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LICHTBLICK/217: Ein Straffälliger auf Hafturlaub - Was soll denn sowas?


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 370 - 1/2017

Ein Straffälliger auf Hafturlaub...
Was soll denn sowas?

Positive Prognoseentscheidungen sind hier die Voraussetzung für eine Aussetzung der Vollstreckung


Die Phrasen, "die Insassen müssen in Unfreiheit auf ein Leben in Freiheit vorbereitet werden und der Vollzug hat den Auftrag zur Wiedereingliederung der Gefangenen in die Gesellschaft." kennen die meisten von uns. Ist vielleicht ein alter Hut und haben wir so schon hundertfach gehört werden jetzt viele denken, aber man kann es nicht oft genug erwähnen und darüber berichten, weil es einfach zu wichtig ist. In diesem Zusammenhang spielen "günstige Sozialprognosen" eine elementare Rolle und sind von großer Bedeutung für alle Arten von Lockerungen im Strafvollzug.

Wenn ein verurteilter Straftäter nicht wieder von dem Ausgang oder aus dem Urlaub zurückkehrt, dann fragt der Boulevard "wie locker darf Haft sein?". Die Öffentlichkeit reagiert auf diese Medienberichte teilweise mit Unverständnis und Verärgerung. Es liegt wohl in der Natur der Sache, dass die Zeitungen nicht über erfolgreiche Vollzugsverläufe berichten. Eine durchgeführte Flucht lässt sich nunmal wesentlich besser verkaufen und schnell ist dann das Wort "Kuschelvollzug" zur Hand und es entsteht ein falsches Bild.

Die Täter sollen büßen und nicht mit Ausgängen oder Urlaub belohnt und verwöhnt werden. Man beruft sich auf das Kant'sche Talionsprinzip (lateinisch talia = Vergeltung) wonach ein Gleichgewicht herzustellen ist zwischen dem Schaden, der dem Opfer zugefügt wurde, und dem Schaden, der dem Täter zugefügt werden soll. So sieht es häufig die Gesellschaft und ist mit ihrer Meinung dann festgefahren. Diese Reaktionen zeigen die große Verunsicherung der Bevölkerung und sind Zerrbilder über den Justizvollzug, der teilweise auch aus politischen Gründen bewusst so gepflegt wird. Trotzdem sind Vollzugsöffnungen zur Wiedereingliederung unverzichtbar.

Der Vollzug hat den gesetzlichen Auftrag, das soziale Verhalten der Gefangenen zu fördern und Rückfälle möglichst zu verhindern. Die meisten Inhaftierten verbüßen zeitlich befristete Sanktionen. Sie müssen also früher oder später wieder in Freiheit entlassen werden. Dessen ist sich auch die Anstalt bewusst, und es macht daher Sinn, die Inhaftierten schrittweise auf diese Rückkehr in die Gesellschaft vorzubereiten.

Wenn die Justiz dem Gefangenen unterstellt, er werde mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder rückfällig, dann gibt es für den Inhaftierten auch keine Zukunft. Ein Mensch, der über lange Zeit statt Hilfe Bestrafung erfahren hat, statt Fürsorge Versagung, statt Wärme Ablehnung, wird draußen kein soziales Leben führen können. Genau das nämlich, hat er im Gefängnis verlernt.

Die Umsetzung der Wiedereingliederung erfordert Muster und Lernfelder für den Gefangenen. Ausgänge und Urlaube sind solche Lernfelder, die eine realistische Einschätzung der eigenen Situation erfordern und für die Gestaltung eines straffreien Lebens wichtig sind. In § 42 StVollzG Bln (Lockerungen zur Erreichung des Vollzugsziels) sind diese wichtigen Maßnahmen ausformuliert und werden so zu einem Instrumentarium der Vollzugspraxis. In Lockerungen sollen die Gefangenen in der Regel stufenweise in Freiheitsgraden erprobt und so kontinuierlich an ein Leben in Freiheit herangeführt werden. Der § 42 StVollzG enthält erstmals eine Legaldefinition, die abweichend von der bisherigen Regelung des Bundesrechts nur das Verlassen der Anstalt "ohne Aufsicht" als Lockerung definiert. Ausführung und Außenbeschäftigung sind daher keine Lockerungen. Urlaub wird als Langzeitausgang in die Bestimmung einbezogen. Diese Bestimmung enthält, wie bisher, keinen Rechtsanspruch auf Gewährung von Lockerungen, sondern nur einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung.

Diese Art von Lockerungen sind kein Wellnessangebot für Inhaftierte. Es geht nicht darum, den Vollzug für Gefangene möglichst angenehm zu gestalten, sondern es geht um Bewährungen im Hinblick auf die Rückkehr der Inhaftierten in ein "normales Leben". Sie sollen in Verantwortung genommen werden und sich in Vollzugsöffnungen beweisen. Kontakte mit der Außenwelt aufbauen und tragfähige soziale Bindungen für die Zeit nach der Entlassung entwickeln.

Die Gefahr neuer Straftaten soll natürlich gemindert oder besser noch gänzlich ausgeschlossen werden. Hierfür sind Prognosen über das künftige Verhalten der Täter notwendig und diese Prognosen sind natürlich mit Unsicherheiten behaftet, da menschliches Verhalten nicht vorhersehbar ist.

Wikipedia belehrt uns hierzu mit: "Legalprognose ist eine kriminologische, psychiatrische und psychologische Risikobeurteilung einer straffälligen Person bezüglich ihrer Fähigkeit und Motivation, zu einem späteren Zeitpunkt Regeln und Gesetze einzuhalten. Sie ist nach § 56 (1) STGB (Strafaussetzung zur Bewährung) Grundlage der Einschätzung, ob eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden muss oder kann und bei der Resozialisierung von Straftätern."

