oder eitel verletzbaren Typus wird suggeriert: Du bist entdeckt, weil dein mutmaßlicher Tatgenosse einen Fehler begangen hat. Er ist an der Aufdeckung schuld.


Der Beichtvater, ein Betrüger?

Der Delinquent soll gegen seinen Mittäter aufgebracht werden.
Das führt zur Bereitschaft, alle Beteiligten zu denunzieren und damit indirekt zu bestrafen.
Der hirnflinke Intellektuelle hingegen, von dem vermutet wird, er würde in ein mönchhaftes Schweigegelübte verfallen, wird folgendermaßen gereizt.
Ihm wird unterstellt, genau das zu tun, was er beabsichtigt, er würde nichts sagen wollen. Deshalb sind schon entsprechende Protokolle vorgefertigt. Scheinbar interessiert sich niemand für ihn? Doch, der Schlaufuchs weiß, hier wird paradox interveniert. Die Ermittler hoffen heimlich, ihr Kunde würde protestieren und sprechen wollen.
Es gibt, allerdings abgekartet, folgende Vorgehensweise: Nach außen sehr freundlich, offener Blick in die Augen, zumindest eines Kriminalisten. Ein anderer spielt den allseits bekannten bösen Bullen.
Ist nicht tatsächlich jedoch der Gute wie ein Heiratsschwindler dabei, eine emotionelle, vertrauliche Beziehung herzustellen?
Erfahrene Ermittler sagen: das Täuschen ist dann perfekt, wenn der verdächtige Mensch zumindest einem Vernehmer vertraut.
Vorzugsweise gibt man sich bei Drogenhändlern väterlich. In Wirklichkeit möchte man zum Beichtvater aufsteigen.
Aber auch die zum Narren haltende partnerschaftliche Variante ist bekannt. Dazu nimmt der angehende Beichtvater psychisch noch stärker Anteil an dem Werdegang seines Klienten.
Bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch oder Mord, ist der liebevolle Kontakt besonders wichtig, damit der Verdächtige einknickt.
So sind die Ermittler dem mutmaßlichen Holzklotzwerfer außerordentlich einfühlsam und seelisch betreuend begegnet.
Sie begleiteten ihn zur Einzelfreistunde und setzten sich zu ihm in die Arrestzelle, um über das Sein zu philosophieren. Eine Technik, mit der die Ermittler Symmetrie im Sinne von Gleichheit herstellen.
Hat aber der Bürger nicht zugleich Verständnis für diese Verstellungen angesichts von verstärkten Wünschen, besonders tragische Straftaten aufgeklärt zu wissen?


Das Genie liebt Einfalt, Witz und Verschleierung

Andere Verstellungen sind ebenso beliebt. Exemplarisch sei auf Peter Falck verwiesen. In der beliebten Fernsehserie »Colombo« zeigt er sich als scheinbar unterbelichteter und verwirrter Kommissar.
Dem Verdächtigen wird geschmeichelt, indem Colombo ihn als überaus menschlich wertvoll hervorhebt. Was soll aber diese frevelhafte Lüge bewirken?
Sie erzeugt eine gefühlvolle und vertraute Atmosphäre. Aufmerksam sein, macht gute Stimmung und regt zu unbedachten Äußerungen an. Das bringt die Schuld hervor.
Die Ermittler versuchen zuerst eine vertraute Beziehung herzustellen. Dann soll die Beichte erfolgen. Doch der Glaube an derartige Blitzbeziehungen ist illusorisch. Denn dieses Theater ist immer nur Teil einer Planszene.
Nach dem Geständnis ist die Beziehung zuende. Anders lautende Erklärungen dienen allein dazu, sich in scheinbarer Redlichkeit zu profilieren. Das ist Teil von kriminalistischer Verstellung.


