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MARXISTISCHE BLÄTTER/426: Ein Jahr Präsidentschaft des Barack Obama


Marxistische Blätter Heft 1-10

Ein Jahr Präsidentschaft des Barack Obama

Von Ekkehard Sauermann


Nach diesem einen Jahr liegt auf dem hiesigen Büchermarkt nur eine einzige Buchpublikation vor, in welcher der Versuch einer ersten Analyse dieser Präsidentschaft unternommen wird. Aber es gibt zahlreiche Beiträge zu dieser Problematik, welche - mehr oder weniger - einen analytischen Anspruch erheben. Die weitaus meisten dieser Publikationen enthalten nicht nur sachkundige Feststellungen, sondern ambitionierte Einschätzungen und Urteile - oftmals als abschätzige Verurteilungen, in denen sich eine - mehr oder weniger vorprogrammierte - Enttäuschung ausdrückt. Von daher kann damit gerechnet werden, dass sich dieser Trend auch in der Gesamtbilanzierung der einjährigen Präsidentschaft fortsetzt - und möglicherweise verstärkt.

Das bedeutet, dass ein Teil der Autoren zu einem überwiegend negativen Ergebnis gelangen wird.

Hierzu bedarf es keiner großen Anstrengungen. Wenn die einzelnen Wahlversprechen Obamas zum Ausgangspunkt genommen und nur unter der Warte des bereits definitiv erzielten Erfolgs abgerechnet werden, dann schneiden selbst jene Politikfelder schlecht ab, in denen die Obama-Administration eine Bewegung erzielen konnte - die Gesundheitsreform, die Bemühungen um die Schließung Guantánamos sowie Vorstöße auf dem Gebiet der Atomwaffenkontrolle. Wer bei einer solchen negativen Einschätzung den Faktor des erbitterten Widerstandes ausblendet, mit dem sich Obama konfrontiert sieht und dem gegenüber er auch den kleinsten Fortschritt unter unerhörter Kraftanspannung abtrotzen muss, der disqualifiziert sich allerdings selbst als ernstzunehmender Autor. Ein anderer Teil der Autoren, welcher sich den Minimalansprüchen eines seriösen Journalismus verpflichtet fühlt, wird eine differenziertere Wertung vornehmen: bestimmte Bemühungen sowie Teilerfolge würdigen, Rückschläge erklären. Auf Grundlage einer solchen Bilanzierung ergibt sich das Bild, dass Obama auf innenpolitischem Gebiet erste positive Ergebnisse erzielen konnte, während er außenpolitisch (vor allem gegenüber Israel sowie in der Afghanistan-Frage) gescheitert oder zumindest festgefahren ist.

In welcher Situation befindet sich der Leser dieser Bilanzierungen?

Liegt die Wahrheit - wie so oft vermutet - in der "Mitte"?

Um der Wahrheit über das "Phänomen Obama" sowie einer ernsthaften Bilanzierung seines einjährigen Wirkens nahe zu kommen, bedarf es offenbar eines anderen Herangehens:

Es geht nicht in erster Linie um die persönliche Wahl-Versprechens-Abarbeitung dieses neuen Präsidenten im vergangenen Jahr. Eine tiefgehende Analyse erfordert, dass die innenpolitischen Ereignisse in den USA als ein Prozess im Rahmen gravierender weltpolitischer Veränderungen verstanden und die Bestrebungen und Bemühungen Obamas hierin eingeordnet werden.

