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MARXISTISCHE BLÄTTER/431: Die EU nach dem Lissabon-Vertrag - Zu einigen Diskussionsfragen


Marxistische Blätter Heft 1-10

Die EU nach dem Lissabon-Vertrag - Zu einigen Diskussionsfragen

Von Georg Polikeit


In der Präambel des "Vertrags von Lissabon" wird verkündet, dass es Ziel dieses Vertrages sei, "den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben".

Zum Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags am 1. Dezember 2009 gab der konservative schwedische Ministerpräsident Reinfeldt als damals amtierender EU-Ratsvorsitzender eine Erklärung ab, in der es hieß: "Heute ist die EU einer der bedeutendsten Akteure des Weltmarktes. Sie repräsentiert ein Drittel der weltweiten Wirtschaftsproduktion und ist der weltweit größte Exporteur. Sie ist eine Union, in der mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder die gleiche Währung haben. Sie bringt sich immer deutlicher in der internationalen Arena zur Geltung und engagiert sich in aktiver Weise in den Konfliktzonen, die überall in der Welt verstreut sind. Heute ist die EU eine Kraft, mit der man rechnen muss, sowohl in ökonomischer wie politischer Hinsicht." Die neue Stufe der "europäischen Integration", die mit dem Lissabon-Vertrag anvisiert wird, ist also vor allem mit dem nachdrücklichen Anspruch auf eine eigenständige Weltmachtrolle der EU verbunden.

Der Lissabon-Vertrag ist die dritte Vertragsrevision, nachdem die Europäische Union mit dem "Vertrag von Maastricht" am 1.11.1993 gegründet worden ist. Der nachfolgende "Vertrag von Amsterdam" (gültig ab 1.5.1999) hatte nur relativ geringfügige Vertragskorrekturen vorgenommen. Der am 1.2. 2003 in Kraft gesetzte "Vertrag von Nizza" enthielt Änderungen im Hinblick auf die im Jahr 2004 anstehende Erweiterung der EU auf damals 25 Mitgliedstaaten; eine Reihe von umstrittenen Fragen blieb jedoch ungeregelt.

Zur Bewertung des Lissabon-Vertrags muss in Erinnerung gerufen werden, dass an seiner Stelle ursprünglich ein "Vertrag über eine Verfassung für Europa" beabsichtigt war. Mit dem Begriff "Verfassung" und der Einführung von Staatlichkeits-Symbolen wie offizieller Fahne, Hymne und "Wahlspruch" der EU sollte der staatsähnliche Charakter des supranationalen EU-Gebildes unterstrichen werden. Dieses Vorhaben scheiterte bekanntlich an den Referenden in Frankreich und den Niederlanden. Der Lissabon-Vertrag ist über weite Strecken der wörtliche Abklatsch des Verfassungsvertrags. Lediglich auf die Bezeichnung "Verfassung" und die Staatlichkeits- Symbolik wurde verzichtet. Doch die Absichten, Ziele und Interessen, die dem "Verfassungsvertrag" zugrunde lagen, bestimmen auch die "neue Stufe der europäischen Integration", die mit dem Lissabon-Vertrag angestrebt wird.


Staatenbündnis oder Bundesstaat?

Es gibt eine anhaltende Diskussion - auch unter Linken einschließlich Marxisten und Kommunisten -, was die EU denn nun eigentlich sei: ein Staatenbündnis, ein Bundesstaat - oder was sonst?

Ein Staatenbündnis oder - etwas stärker strukturiert - ein Staatenbund ist eine Allianz souveräner Einzelstaaten zur Erreichung bestimmter Ziele. Die Entscheidungsbefugnis bleibt dabei in allen Fragen bei den Einzelstaaten, auch wenn sie gemeinsame Instanzen, Organe oder Oberkommandos zur Erreichung des Allianzzweckes gebildet haben. Als historische Beispiele könnten u. a. etwa der "Deutsche Bund" (1815 - 1866), die "Entente" vor und während des 1. Weltkriegs, aber auch die Anti-Hitler-Koalition im 2. Weltkrieg genannt werden.

