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MARXISTISCHE BLÄTTER/555: Die Erfindung der Mittelschicht


Marxistische Blätter Heft 4-13

Die Erfindung der Mittelschicht

Von Georg Fülberth



Klassen an sich
Bekannt ist die Unterscheidung zwischen einer Klasse als ausschließlich sozioökonomisch definierter Menschengruppe und einer "Klasse für sich selbst" (MEW 4: 180/181), bei Marx bezogen auf das Proletariat, grundsätzlich aber auf die Insassen des Kapitalismus insgesamt anwendbar. Dabei ergeben sich zunächst als die beiden Hauptklassen die lohn- oder gehaltsabhängigen Produzenten des Mehrwerts und dessen Aneigner, die Unternehmer. Dazwischen gab (und gibt) es noch die selbständigen kleinen Warenproduzenten und Dienstleister, deren Untergang von Marx vorausgesagt wurde. Die Staatsbeschäftigten werden aus Abzügen von Mehrwert oder Lohn bezahlt.

Diese Sortierung ist insofern klassisch, als sie auch nach tief greifenden Veränderungen des Kapitalismus noch anwendbar ist. Eine andere Frage ist es, ob sie eine operative politische Bedeutung hat, und falls ja: welche.


Klassen für sich selbst
Für die Kapitalistenklasse ist sie positiv zu beantworten. Die Aneignung von Mehrwert ist in denen unmittelbarem Interesse. Ein Unternehmer, der Produktions- und Exploitationsprozesse organisiert, mehrt seinen eigenen Reichtum und wird nichts tun, was diesem Interesse zuwider läuft. Gleiches gilt für seine Leitenden Angestellten, die Manager. Sie sind den Eigentümern verpflichtet, in der Regel Aktionären, darunter ausschlaggebend institutionellen Anlegern. Ökonomisches Interesse, Selbstwahrnehmung und praktisches Handeln fallen bei diesen Menschengruppen, für welche die Sammelbezeichnung "Bourgeoisie" unverändert angebracht ist, zusammen.

Anders steht es mit der Mehrzahl der Lohn- und Gehaltsabhängigen. (Die Minderheit in der Gruppe der letzteren, die Kapitalfunktionen entweder direkt - als Leitende Angestellte - oder indirekt - als hohe Staatsfunktionäre - wahrnehmen, behandeln wir im Folgenden nicht.) Wer seine Arbeitskraft gegen Lohn verkauft, hat sein (oder ihr) Auskommen nur, wenn dabei Mehrwert erzeugt oder (bei unproduktiven Tätigkeiten) dessen Erzeugung durch Dienstleistungen ermöglicht wird. Voraussetzung hierfür ist, dass sich überhaupt Abnehmer dieser Arbeitskraft finden. Die linkskeynesianische Ökonomin Joan Robinson hat - hier allerdings bezogen auf die in Unterentwicklung gehaltenen Länder, aber auf die Situation der abhängigen Arbeit in den kapitalistischen Zentren erweiterbar - einmal gesagt, es gebe Schlimmeres, als ausgebeutet zu werden, nämlich nicht ausgebeutet zu werden = arbeitslos zu sein. Daraus ergibt sich, dass diejenigen, die nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft, ein Interesse an ihrer Ausbeutung durch die Kapitalisten haben.