Entscheidend dabei ist das Anlegen realitätsbezogener Maßstäbe. Obama kann nur agieren im Rahmen konkreter historischer Kräftekonstellationen und entsprechender Möglichkeiten. Wenn das Wirken sowie die Wirksamkeit dieses Präsidenten nicht nur auf einzelnen Politikfeldern, sondern in seiner Gesamtheit eingeschätzt werden soll, so muss die Ausgangssituation seiner Präsidentschaft als Ganzes gesehen werden. Das entscheidende Charakteristikum ist, dass die US-Machtelite um Bush einen weltumspannenden Krieg in Gang gesetzt hatte, mit dem Ziel der Errichtung einer Welt-Kriegs-Ordnung nach außen und innen. Dieser offen erklärte und von einer ungehemmten Feindbild-Propaganda gestützte Krieg war - und ist - bereits Realität. Die Welt befindet sich seit der Aggression gegen Afghanistan im Kriegszustand, im Zustand eines bereits eröffneten weltweiten ununterbrochenen Krieges. Die durch radikale soziale Umverteilung sowie rigorose Überwachung gekennzeichnete Innenpolitik ist organischer Bestandteil dieser Kriegspolitik. (Dies bedeutet, dass sich auch jegliche Einschränkung dieser Politik auf innenpolitischem Gebiet objektiv gegen das Kriegsvorhaben richtet.) Das gleiche gilt für den gesamten Politikstil, für Aggressivität und Brutalität nach außen und innen. Mit der aggressiven Weltmacht - sowie Innenpolitik wurde auf allen Gebieten eine so breite Offensive der Destruktivität in Gang gesetzt, dass eine reale Alternative kaum mehr möglich schien. Wer konnte sich dieser Dampfwalze der Ultras noch widersetzen? Welche Kräfte konnten sie noch aufhalten? Zu den unerwarteten positiven Wendungen in der Geschichte gehört, dass - ausgehend von dem Widerstand des irakischen Volkes - dieser Welt-Kriegs-Durchmarsch aufgehalten worden ist. Die Weltgemeinschaft befindet sich seitdem im Zustand eines gebremsten Weltkrieges. Zugleich ist die grundlegende weltpolitische Situation gekennzeichnet durch eine Reihe von weiteren existenzbedrohenden Krisen, die auf das engste miteinander verbunden sind und insgesamt einen bedrohlichen Entwicklungsgrad erreicht haben: auf dem Gebiet der Ökologie, der Ernährung, Gesundheit, Bildung sowie - dies alles verschärfend - der Wirtschaft. Ohne die Überwindung der Weltkriegsgefahr können auf dem Gebiet dieses umfassenden Krisenkonglomerats keine ernsthaften Fortschritte erzielt werden. Unter der Bush-Administration wurde ein durchgängiges Anti-Programm in Gang gesetzt, welches jegliche Lösungsansätze auf allen diesen Gebieten ersticken sollte. Mit der konsequenten Überwindung des US-Weltkriegsvorhabens könnte eine umfassende Bewegung zur schrittweisen Bewältigung aller dieser Krisen sowie der existenziellen Bedrohung der Menschheit in Gang gesetzt werden. Aber die Welt befindet sich noch in diesem Kriegszustand. Der Krieg wurde lediglich gebremst, aber nicht beendet oder gar aufgehoben. Es hat sich eine Art Patt-Situation herausgebildet, eine eigentümliche weltpolitische Situation, die möglichst genau ausgeleuchtet werden muss. Die Ultras - vor allem gestützt auf den militärisch-industriellen Komplex - haben ihr Weltkriegsvorhaben keineswegs aufgegeben und sich mit dem Rückschlag nicht abgefunden. Es ist also gefährlich, die Bedeutung dieser zeitweiligen Zurückdrängung der Weltkriegsgefahr zu überschätzen. Aber gleichzeitig wäre es unverantwortlich, das positive Potential dieses bisher einmaligen Vorganges der Bremsung eines bereits in Gang gesetzten Weltkrieges zu unterschätzen und die sich hieraus ergebenden Chancen zu ignorieren. Diese Bremsung ist durch machtvolle Gegenkräfte - im Irak, im Libanon und an anderen weltpolitischen Brennpunkten - sowie durch die neutralisierende Kraft anderer weltpolitischer Mächte (welche sich durch neue Bündnisbeziehungen gegenseitig stärken) herbeigeführt worden. Dies hat dazu geführt, dass militärische, ökonomische, politische wie auch ideelle Kräfte der US-Weltmachtelite gebunden und damit teilweise gefesselt worden sind und somit auf anderen geopolitischen Feldern nicht mehr hinreichend eingesetzt werden konnten. Damit ist ein neuartiger Bewegungsraum entstanden: einmal für direkte Gegenbewegungen wie in Lateinamerika, zum anderen für konkurrierende Mächte, welche den aggressiven unipolaren Weltmachtanspruch der USA-Führung in Grenzen halten und ihre eigenen Interessen multipolar durchsetzen wollen. Dazu gehören China, Russland, die EU, die großen "Schwellenländer" sowie andere Länder und Ländergruppierungen. Und schließlich hat sich dieser neue Bewegungsraum auch in den Vereinigten Staaten selbst herausgebildet: die Wiederbelebung und Neuformierung von alternativen Aufbrüchen, woraus auch jene Bewegung hervorgegangen ist, welche den Barack Obama stützt. Außerhalb dieses gesamten weltpolitischen und innenpolitischen Kontextes kann die Bilanz seiner einjährigen Präsidentschaft nicht sachgerecht gezogen werden. Obama ist an einer eigenartigen Schnittstelle der Kräftekonstellation seines Landes an die Macht gelangt, durch den Spalt eines zeitweilig geöffneten Fensters. Die zutiefst menschheitsfeindliche, antizivilisatorische und zerstörerische Politik unter dem vorherigen Präsidenten ist bis an eine solche Grenze getrieben worden, dass allein dem Gestaltwerden einer Alternative historische Bedeutung zukommt. Das betrifft inhaltlich die alternativen Ansätze und Vorstöße auf zentralen nationalen und internationalen Politikfeldern, welche Obama in sowohl differenzierter wie komplexer Weise in Angriff genommen hat. Dies bezieht sich auch auf jenen Politikstil Obamas, in welchem sich ein auf Entspannung und Entschärfung gerichtetes zivilisatorisches Minimum ausdrückt. Wer im Rahmen dieser Alternative schnelle und optimale Veränderungen erwartet, verkennt die unerhörte Last, welche auch auf dem kleinsten Schritt in Richtung auf jeglichen Ausweg aus einer als nahezu ausweglos erscheinenden Situation lastet. Eine fundierte Bilanz der bisherigen Wirksamkeit dieses Präsidenten erfordert eine möglichst sorgfältige Analyse des politischen Kräfteverhältnisses, der nach wie vor vorhandenen Wirksamkeit der machtvollen Gegenkräfte, welche zwar zeitweilig angeschlagen und zurückgedrängt, aber keineswegs geschlagen oder gar überwunden sind.