Die Festlegungen des Lissabon-Vertrags gehen darüber hinaus. Er hat - wie schon der Maastricht-Vertrag - eine reale Abtretung nationaler Souveränitätsrechte an EU-Instanzen zum Inhalt. Die Einzelstaaten verzichten in bestimmten Bereichen auf das Recht der souveränen Eigenentscheidung. Sie ordnen sich auf den im Vertrag aufgelisteten Politikfeldern der Beschlussfassung durch die gebildeten Gemeinschaftsgremien unter. Es gibt Politikbereiche, in denen die EU die "ausschließliche Zuständigkeit" hat. Die Einzelstaaten dürfen in diesen Bereichen nur noch tätig werden, wenn die EU sie dazu ermächtigt. In anderen Bereichen gibt es eine "geteilte Zuständigkeit" zwischen EU und Einzelstaaten. In diesen Bereichen dürfen die Mitgliedstaaten zwar auch ohne EU-Auftrag Gesetze und Rechtsakte erlassen, aber nur "sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat". Vorrang haben auch hier EU-Regelungen, die in aller Regel für die Einzelstaaten bindend sind.

Die "ausschließliche Zuständigkeit" betrifft wichtige wirtschaftliche Fragen wie die Festlegung der Regeln für den Binnenmarkt, die "Zollunion" (gegenüber Drittstaaten), die Währungspolitik (für die Staaten, die den Euro eingeführt haben), die "gemeinsame Handelspolitik" sowie den Abschluss internationaler Abkommen. Die "geteilte Zuständigkeit", in der die EU ebenfalls verpflichtende Regelungen erlassen kann, umfasst ein weites Spektrum von Fragen: "wirtschaftliche Integration", Sozialpolitik, Umweltschutz, Verbraucherschutz, Landwirtschaft, Fischerei, Verkehrs- und Energiepolitik, Gesundheitsschutz, Forschungs- und Technologiepolitik, Raumfahrt, aber auch die "Zusammenarbeit von Polizei und Justiz" (EU-weite Vernetzung von Polizei und Justiz durch "Europol" und "Eurojust", einschließlich der dazugehörigen Datenbanken, auch von Sicherheits- und Geheimdiensten, Asyl-, Visums- und Einwanderungspolitik, Abschottung gegen unerwünschte Immigranten, Grenzschutzorganisation "Frontex") u. a. m.

EU-Recht hat "Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten". Das ist wörtlich weiterhin bindender Vertragsbestandteil, auch wenn diese Festlegung nun nicht mehr im Vertrag selbst steht, sondern in eine gesonderte "Erklärung 17" in den Anhang des Lissabon-Vertrags verschoben wurde.

Außerdem sieht der Vertrag eine "gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" einschließlich "Verteidigungspolitik" sowie die "Koordinierung" der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Mitgliedstaaten vor.

Der Vertrag enthält eine deutliche Ausweitung der Politikbereiche, in denen mit "qualifizierter Mehrheit" entschieden wird. In den meisten Politikfeldern können Mehrheitsentscheidungen also künftig auch gegen den Willen einzelner Mitgliedstaaten getroffen werden, denen sie sich dann unterzuordnen haben. Die Vormachtstellung der "großen" Mitgliedstaaten wird durch das "Prinzip der doppelten Mehrheit" und die Einführung eines "demographischen Kriteriums" bei Abstimmungen abgesichert.

Insgesamt laufen die wesentlichen Neuerungen des Lissabon-Vertrags also auf Straffung und Zentralisierung, die Stärkung und Erweiterung der Machtbefugnisse der zentralen EU-Instanzen hinaus. Begründet wird dies von den EU-Oberen selbst mit dem Argument, dass die EU angesichts der heutigen und künftigen "weltpolitischen Herausforderungen" mehr Effizienz und größere Handlungsfähigkeit brauche.

Die Bestimmungen des Lissabon-Vertrags gehen somit erkennbar über das hinaus, was üblicherweise das Wesen von Staatenbündnissen ausmacht. Deshalb trifft eine Einschätzung der EU als "imperialistisches Staatenbündnis" meiner Ansicht nach die Realität nicht genau genug.