Dies ergibt sich aus Marx' logisch-ökonomischer Analyse des Kapitals, nicht allerdings aus dessen historischen Entwicklungsbedingungen. Lohnabhängige haben nicht nur ein Interesse daran, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sondern dies muss zu einem Preis geschehen, der ihre ständige Erneuerung (und auch die Produktion und Reproduktion von Nachwuchs) garantiert. Ein Instrument hierfür ist die Kartellierung der Arbeitskraft in Gewerkschaften. Marx hatte noch mehr damit vor: "Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d. h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems." (MEW 16: 152) Hier ist das Problem des Trade-Unionismus angesprochen, der - wie dies Lenin später herausarbeitete - durch revolutionäres Klassenbewusstsein, das nur von außen in das Proletariat hineingetragen werden könne, zu überwinden sei. Das ist eine lineare Betrachtungsweise, in der die Möglichkeit übersehen wird, dass Lagebewusstsein von Lohnabhängigen hinter die Bereitschaft und Fähigkeit zur Kartellierung der Arbeitskraft wieder zurückfallen kann. In Zeiten langer Arbeitslosigkeit ist dies unverkennbar. Hinzu kommt das Problem der Fragmentierung: Wenn Gewerkschaften in exportorientierten Branchen sich mit dem Kapital in Wettbewerbskorporatismus arrangieren, können sie damit einverstanden sein, dass - unter der Voraussetzung, dass der Reallohn steigt oder wenigstens stabil bleibt - die Entwicklung des Arbeitseinkommens hinter derjenigen der Produktivität zurückbleibt und Steuern sowie Sozialabgaben (= "Lohnnebenkosten") niedrig sind. Das geht zu Lasten ihrer Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern, wo die Wirtschaft niederkonkurriert wird, aber auch der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst, wenn dieser gleichzeitig ausgehungert wird. In der Bundesrepublik ergibt sich aus der letzteren Tatsache ein Interessengegensatz zwischen ver.di einerseits und IG Metall und IG Bergbau, Chemie, Energie andererseits. Die Mitgliederzahlen entwickeln sich unterschiedlich, bei der IGM positiv, bei der Dienstleistungsgewerkschaft negativ. Es gibt ein realistisches Kosten-Nutzen-Kalkül, das den Mitgliedsbeitrag gegen den Vorteil, den man durch Zugehörigkeit zu einer Organisation hat oder nicht hat, abwägt. Lenin käme heute vielleicht zu dem Ergebnis, es müsse erst einmal wieder trade-unionistisches Bewusstsein hergestellt werden, und stieße anschließend auf das Problem, dass dieses - wie das Beispiel zeigt - keineswegs einheitlich sein muss.

Interessenwahrnehmung von Lohn- und Gehaltsabhängigen kann, um die Komplikationen in unseren Überlegungen noch zu vergrößern, auch zu einem Absatzproblem für die Kapitalseite werden. Lohn bedeutet Nachfrage nach Gütern, mit deren Herstellung Mehrwert erzeugt und durch deren Verkauf er realisiert wird. Sinken die Arbeitseinkommen, schwächelt der Binnenmarkt. Kann dies durch Export kompensiert werden, ist das ökonomische Problem gelöst, allerdings nur für die Branchen, die vor allem auswärtige Märkte bedienen. Allerdings kann ein neues entstehen: wachsende Ungleichheit im Innern, nicht nur zwischen Kapital und Arbeit, sondern auch innerhalb der Lohnabhängigen selbst. Dies scheint zur Zeit etwas Beunruhigung auch in Teilen der Bourgeoisie auszulösen, und man fragt sich: warum?


Ein Konstrukt
Ungleichheit ist zurzeit durchaus ein Thema in der öffentlichen Diskussion, Zentral steht dabei das so genannte Schrumpfen der Mittelschicht. Hier orientiert man sich meist an der folgenden, auf OECD-Zahlen beruhenden Tabelle:

Tabelle:
Nettoäquivalenzeinkommen laut OECD pro Jahr in Euro in Deutschland
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Schicht_(Soziologie)


Nettoäquivalenzeinkommen laut OECD pro Jahr in Euro in Deutschland
 Personen
Faktor
70 %
Median
150 %
 1 Person
 1 Person + 1 Kind < 14 Jahre
 2 Personen ≥ 14 Jahre
 2 Personen ≥ 14 Jahre + 1 Kind < 14 Jahre
 2 Personen ≥ 14 Jahre + 2 Kinder < 14 Jahre
1,0
1,3
1,5
1,8
2,1
11.200
14.569
16.800
20.160
23.520
16.000
20.800
24.000
28.800
33.600
24.000
31.200
36.000
43.200
50.400


Hier sind die Einkommen einer Menschengruppe dargestellt, die als "Mittelschicht" dargestellt wird. Was darüber ist, wäre dann Oberschicht und müsste noch vielfältig untergliedert werden, soll nicht ein Milliardär auf eine Stufe gestellt werden mit einem Facharbeiter in einem Metall- oder Chemieunternehmen, das für den Export produziert.