Das Abschwörungsritual

Die souveräne polizeiliche Täuschung erzeugt das Geständnis als einen Anfangszustand der Erneuerung. Der Täter schwört seinem bisherigen Wirken ab.
Um dieses Geständnis herbeizuführen muss die Schauspielkunst der Ermittler authentisch genug sein. Der Geist des Verdächtigen muss permanent durchdrungen werden. Erst dann erhöht sich die Chance, dass der Delinquent aufgibt.
Die erfolgreichsten Ermittler sind grandiose Schauspieler. Sie leisten harte Verstellungsarbeit in Gegenwart eines Menschen, von dem sie sich sicher sind, er habe die schlimmsten Verbrechen begangen.
Die Ermittler wandeln sich hierzu in Sprache und Gestik ganz in Wahrhaftigkeit um. Anderenfalls würde das Gegenüber die Falschheit bemerken und sich verschließen.
Doch manchmal muss es auch umgekehrt sein. Um aufzuklären, müssen Ermittler schurkenhaft erscheinen. Das folgende Beispiel eines diabolischen Betruges soll dies verdeutlichen.
Der in schwarz gekleidete Besucher eines Inhaftierten fiel schon vor gar nicht so langer Zeit im Besucherzentrum der JVA Tegel unangenehm auf.
Doch warum? Der Besucher schien der englischen Variante eines Schauerromans entstiegen zu sein.
Die radikale Optik des Grauens lässt sich so bescheiben: Entschlossener Blick, zugekniffene Lippen, Ganzkörpertätowierung, Ohrringe, Kettchen und schwarze Lederklamotten. Die Cowboystiefel in Rot, dazu passend, goldene Rolex am Handgelenk.
Doch dieser merkwürdige Kauz erregte in triumphaler Vorfreude das Gemüt des Gastgebers.
Am Ende jedoch überführte der Besucher in planvoller Zerstörung sein Gegenüber als potenziellen Auftragsmörder.
Der Gefangene wollte seine Ehefrau umbringen lassen und geriet an einen verdeckten Ermittler.
Wie ist es mit Lehrbüchern für die hier gezeigte Verstellungsarbeit?
Der interessierte Leser sucht so etwas vergebens. Denn die Ermittler lernen ihre Wahrheitstricks und ihre Täuschungen nur von ihren Kollegen. Es sind mimetische Prozesse des Lernens.
Das geht so: Die neuen schauen ihren Ausbildern zu, verinnerlichen das Erlebte, gestalten es als ihr eigenes und bilden es somit künstlerisch nach. Bei der Aufklärungsarbeit in der Verhörpraxis suggerieren die Ermittler dem Delinquenten, dass weiteres Leugnen sinnlos sei und bieten dann die Möglichkeit einer Erneuerung an. Ein kleiner Trick, aber sehr wirksam. Eingesperrte Menschen sind in besonderem Maße durch den Haftschock und die erlittene Isolation für derartige Suggestionen anfällig.
Einem der Vernehmungsbeamten des H. eilt der Ruf eines Menschenflüsterers voraus. Er verfügt über außergewöhnlich hypnotische Suggestivkraft. So konnte er H. den Willen brechen.
Für den in der Beichtpraxis Geständigen kann dies ein großer Einschnitt bedeuten: Er durchlebt ein Ritual der Wandlung. Vor und nach dem rituellen Zeremoniell des Geständnisses ist er ein anderer.
So aber nicht bei dem geständigen H. Die Ermittler reichten in vielfachen Sitzungen Kaffee und boten Methadon an ( = Heroinersatzstoff).
Aus diesen Umständen fühlte sich der Beschuldigte im nachhinein überrumpelt und widerrief sein Geständnis.