Beschränkte Kompetenz und Souveränität

Das heißt allerdings nicht, dass die EU bereits ein voll ausgebildeter Bundesstaat oder eine "Europäische Föderation" wäre, wie sie einst u. a. der "grüne" Außenminister und heutige Konzernberater Fischer unter dem Titel "Vom Staatenbund zur Föderation: Gedanken über die Finalität der europäischen Integration" propagiert hat.

Zu einem voll ausgeformten Bundesstaat fehlen der EU eine Reihe von Kompetenzen. Viele ihrer Entscheidungen sind nach wie vor an die zumindest mehrheitliche, in einigen Bereichen aber auch immer noch einstimmige Zustimmung der Mitgliedstaaten gebunden. Dies allein würde allerdings noch nicht gegen eine Bewertung als Bundesstaat sprechen. Denn auch bei voll entwickelten Bundesstaaten (USA, BRD, Schweiz, Österreich usw.) gibt es eine abgestufte Kompetenzverteilung. Die Bundesländer (Bundesstaaten, Kantone o. ä.) haben "Mitentscheidungsrechte" über bundespolitische Fragen, zumeist über einen "Bundesrat" oder "Senat", und es gibt Politikbereiche, die von der Regelung durch den "Bund" ausgenommen sind, in denen die Gliedstaaten allein entscheiden.

Doch im Vergleich dazu hat die EU immer noch eine zu eingeschränkte eigene Souveränität. Sie ist hinsichtlich der Ausübung von Souveränitätsrechten vom Grad ihrer Übertragung durch die Mitgliedstaaten abhängig. Die letzte Entscheidungsbefugnis darüber liegt bei den Einzelstaaten. So hat sie zum Beispiel immer noch keine eigene Steuerhoheit. Sie kann aus eigener Machtvollkommenheit keine EU-Steuern beschließen. Allerdings wird im EU-Apparat seit langem darüber nachgedacht, das zu ändern.

In der Außen- und Militärpolitik und in einigen wenigen anderen Bereichen gilt nach wie vor die Einstimmigkeitsregel. Das heißt, alle Mitgliedstaaten müssen zustimmen (oder sich mindestens der Stimme enthalten oder an der Abstimmung nicht teilnehmen), damit eine außen- bzw. militärpolitische Entscheidung für die EU als Ganzes verwirklicht werden kann. Allerdings ist im außen- und militärpolitischen Bereich eine sogenannte "verstärkte Zusammenarbeit" einer Gruppe von Mitgliedstaaten zulässig, die über das hinausgeht, was alle gemeinsam zu beschließen bereit waren. Damit kann die eigentlich geltende Einstimmigskeitregel im Bereich der Außenpolitik praktisch umgangen und ausgehebelt werden. Dennoch hat die EU als Ganzes nur eingeschränkte außenpolitische Souveränität. Allerdings sollen gerade außen- und militärpolitische Entscheidungen in Zukunft rascher und "einfacher" gefällt werden können und die Regeln entsprechend an die "neuen globalen Herausforderungen" angepasst werden. Die im Lissabon-Vertrag vorgesehene Schaffung eines EU-eigenen "Europäischen Auswärtigen Dienstes" (EAD) zielt ebenfalls darauf ab, die außenpolitische Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten weiter einzuschränken und zu unterlaufen, um den Anspruch der EU auf eine eigenständige Weltmachtrolle "effizienter" als bisher durchsetzen zu können.

In vielen Mitgliedstaaten gibt es aber nach wie vor erhebliche Widerstände gegen die weitere Ausweitung der Machtbefugnisse der zentralen EU-Instanzen, auch in Teilen der herrschenden Klassen dieser Länder. Dieses Spannungsfeld zwischen EU-Befugnissen und nationalstaatlichen Eigeninteressen wird auch in Zukunft bestehen bleiben.


In welche Richtung geht es weiter?