Zur hier dargestellten Mittelschicht gehören u. a. Krankenschwestern und die Berufstätigen gleicher Einkommenshöhe. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt, ohne auf Transferleistungen angewiesen zu sein, aber auch ohne Vermögen einsammeln zu können, von der Aneignung von Mehrwert selbstverständlich ganz zu schweigen.

Von 2000 bis 2006 ging der Anteil der Mittelschicht - Ergebnis der Schröder-Jahre - von 62 auf 54 Prozent der Bevölkerung zurück. Darüber ist die Oberschicht (20 Prozent), darunter die Unterschicht (ca. 25 Prozent). Das fehlende eine Prozent ergibt sich aus Stellen hinter dem Komma bei Ober-, Mittel- und Unterschicht.

Ein Konstrukt ist diese Tabelle aus mehreren Gründen:

  • In ihr sind sehr verschiedene Einkommensarten zusammenfasst, Selbständige und abhängig Arbeitende.
  • Sie bildet biografische Veränderungen nicht ab. Wer zum unteren Teil der Mittelschicht gehört, wird zum Beispiel mit Erreichung der Altersgrenze in die Unterschicht absinken.
  • Über die Stellung der Einzelnen in Produktion, Zirkulation und Verwaltung wird nichts gesagt. Indem die Mittelschicht ausschließlich anhand des Einkommens dargestellt wird, ist sie fast eine Erfindung, und zwar hervorgebracht durch die Besorgnisse eines Teils der Oberschicht. Das Schrumpfen der Gruppe unter ihr - und zwar als Abstieg - erscheint unter zwei Aspekten als negativ:
    Erstens: Dadurch sinkt die Nachfrage. Der Realisierung von Mehrwert auf dem Binnenmarkt sind so Grenzen gesetzt.
    Zweitens: Schon aufgrund ihrer zahlenmäßigen Größe - immer noch eine (wenngleich nur noch knappe) Mehrheit - gilt diese Schicht als gesellschafts- und staatstragend. Durch ihre materielle Lage sind dort Eigenschaften vertreten, deren Wegfallen den Zusammenhalt der Gesellschaft schwächen können: die Notwendigkeit und damit auch Bereitschaft zum Erwerb des Lebensunterhalts durch Arbeit und die materiell erzwungene und dann wohl auch mental verinnerlichte Hinnahme des Rahmens, in dem dies geschieht.

Darüber hinaus allerdings werden dieser Schicht auch Haltungen zugeschrieben, die sie nicht von selbst aus sich hervorgebracht hat. Die Journalistin Ulrike Herrmann hat diese 2010 zusammengestellt und als "Selbstbetrug" bezeichnet, nämlich:

  • Die Mittelschichtler nähmen die tatsächliche Hierarchisierung der Gesellschaft nicht wahr und säßen der Legende, die Bundesrepublik sei eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft", auf.
  • Sie gehen davon aus, in die Oberschicht aufsteigen zu können, und verhalten sich danach. Dies misslingt in der Regel.
  • Die Unterschicht wird als betrügerisch, schwarzarbeitend und in Wirklichkeit gut ausgestattet angesehen und verachtet. Komplementär zur Hoffnung auf den Aufstieg in die Oberschicht verhält sich eine - aufgrund der neueren Entwicklung ja nicht völlig unrealistische - Abstiegsangst, welche die Abwehrhaltung gegenüber der Unterschicht noch steigert.[1]