Im vergangenen Jahr wurde immer deutlicher, dass sich diese Kräfte neu formieren. Sie versuchen die Bremsung ihrer Wirkungsmöglichkeiten zu überwinden, die Vorhaben von Obama zu blockieren, eigene Gegenvorstöße an Schwachstellen der Obama-Konstellation zu unternehmen, um schrittweise eine allgemeine und umfassende Gegenoffensive in Gang zu setzen. Ein kennzeichnendes Beispiel hierfür sind jene Vorstöße in Lateinamerika, wie sie am Beispiel der ausgeklügelten Unterstützung der Putschisten in Honduras deutlich werden. In diesem Zusammenhang wird der Begriff "Smart Power" (intelligente Macht) in Gegenüberstellung zum "Hard Power" von Bush und zum "Soft Power" von Clinton gebraucht. Sachkundige Analysten gehen nicht davon aus, den Präsidenten als Inspirator dieser Gegenbewegungen namhaft zu machen, sondern bringen sie in Verbindung mit einem Machtkampf außerhalb sowie innerhalb seiner Administration. (Auf die Frage, ob Obamas Politikstil mit dem Smart Power der Außenministerin Clinton hinlänglich erfasst werden kann, oder - zumindest potentiell - darüber hinausgehen und hinauswachsen kann, sollte noch keine abschließende Antwort gegeben werden.) Aber natürlich kann Obama nicht unabhängig von dieser Interessen- und Kräftekonstellation agieren. Zumindest engen sie seinen Spielraum in Richtung auf Entspannung ein. Unter diesen Bedingungen ist es für ihn immer schwerer, Durchbrüche zu erzielen. Seine Losung war - und ist - die Veränderung. Aber er muss immer mehr aus der Defensive heraus agieren und sich auf Verteidigung und Konsolidierung der bereits erzielten Ansätze konzentrieren. Die nahezu zwanghafte Weiterführung des Afghanistankrieges macht in dramatischer Weise deutlich, wie begrenzt sein Spielraum ist, insbesondere gegenüber dem militärisch-industriellen Komplex.