Es stellt sich aber die Frage, in welche Richtung sich die institutionelle Struktur der EU in Zukunft in Theorie und Praxis - zunächst wohl vor allem in der Praxis - weiter entwickeln wird.

Es gibt eine Reihe von Faktoren sowohl auf ökonomischer wie auf politischer Ebene, die dazu führen, dass die in der EU dominierenden Wirtschaftskreise und die maßgeblichen Politiker der führenden EU-Staaten an einem weiteren Ausbau der Regulierungs- und Eingriffskompetenzen der zentralen EU-Instanzen gegenüber den Mitgliedstaaten interessiert sind. Dazu gehören u. a. die Erfahrungen der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise. Aber auch das anhaltende Interesse der den EU-Markt beherrschenden transnationalen Finanz- und Industriekonzerne an der Regulierung des EU-Binnenmarkts und der inneren Verhältnisse aller EU-Staaten entsprechend ihren Wünschen, im Interesse bestmöglicher Bedingungen für die Kapitalverwertung und die Erzielung von Maximalprofiten, drängt in diese Entwicklungsrichtung (Beseitigung "hemmender" einzelstaatlicher Sozialstandards, Umweltbestimmungen, Steuern und anderer Auflagen). Ebenso das Interesse dieser Kreise an mehr "Effizienz" der EU im internationalen Rahmen, am Ausbau ihrer Rolle als eigenständiger "global player".

Aus diesen Interessen der die EU-Entwicklung bestimmenden Kreise, der führenden Gruppen der europäischen Großbourgeoisie und ihrer Politiker, ergibt sich ein Drang in Richtung Ausbau der Regulierungskompetenzen der EU, auch gegen "unerwünschte" Entwicklungen in einzelnen Mitgliedstaaten. Die in vielen Einzelstaaten wahrnehmbare Tendenz zu einer autoritäreren Ausübung der Staatsmacht im Interesse der herrschenden Klassenkräfte findet so auch auf der EUEbene ihre Fortsetzung und Ergänzung.

Diese Tendenz kann durch "nationale" Widerstände zwar behindert, aber letztlich wohl kaum auf Dauer aufgehalten werden. Jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass die EU-Entwicklung in der nächsten Zeit auch weiter von den Interessen der in der EU vorherrschenden großen Kapitalkreise bestimmt wird. Nur eine erheblich stärkere Entwicklung von Widerstand durch große Volksbewegungen könnte daran etwas ändern.

In Bezug auf die aufgeworfene Frage, was die EU denn nun sei, ist angesichts der skizzierten Zentralisierungsinteressen der dominierenden Kreise des EU-Kapitals meiner Ansicht nach immer noch am präzisesten, was im DKP-Parteiprogramm dazu formuliert worden ist. Dort heißt es dazu: "Die wirtschaftliche und politische Dynamik drängen die EU, sich den Kern eines supranationalen Staatsapparats zu verschaffen" Das betrachtet die EU-Konstruktion nicht statisch in ihrem gegenwärtigen Zustand, sondern in einem Entwicklungsprozess, der aus Gründen, die in den Klasseninteressen der die EU dominierenden großbourgeoisen Kreise liegen, zu einem Ziel, nämlich zu einer supranationalen Staatskonstruktion hin tendiert.

Natürlich darf diese Feststellung nicht aus dem Zusammenhang mit den an gleicher Stelle getroffenen weiteren Aussagen zur EU gerissen werden. Es heißt dort: "Europa wird den Profit- und Machtinteressen des transnationalen Kapitals unterworfen, ohne dass die widerstreitenden Interessen der transnationalen und der nationalen Bourgeoisien aufgehoben werden ... Die europäische Integration bleibt ein Feld der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Kräften der Bourgeoise, vor allem aber auch des Klassenkampfs".


"Europäischer Nationalstaat"?

Verfehlt ist es in diesem Zusammenhang meiner Ansicht nach allerdings, von der EU als von einem sich herausbildenden neuen "europäischen Nationalstaat" zu sprechen.