Vor der Erstellung der Prognose muss eine intensive Untersuchung der Persönlichkeit, meist in Form eines psychologischen oder psychiatrischen Gutachtens und des bisherigen Verhaltens (Biografie) vorgenommen werden.

Eine günstige Sozialprognose ist die Voraussetzung für eine Aussetzung der Vollstreckung und wird je nach Höhe der erkannten Strafe unterschiedlich geregelt. Einheitlich wird jedoch eine günstige Sozialprognose verlangt. Die Prognose ist ausschließlich präventiv zu stellen. Sie lässt sich nicht schon auf Erwägung stützen, dass eine Strafverbüßung nicht zur Besserung des Täters beitragen werde. Die Schwere der Schuld wie auch die Umstände der Tat sind nur insoweit von Bedeutung, wie sie Rückschlüsse auf das künftige Verhalten zulassen. Die Prognose ist ggf. unter Heranziehung der Gerichtshilfe oder eines Sachverständigen zu treffen und bedarf einer individuellen Würdigung aller Umstände.

Erwartungsklausel: Die Erwartungsklausel gem. § 56 (1) STGB verlangt die begründete Erwartung, dass der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen wird, sei es auch erst mit Hilfe von Auflagen (§ 56b STGB) oder Weisungen (§§ 56c,56d) und künftig, also nicht nur während der Dauer der Bewährungszeit, auch ohne Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Es wird also keine sichere oder unbedingte Gewähr, sondern lediglich eine durch Tatsachen begründete wahrscheinlich straffreie Führung verlangt.

Andererseits reicht eine "bloße Hoffnung" nicht aus. Die Würdigung zugrunde liegender Tatsachen müssen im Urteil dargelegt werden, ein vager Hinweis, das Gericht habe einen "günstigen Eindruck" gehabt, reicht nicht aus. Das die Begehung weiterer Straftaten nicht wahrscheinlich ist, muss zur Überzeugung des Richters feststehen. Für die Bejahung einer günstigen Prognose genügt es also nicht, dass sie sich nur nicht ausschließen lasse. Die Umstände, die auf eine Verneinung einer günstigen Sozialprognose gestützt werden sollen, müssen rechtsfehlerfrei festgestellt werden. Der Angeklagte hat insoweit keine Darlegungspflicht.

Prognose-Gesichtspunkte: Die Prognose muss sich namentlich auf die Persönlichkeit des Verurteilten beziehen, ob der Täter die negativen Faktoren seiner Prognose vorzuwerfen sind, ist ohne Bedeutung. Die Prognose kann auch auf Eigenschaften gestützt werden, die krankheitsbedingt sind oder die auf Persönlichkeitsdefiziten beruhen. Umstände, die zur Aussetzung der Unterbringung Anlass geben, können auch eine hinreichende Wahrscheinlichkeit straffreier Lebensführung begründen.

Das der Rückfall bei BtM-Abhängigen eine nahe liegende Möglichkeit ist, steht einer Aussetzung nicht von vornherein entgegen. Bei Süchtigen ist daher eine Drogenfreiheit nicht Voraussetzung einer Strafaussetzung. Wird die günstige Prognose allein deswegen verneint, weil die Mittel für eine Langzeittherapie noch fehlen, so ist zu erwägen, ob die Zwischenzeit bis zum Therapieantritt nicht durch bewährungsbegleitende Maßnahmen straffrei überstanden werden kann. Ein allgemeiner Erfahrungssatz, nur eine stationäre Drogenentzugsbehandlung könne zum Erfolg führen, besteht nicht. Andererseits kann die Annahme einer günstigen Prognose bei BtM-sowie Alkoholabhängigkeit des Täters nicht schon auf vage Therapie-Bemühungen oder eine in der Hauptverhandlung bekundete Therapiebereitschaft gestützt werden.

Die Prognose muss das Vorleben des Täters einbeziehen, insbesondere seine Vorstrafen. Sind die Vorstrafen einschlägige oder gewichtige und liegen sie noch nicht weit zurück, wird es besonderer Umstände bedürfen, um doch zu einer positiven Prognose zu kommen.

Sichere Vorhersagen gibt es nicht! Rückfälle kann man nur verhindern, indem jeder einzelne Täter bis zu seinem Tod eingesperrt wird. Es liegt auf der Hand, dass dies völlig unverhältnismäßig wäre und in einem Rechtsstaat nicht umsetzbar ist.

Die Strafgefangenen werden ausschließlich als Risikoträger gesehen: Person und Tat werden gleichgesetzt. Der Gefangene wird auf sein Delikt reduziert, gleichgültig welche Bemühungen er in der Zwischenzeit unternommen hat. Die Gefangenen müssen aber mit Ausgängen und Urlaub auf die Freiheit vorbereitet werden und dazu muss ihnen Gelegenheit gegeben werden. Diese Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit gehört zum Gestaltungsprinzip des Strafvollzuges. Hierbei müssen die Insassen mit den Anforderungen in Freiheit konfrontiert werden und dafür brauchen sie einen Vertrauensvorschuss, der von den Anstalten selten zu erkennen ist.

Der Übergang in die Freiheit könnte durch entsprechende Lockerungen wesentlich erleichtert werden. Wer nach der Entlassung in sein intaktes soziales Netz zurückkehrt und aufgefangen wird, der wird mit den hohen Anforderungen durch das tägliche Leben in Freiheit gut umgehen können, nur er sollte es vorher schon einmal geübt und erlebt haben, ansonsten könnte es sich schwierig gestalten.

N. K.

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Quelle:
der lichtblick, 49. Jahrgang, Heft Nr. 370 - 1/2017, Seite 38-39
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Redaktionsgemeinschaft der lichtblick
(Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2017

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