(Die Tatsache, dass er in seine allgemeine Kompromissbereitschaft auch diese ultrarechten Kräfte einbezieht, ist offenbar seine Achillesferse, welche sich in verschiedener Hinsicht als tödlich erweisen kann.) Aber da Obama gleichzeitig auf zahlreichen Politikfeldern Vorstöße unternommen hat, welche auf schrittweise Überwindung der weltpolitischen und innenpolitischen tödlichen Erstarrung gerichtet sind, hat er - zumindest indirekt - eine Bewegung begünstigt, welche von verschiedenartigen alternativen Kräften als Bewegungsraum - zumindest als Atempause zur Konsolidierung - genutzt werden kann. So schwierig es ist, das in einem Jahr Erreichbare und Erreichte einzuschätzen, so herausfordernd und produktiv ist es, die hierbei gewonnenen Erfahrungen zu analysieren. Bereits nach diesem einen Jahr liegt ein umfangreicher Erfahrungsschatz vor im Hinblick auf das zähe und schwierige Ringen um kleine aber bedeutsame Fortschritte im Rahmen eines langwierigen Prozesses. Der Erfahrungshorizont umfasst ein breites Spektrum: von der Möglichkeit prinzipieller Einblicke und Einsichten in die Dialektik unserer Epoche über grundsätzliche strategische Fragen bis hin zu vielgestaltigen Erfahrungen in der konkreten Auseinandersetzung mit den rechtsradikalen und fundamentalistischen Kräften.

Was die Epocheproblematik betrifft, so ist das Phänomen Obama (dass sich im Zentrum der aggressiven Weltmachtpolitik eine solche - relative - Verschiebung des Kräfteverhältnisses innerhalb der politischen Elite vollziehen konnte) ein Symptom dafür, dass sich anstelle der nahezu ungebremsten Weltmachtpolitik der aggressivsten US-Elite eine Etappe der Bremsung, der Zügelung dieser Kräfte herausgebildet hat. Worin die Besonderheit dieser Etappe besteht, welche neuen Möglichkeiten und Grenzen für die alternativen Kräfte hieraus hervorgehen, in welchem spezifischen welthistorischen Prozess sich diese Bedingungen fortlaufend verändern, welche neuartigen Kräftekonstellationen sich hieraus ergeben und entwickeln, - das kann auf spezielle Weise am Wirken und an der Wirksamkeit (bzw. Nichtwirksamkeit) der Obama-Bewegung studiert werden (wenn man denn bereit ist, sich den Anstrengungen einer differenzierenden sorgfältigen Analyse zu unterziehen).

Was die strategischen Einblicke angeht, so besteht eine besondere Herausforderung darin, das Zutagetreten jener neuartigen alternativen Kräftegruppierungen sowie der sich hieraus ergebenden (zunächst als ungewohnt und riskant ergebenden) Bündnismöglichkeiten zu studieren, welche sich gegenüber den besonders aggressiven Kräften herausgebildet haben (wobei die reichen Erfahrungen der antifaschistischen Bündnispolitik reaktiviert, genutzt und weiterentwickelt werden sollten).

Im Hinblick auf taktische Erfahrungen bietet das Wirken Obamas bereits in dieser knappen Zeit ein reiches Anschauungsmaterial. Zum Beispiel im Hinblick auf sowohl kontinuierliche wie variable Schwerpunktsetzung, gleichzeitiges Vorstoßen auf verschiedenen Gebieten in Verbindung mit der Fähigkeit zum vorübergehenden Rückzug, zur Kräfteumgruppierung und Konsolidierung an entscheidenden Punkten unter Nutzung des Druckes von unten sowie von der Seite, Verbindung von nationalen und internationalen Vorstoßmöglichkeiten. US-amerikanische Linke verfolgen diese Praxis aufmerksam, betrachten sie als Erweiterung ihres eigenen Erfahrungshorizonts sowie als analytische Herausforderung. Sie ziehen hieraus eigenständige Schlussfolgerungen, in denen Abgrenzung und Zuwendung (als punktuelle und partielle Nutzung) in dialektischer Weise miteinander verbunden werden.

Bei alledem geht es letztlich darum, dass wir die Zeitzeugen eines historischen Prozesses von großer weltgeschichtlicher Tragweite sind, der einen tiefgehenden Lernprozess herausfordert, welcher sich vor allem auf die neuartigen Erfahrungen bezieht. An uns ist es, diesen historischen Prozess besser zu verstehen, um diese Erfahrungen wie auch dieses Phänomen Obama - und auch uns selbst - besser einordnen zu können. In dieser Richtung ist die Bilanzierung der einjährigen Präsidentschaft des Barack Obama eine sowohl schöpferische wie schwierige Aufgabe. Ein solches Herangehen erscheint konstruktiver und produktiver, als in abgehobener Weise das widerspruchsvolle Wirken dieses widerspruchsvollen Präsidenten im Jahre 2009 buchhalterisch abzuarbeiten.


Ekkehard Sauermann, Prof. Dr., Halle, Politologe


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-10, 48. Jahrgang, S. 19-23
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2010