Die Entstehung von Nationen und Nationalstaaten war historisch das Produkt der Entwicklung des Kapitalismus. Die ökonomische Grundlage dafür war die Herausbildung von über die regionale Beschränktheit hinausgehenden nationalen Märkten als Notwendigkeit zur besseren Kapitalverwertung angesichts der durch technische Entwicklungen enorm gesteigerten gesellschaftlichen Produktivkräfte.

Die EU-Entwicklung weist hierzu zwar gewisse "Parallelen" auf.Auch der Gründung der "Europäischen Union" ging die Herausbildung des "Europäischen Binnenmarktes" voraus, formalisiert mit der "Einheitlichen Europäischen Akte" vom 1.7.1987. Die EU entstand als politischer Überbau über dieser ökonomischen Basis nicht zufällig oder aus rein ideologischen Gründen infolge des Strebens nach Verwirklichung irgendeiner "europäischen Idee", sondern weil die kapitalistische Ökonomie politische Instanzen zur Regelung der Konkurrenzbedingungen auf dem entstandenen EU-Markt und zur Durchsetzung der Interessen der in diesem Markt dominierenden Finanz- und Industriekonzerne gegenüber Drittstaaten brauchte. Dennoch ist der Vergleich mit der früheren Herausbildung von kapitalistischen Nationalstaaten völlig schief. Denn die Entstehung dieser Nationalstaaten war das Produkt der historisch progressiven Phase der Entwicklung des Kapitalismus. Sie war mit der Überwindung der überlebten feudalen Produktionsweise und der ihr entsprechenden feudalen Gesellschaftsverhältnisse, mit der Beseitigung der feudalen Zersplitterung und der feudalen Machtstrukturen, mit einer Demokratisierung der Gesellschaft verbunden, wenn auch nur in den Grenzen einer "bürgerlichen Demokratie", im begrenzten Rahmen der Ablösung der feudalen Klassenherrschaft durch die Klassenherrschaft der Bourgeoisie. (Wobei sich bekanntlich als Besonderheit in Deutschland durch die verspätete historische Entwicklung und das Scheitern der Revolution von 1848/49 eine besonders reaktionäre Variante der Verschmelzung der alten Feudalkaste mit der zur Herrschaft gelangenden Bourgeoisie in Gestalt des militaristischen Obrigkeitsstaates als erste, die weitere Geschichte stark prägende Form des deutschen Nationalstaates ergab).

Die Herausbildung der EU-Staatlichkeit erfolgt jedoch in einer völlig anderen Phase der historischen Entwicklung des Kapitalismus, nämlich in seiner Spätphase, im bereits voll entwickelten, durch die Monopolbildung und die Vorherrschaft großer Monopolgruppen über die ganze übrige Wirtschaft gekennzeichneten imperialistischen Stadium und an der Schwelle eines neuen Entwicklungsabschnitts innerhalb dieses imperialistischen Stadiums des Kapitalismus, der durch einen gewaltigen Schub der Internationalisierung der kapitalistischen Produktionsweise auf der Grundlage neuentwickelter Produktivkräfte gekennzeichnet ist, die gemeinhin als "Globalisierung" bezeichnet wird. Deshalb trägt die EU-Staatlichkeit keinerlei progressive Züge; sie ist von vornherein mit allen negativen Merkmalen eines imperialistischen Staatsgebildes im Dienst der dominanten Monopolgruppen behaftet.


Integration oder Desintegration?

Natürlich handelt es sich bei dem "europäischen Integrationsprozess", der mit dem Lissabon-Vertrag vorangetrieben werden soll, nicht um einen echten Integrationsprozess im Sinne einer Angleichung der Wirtschafts- und Lebensverhältnisse innerhalb der ganzen EU auf der Grundlage der Gleichberechtigung und im Interesse der Bevölkerung. Es geht um eine "Integration" unter Bedingungen des Imperialismus, also um einen Prozess der Beherrschung der EU-Konstruktion durch die in ihr angesiedelten und von ihr aus weltweit agierenden transnationalen Finanz- und Industriekonzerne, um die Einbindung und Unterordnung der Schwächeren unter die Herrschaft der Stärkeren, um ein imperialistisches Verhältnis von Hegemonie von Führungsmächten über eine abhängige Peripherie.