Die Geständnispraxis kann zu Neuanfang führen

Doch was ist allgemein die Krönung eines wertschätzenden Verhörs? Es ist der Supertrick, welchen die wenigsten Menschen durchschauen.
Gemeint sind inszenierte süffisante Interaktionsspielchen der Ermittler, die zu augenblicklicher Befangenheit und Geborgenheit führen. Betroffene berichten zuweilen darüber ohne den Sinn zu verstehen.
Dazu muss man wissen, dass die zu Kriminalität neigenden Menschen fast immer aus gebrochenen Elternhäusern oder aus familiären Problemlagen kommen.
Sie haben eine Aufmerksamkeitsstörung oder sehnen sich nach dem, was sie in ihrer Kindheit nicht hatten: die Harmonie und den Familienfrieden.
Um diese symbolische interaktive Harmonie herzustellen, dient den Ermittlern das inszenierte Necken.
Das geht so. Im Wesentlichen machen sie unangestrengt kleine Witze, geben Komplimente und stellen eine liebevoll-anzügliche Gleichheit her.
Die Ermittler zeigen sich voller Humor. Das fordert Nachahmung heraus. Der Verdächtige steigt sogleich darauf ein und spielt mit.
Sich dem anderen spaßig ironisch-liebevoll anähnlichen heißt, dass sich die Beteiligten kurzzeitig zusammentun.
Sie genießen es, wenn der jeweils andere durch die eigene Präsenz Emotionen zeigt.
In diesen Augenblicken sind die beteiligten Menschen nicht mehr in ihren tatsächlichen Funktionen. Und es kommt dabei zu unbedachten Worten.
Einen Moment lang sind die Beteiligten also die besseren Menschen als es in Wirklichkeit der Fall ist.
Vergleichbares entwickelt sich nur zu Beginn von Freundschaften.
Diese Methode ist besonders perfide, weil der Verhörte hinterher um so tiefer fällt.
Ist andererseits nicht das Herstellen dieser scheinbar liebevollen Beziehung lediglich eine kleine, aber bezaubernde Sünde des Verhörs?
Der Vernommene wird heimtückisch zum Hanswurst gemacht. Insgeheim verachten die Ermittler den nunmehr zum Geständnis Neigenden.
Was aber macht der Verdächtige? Er öffnet sich plötzlich und scheinbar unerwartet. Die Innerlichkeit bricht allen Bann und nun geschieht das Unglaubliche. Der Verdächtige legt doch glatt ein Lebensgeständnis ab.
Das muss entsprechend gewürdigt werden. Die Vernehmer gratulieren einander, natürlich in Abwesenheit des Geständigen.
Auf der anderen Seite wird im selben Moment auf der Zelle eine verzweifelte, aber kleine Ganovenexistenz sichtbar. Das ist so schön wie unheilvoll zugleich, denn jetzt haben die charmanten Sitzungen einen Menschen mit Allgüte hervorgebracht.
Dieser tragische Klient gilt als kurios entlastet, etwa durch seine schwere Kindheit, seine Alkoholerkrankung oder seinen Drogenmissbrauch.
Das ist so schlecht nicht. Würde nicht sonst das Böse weiter in die Welt hinaus getragen werden?


Die Selbstformung des Geständigen

Der Mensch beichtet und beschwört, künftig ein anderer zu sein. Legt seine bisherige Identität ab. Konstruiert eine neue Wirklichkeit. Die soziale Rolle soll nach dem Zusammenbruch eine redliche sein. Dieses Gestehen und Gelöbnis ist ein Ritual, das neue Identität stiften soll. Die autosuggestive Kraft, die davon ausgeht, gelangt bis in den Gerichtssaal.
Dort und auch später im Strafvollzug bleibt dies als Gründungsmythos einer Selbstformung des Missetäters bestehen.
Die Strafkammer vergibt einen kleinen Bonus. Und die Einweisungsabteilung der Anstalt heißt den Beichtathleten sogleich im Trainingslager der Buße willkommen. Hier soll sich der Mensch als übendes Wesen in Entbehrung und neuem sozialen Lernen bessern. Eine gute Nachricht, so möchte man meinen?


Die Nebenwirkungen

Durch die universell angewandten Verhörmethoden werden oft auch Unschuldige genötigt, falsche Angaben zu machen.
Die Ermittler haben demnach eine besondere Verantwortung, ihre Methoden und Ergebnisse zu reflektieren. Doch wie sieht das wegen des Erfolgsdrucks in der Praxis aus?
Eine andere Nebenwirkung liegt in der menschlichen Schwäche. Überall, wo man hinblickt, List und Verstellung. Denn mit dem Wissen um die mildtätigen Gaben kalkuliert eine seltene Unterform des Knastschurken.
Dieser, oft mehrfach vorbestraft, berechnet schon bei seiner Straftat, sich beim Verhör auf Kosten der Mittäter zu entlasten. Bietet sich rasch als Kronzeuge an.
Beim Verhör ist er dann so schwatzfreudig wie die Lerche beim Morgengesang. Sein geheimer Plan sieht dabei genau das Gegenteil von Besserung vor. Und doch wird er als bester Kunde hofiert: bei Polizei, Gericht und der Vollzugsbehörde. Warum das so ist, sei rasch erklärt. Straftaten werden aufgeklärt, allein das zählt.
Menschen, die hartnäckig schweigen, sind hingegen anders sozialisiert.
Haben sie Durchhaltewillen und Mitgefühl zu Tatgenossen und Unbeteiligten, die Nachteile erleiden, wenn sie gestehen würden?
Sind sie Kameraden?
Doch was meinen die Richter? Bei ihnen gelten die Schweigenden als die größten Schufte.
Aber warum? Na, das lässt sich doch auch rasch erklären: Weil die Richter den Schuldbegriff rein technisch und nicht philosophisch anwenden.


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Quelle:
der lichtblick, 42. Jahrgang, Heft Nr. 342, 1/2010, Seite 24-27
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2010