Die Intelligenz und die Selbstvertretung der Bourgeoisie

Zweifellos sind diese Einsichten in dem hier als Mittelschicht bezeichneten Segment verbreitet. Dafür gibt es sozialpsychologische Gründe. Aber die referierten Auffassungen sind nicht allein hier verbreitet, sondern auch in der "Oberschicht", und dort werden sie zumeist formuliert und medial propagiert. Ideologieproduzenten sind Mitglieder der - in diesem Fall: im Vergleich zu den wirklich Reichen und Superreichen wohl eher unteren - Oberschicht, und zwar Intellektuelle. Letztere wuchsen nach dem zweiten Weltkrieg zu einer Massenschicht heran. Was sie mit der Mittelschicht verbindet, sind Angst vor dem Abstieg und die Ablehnung, ja oft Hass gegenüber der Unterschicht.

Ein besonders instruktiver Text über diese Menschengruppe ist das schon ältere Buch "Angst vor dem Absturz" der US-Amerikanerin Barbara Ehrenreich.[2] Es ist eine Nachkriegsgeschichte vor allem der linken Teile der Intelligenz in den Vereinigten Staaten, ihrer ideologischen Wandlungen von linksliberal zu neokonservativ, Verunsicherung und daraus resultierender Aggressivität. Der Brite Owen Jones schildert in seinem Buch "Prolls" eine "Dämonisierung der Arbeiterklasse"[3] durch eine "middle class", die aber nicht identisch ist mit der Menschengruppe, die Ehrenreich ähnlich benennt. Hier ist es die klassische Bourgeoisie, die das Bild von der nichtsnutzigen Unterklasse zeichnet. Der Fehler Ulrike Herrmanns besteht darin, dass sie die für diese Vorurteile empfängliche deutsche Mittelschicht zugleich als deren primäre Urheberin versieht.

Die Bourgeoisie hat keine Schwierigkeiten damit, ihre Interessen zu erkennen und zu vertreten. Sie ist nicht identisch mit der gesamten Oberschicht. Deren unteres Segment aber leistet wertvolle ideologische Arbeit zu ihrer ideologischen Rechtfertigung und trägt zu deren souveräner Selbststeuerung als "Klasse für sich selbst" bei.


Selbstvertretung der Unterklassen?
Unterschicht und so genannte Mittelschicht haben einiges gemeinsam. Zum Beispiel wird über sie grundsätzlich nur von Mitgliedern der Oberschicht geredet, während ihnen selbst die Mittel zu eigener öffentlicher Artikulation fehlen. Ulrike Herrmann fordert die Mittelschicht einleuchtend dazu auf, sich von ihrer Fixierung an die Oberschicht zu lösen und mehr Selbstbewusstsein zu zeigen. Allerdings dürfte dies noch zu wenig sein. Unter- und Mittelschicht plus die Facharbeiter, die den unteren Rand der Oberschicht ausmachen, sind zusammengenommen nichts anderes als die Arbeiterklasse: aufgrund ihrer Stellung in Produktion und Distribution (wozu eben auch Arbeitslosigkeit gehört), ihrer Trennung von den Produktionsmitteln und damit auch durch die für sie in ihrer Mehrheit unüberwindbare Grenze, die sie von der Oberschicht trennt.

Wie kann diese "Klasse gegenüber dem Kapital" zur Klasse für sich werden? Man wird zunächst an die Gewerkschaften denken und zugleich angesichts deren Segmentierung daran zweifeln, ob sie diese Aufgabe wahrnehmen können oder überhaupt alle wollen.

Hier wäre zusätzlich wieder über die Möglichkeiten einer Partei nachzudenken. Welcher? Das ist eine Frage, über die weiter und konkret gestritten werden muss.



Literatur

[1] Ulrike Herrmann: Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht. München/Zürich 2012.

[2] Barbara Ehrenreich: Angst vor dem Absturz. Das Dilemma der Mittelklasse. München 1992.

[3] Owen Jones: Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse. Mainz 2012.

*

Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-13, 51. Jahrgang, S. 52-57
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2013