Es lässt sich darüber diskutieren, ob und in wie weit heute von einer "europäischen Bourgeoisie" als einer einheitlichen herrschenden Klasse in der EU oder von einer "Europäisierung der Bourgeoisie" gesprochen werden kann. Der Nachweis, dass die Besitzverhältnisse an den hundert führenden deutschen Konzernen seit 50 Jahren fast unverändert geblieben sind und sich der Anteil ausländischer Eigentümer an den in Deutschland ansässigen Großkonzernen kaum vergrößert hat, kann nur einen Teilaspekt beleuchten.

Auch wenn dies so ist, steht es nicht im Widerspruch zu der Feststellung, dass sich vor allem in den letzten 20 Jahren seit der Formierung des EU-Binnenmarkts und der Gründung der EU die Wirtschaft der EU-Nationalstaaten erheblich stärker als früher miteinander verflochten hat. Große Konzernfusionen über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg fanden statt. Vor allem aber hat sich die Wirtschaftstätigkeit der in Deutschland ansässigen Großkonzerne und Banken und auch vieler kleinerer Unternehmen sowohl hinsichtlich der anvisierten Absatzmärkte als auch hinsichtlich der unmittelbaren materiellen Produktionsprozesse in den gesamten EURaum hinein ausgeweitet, also in diesem Sinne "europäisiert". Das gilt auch für die führenden Konzerne anderer EU-Staaten. Die Fusions- und Verlagerungsprozesse hatten eine "Europäisierung" von Produktionsund Absatzketten zur Folge. Das Gegeneinander-in-Konkurrenz-Versetzen der verschiedenen Standorte und Belegschaften erleichterte in allen EU-Staaten den Druck auf Löhne, Sozialleistungen, Arbeitszeiten, arbeitsrechtliche und andere Schutzvorschriften und damit das Ingangsetzen einer Abwärtsspirale des Sozialdumpings. Diese Entwicklung wurde u. a. durch die Einführung der "vier Grundfreiheiten" der EU (freier Waren- und Dienstleistungsverkehr, freier Kapitalverkehr und freier Personenverkehr (lies: billige Arbeitskräfte) enorm gefördert.

Die Konkurrenz zwischen den im EUMarkt dominierenden Konzernen und Monopolgruppen verschwindet damit nicht, aber die ökonomisch enger miteinander verflochtenen Kreise der Finanzoligarchie und des transnational agierenden Großkapitals der verschiedenen EU-Staaten entwickeln dennoch stärker als früher zugleich gewisse gemeinsame Interessen. Das ist vor allem das Interesse an für die Profitmaximierung günstigen einheitlichen Regelungen der wirtschaftsund sozialpolitischen Verhältnisse in allen EU-Staaten und das Interesse an der Nutzung der EU als Interessenvertretung im globalen Konkurrenzkampf um Absatzmärkte, Rohstoffquellen, und die Beherrschung von internationalen Kommunikations- und Transportwegen.

Übrigens findet dies seinen Ausdruck auch in der Bildung gemeinsamer Gremien auf EU-Ebene wie dem "Europäischen Runden Tisch der Industriellen" ("European Round Table of Industrialists" - ERT) oder dem europäischen Unternehmerverband "Business Europe". Diese Gremien können durchaus als eine Verkörperung einer real existierenden "europäischen Bourgeoisie" betrachtet werden.

Es stimmt, dass der von den führenden Kreisen in Wirtschaft und Politik der EUStaaten gewollte "Integrationsprozess" durch Gegenfaktoren behindert wird. Dazu gehören die nach wie vor vorhandene und sich sogar verstärkende Unterschiedlichkeit der Entwicklung des Kapitalismus in den einzelnen EU-Staaten, die unterschiedlichen Konkurrenzinteressen der in den einzelnen Staaten jeweils dominierenden Wirtschaftsgruppen, historische Besonderheiten, Mentalitäten und Gewohnheiten, vor allem aber auch der unterschiedliche Grad des Widerstands der Arbeiterklasse, der Gewerkschaften und der übrigen vom Monopolkapitals ausgebeuteten Gesellschaftsschichten bis zu Gruppen der jeweiligen nationalen Bourgeoisien. Die sich daraus ergebenden Streitpunkte innerhalb der herrschenden EU-Kreise können in der kommenden Entwicklungsphase zunehmen. Eine Verstärkung der sozialen Gegensätze ist absehbar. Im Gefolge der Finanz- und Wirtschaftskrise stehen manche EU-Staaten am Rand des Staatsbankrotts. Die EU-Zentralinstanzen drängen aber bereits auf die Einstellung aller weiteren staatlichen Konjunkturmaßnahmen und die uneingeschränkte Rückkehr zum neoliberalen Grundansatz des EU-"Stabilitätspakts". Das wird die Regierungen aller EU-Staaten spätestens ab 2011 zu rigoroser Sparpolitik zwingen, die im Kern die verstärkte Abwälzung der Krisenlasten auf die Massen der Bevölkerung bedeutet. Das kann zur Verstärkung sozialer Konflikte und zugleich auch von Interessengegensätzen zwischen den einzelnen EU-Staaten und den Nationalstaaten und den EU-Zentralinstanzen führen. Hieraus können sich zu den von den entscheidenden Kapitalkreisen gewollten EU-Integrationsprozessen gegenläufige Desintegrationstendenzen ergeben.

Ob dies allerdings zu größeren Klassenkämpfen und "sozialen Unruhen" führen wird, wie einige EU-Politiker bereits befürchtet haben, ist zumindest noch eine offene Frage. Das hängt nicht allein von der Verschärfung der objektiven Widersprüche, sondern vor allem von der Entwicklung des "subjektiven Faktors", von Bewusstseinsprozessen in der Masse der Betroffenen, von der Fähigkeit linker, sozialistischer und kommunistischer Kräfte zur Beeinflussung dieser Prozesse ab.

Es ergibt sich auch die Frage, zu welchen Ergebnissen solche gegenläufigen Tendenzen unter den gegebenen Bedingungen führen können. Ist es angesichts der engen Verflechtung der Ökonomie der EU-Staaten überhaupt noch denkbar, dass sich einzelne EUStaaten den Integrationsprozessen entziehen oder sich gänzlich aus ihnen herauslösen können? Die Regelung von Interessenunterschieden erfolgt unter imperialistischen Bedingungen nicht nach "demokratischen Spielregeln" unter Gleichberechtigten, sondern durch ökonomischen und politischen Druck und Zwang entsprechend den jeweiligen Stärkeverhältnissen. Die Einzelstaaten, vor allem die kleineren, sind in vielerlei Hinsicht von den imperialistischen Hauptmächten abhängig und in ein dichtes Netzwerk solcher Abhängigkeiten eingebunden. Sie sind ökonomisch erpressbar. Beispiele wie Norwegen oder auch die Schweiz zeigen zwar, dass eine kapitalistische Existenz auch außerhalb der EU möglich ist - aber auch diese Staaten sind durch viele Abmachungen in die EU-Regelungen eingebunden. Ein Ausscheiden einzelner Staaten aus der EU wäre also wohl nicht gänzlich unmöglich, aber sicher mit enormen wirtschaftspolitischen Benachteiligungen verbunden. Ganz abgesehen von eventuellen politischen Racheakten oder gar militärischen "Sicherungsaktionen" der EU-Zentralmächte gegen solche "Abweichler".

Umso größer wäre diese Bedrohung aber, wenn die "Lösung aus der EU" mit einer grundlegenden Änderung der innenpolitischen Machtverhältnisse und in der weiteren Folge mit einer Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung einer antikapitalistischen und sozialistischen Entwicklung verbunden wäre.Wie würden die EU und mit ihr die NATO auf eine solche "Linkswende" in einzelnen Staaten reagieren? Es ist nicht anzunehmen, dass sie sich einfach damit abfinden würden.

Daraus ergibt sich meines Erachtens die Schlussfolgerung, dass vor allem für die Kernstaaten der EU ein isoliertes Ausscheiden kaum als realistisch angesehen werden kann. Wahrscheinlicher und vor allem wünschenswert ist es, dass im Verlauf längerer kämpferischer Auseinandersetzungen durch große Massenbewegungen in mehreren EU-Staaten gleichzeitig die notwendige grundlegende Änderung der Kräfte- und Machtverhältnisse durchgesetzt wird, die für die Durchsetzung einer Alternative zur EU Voraussetzung ist. Die Möglichkeit eines isolierten Überlebens eines vereinzelten "Ausbruchs" wäre unter den gegebenen weltpolitischen Bedingungen ziemlich gering. Ein "Ausbruch" mehrerer Staaten gleichzeitig wäre auf jeden Fall erfolgversprechender. Danach aber würde sich rasch die Notwendigkeit einer engen ökonomischen und politischen Zusammenarbeit zwischen diesen sich "nach links" wendenden europäischen Staaten und auch der Herausbildung entsprechender Strukturen auf übernationaler Ebene ergeben. Das zeigt auch das Beispiel der lateinamerikanischen Linksentwicklungen. Natürlich könnte dafür nicht der heutige EU-Vertrag die rechtliche Grundlage bilden. Ein neuer Inhalt und eine neue Struktur der Zusammenarbeit auf gleichberechtigter Grundlage erfordert auch eine neue, von völlig anderen Prinzipien bestimmte Vertragsgrundlage. Aber es ginge auch dann nicht ohne eine entsprechende Struktur auf "supranationaler" Ebene - wenn man so will also einer "Europäischen Union" mit völlig anderem politischen Inhalt und auf anderer gesellschaftspolitischer Grundlage.

Der Kernpunkt dieser sicher hypothetischen Überlegungen ist aber die Erkenntnis, dass eine grundlegende Veränderung der heutigen politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in den Kernstaaten der EU die Voraussetzung für jede alternative Perspektive zur EU ist. Die Entwicklung realer Bewegungen und Kämpfe, die zu einer solchen Veränderung der Kräfteverhältnisse führen könnten, und deren Vernetzung über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg ist also die zentrale Frage jeder politischen Alternative und deshalb die wichtigste gemeinsame Aufgabe für alle, die an eine alternative Entwicklung heranführen und sie voranbringen wollen.

Deshalb heißt es meiner Ansicht nach im DKP-Programm nach wie vor zu Recht: "Die weitere Entwicklung der Europäischen Union wird davon abhängen, inwieweit es der gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterbewegung, der globalisierungskritischen Bewegung, den demokratischen Kräften gelingt, im gemeinsamen Handeln die Beherrschung der EU-Institutionen durch das Monopolkapital einzuschränken, diese Institutionen zu demokratisieren und selbst Einfluss auf deren Entscheidungen zu gewinnen."

Es gibt ein breites Spektrum von Kräften, die sich mit der im Lissabon-Vertrag verankerten EU-Entwicklung und ihren Folgen nicht abfinden wollen und können, weil ihre elementaren Lebensinteressen verletzt werden. Dieses Spektrum reicht von Gewerkschaften, Linkssozialisten, Sozialdemokraten und globalisierungskritischen, sozialen, ökologischen und antiimperialistischen Bewegungen bis zu christlichen Kreisen. Ihr politischer Wille kristallisiert sich in mehr oder weniger fest ausgeprägten Vorstellungen von einem "anderen Europa" oder einem "sozialen Europa". Im gemeinsamen Handeln mit allen diesen Kräften gegen weiteren Sozial- und Demokratieabbau, gegen die weitere Militarisierung der EU, für soziale Verbesserungen und demokratische Reformen sowohl innerhalb der einzelnen Nationalstaaten wie auf der Ebene der EU liegt der Schlüssel, um eine tiefergehende Veränderung der Kräfteverhältnisse zu erreichen.


Georg Polikeit, Wuppertal, Journalist


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-10, 48. Jahrgang, S. 60-67
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2010