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MARXISTISCHE BLÄTTER/599: Zinskritik - eine Sackgasse der Kapitalismuskritik?


Marxistische Blätter Heft 4-15

Zinskritik - eine Sackgasse der Kapitalismuskritik?
Zur Bestimmung von Geld und Zins bei Gesell und Marx

Von Stefan Leibold


Geld bei Silvio Gesell: Vom Beherrscher zum Diener der Märkte

1891 veröffentlichte der deutsch-argentinische Kaufmann Silvio Gesell (1862-1930) in Buenos Aires seine erste Broschüre "Die Reformation im Münzwesen als Brücke zum sozialen Staat". Angesichts der Wirtschaftskrise im damaligen Argentinien kam er zu seiner Grundthese, dass die Ausbeutung der menschlichen Arbeit ihre Wurzel nicht im Privatbesitz an Produktionsmitteln habe, sondern in strukturellen Fehlern des Geldwesens. Seine Ausgangsfrage lautete: Wie lässt sich die Eigenschaft des Geldes als wucherndes Machtmittel überwinden, ohne es als neutrales Tauschmittel zu beseitigen? Die Macht des Geldes über die Märkte führte er auf zwei Ursachen zurück: Geld ist anders als Arbeitskraft oder verderbliche Güter hortbar. Zweitens ist es viel flüssiger als Waren und Dienstleistungen. Es ist wie der Joker im Kartenspiel zu jeder Zeit und an jedem Ort einsetzbar. Diese beiden Eigenschaften verleihen dem Geld bzw. besonders den Besitzern großer Summen ein besonderes Privileg: Sie können ihr Geld aus dem Wirtschaftskreislauf nehmen und/oder einen Zins als besondere Prämie dafür verlangen, dass sie auf die spekulative Kassenhaltung verzichten und das Geld in den Wirtschaftskreislauf weitergeben. Dabei muss es nicht zur tatsächlichen Hortung kommen, sondern es genügt die Möglichkeit von Kreislaufunterbrechungen, um den Zins zu erhalten. So erhält die Rentabilität, die Orientierung am Zins den Vorrang und nicht die Bedürfnisse der Menschen. Das zinstragende Geld bewirkt außerdem eine nicht leistungsgebundene, ungerechte Einkommensverteilung, welche zu einer Konzentration von Geld- und Sachkapital und damit zu einer Monopolisierung der Wirtschaft führt. Da die Geldbesitzer Herren über Bewegung oder Stillstand des Geldes sind, kann das Geld nicht durch den sozialen Organismus fließen wie das Blut durch den menschlichen Körper. Deshalb sind eine gesellschaftliche Kontrolle des Geldumlaufs und eine richtige Dosierung der Geldmenge nicht möglich, was zu Deflation oder Inflation führen kann. Werden größere Geldsummen wegen sinkender Zinsen von den Märkten zurückgezogen, ergeben sich Absatzstockungen und Arbeitslosigkeit.

Wie lässt sich das Geld entmachten? Gesell plädierte dafür, dass die Kassenhaltung des Geldes mit Kosten verbunden wird, welche die Vorteile der Hortbarkeit und Liquidität neutralisieren. Wenn das Geld mit einer Gebühr für Kassenhaltung belegt wird, so Gesell, verliert es seine Überlegenheit über die Märkte und erfüllt nur noch die dienende Funktion als Tauschmittel. Ohne Spekulation kann man die Geldmenge so an das Gütervolumen anpassen, dass die Kaufkraft der Wahrung über lange Sicht genauso stabil wird wie die Maße und Gewichte. In diesem Sinne spricht Gesell von "rostenden Banknoten" als Mittel zu einer "organischen Reform des Geldwesens". Konkret schlägt er vor, dass alle umlaufenden Geldscheine (und liquiden Bankguthaben) in der Größenordnung von ca. 5 % jährlich automatisch einer Entwertung unterliegen ("Schwundgeld") Sie behalten ihren Nennwert nur, wenn sie periodisch mit einer entsprechenden Wertmarke beklebt oder gegen Gebühr abgestempelt werden. Alles Geld, das im Bankensystem als Spargeld längerfristig deponiert wird und als Basis für zinslose Kredite dient, soll vom "Rost" oder "Schwund" des umlaufenden Geldes automatisch verschont bleiben.

In seinem 1916 erschienenen Werk "Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld" legte Gesell dar, wie sich durch eine störungsfreie Geldzirkulation Kapitalangebot und -nachfrage ausgleichen, so dass das Zinsniveau unter seine bisherige Untergrenze von 3 % absinken kann. Der "Urzins", der Tribut der Menschen an die Macht des Geldes, verschwindet aus dem Zins, welcher nur noch aus der Risikoprämie und der Bankvermittlungsgebühr besteht. Dieser "Gleichgewichtszins" sorgt für eine dezentrale Lenkung der Ersparnisse in bedarfsgerechte Investitionen. Das vom Urzins befreite "Freigeld" kann keinen Einfluss auf Art und Umfang der Produktion mehr ausüben. Dadurch, dass die Arbeitenden jetzt ihren vollen Arbeitsertrag erhalten, können sie immer stärker lohnabhängige Beschäftigungsverhältnisse aufgeben und sich in privaten und genossenschaftlichen Betriebsformen selbstständig machen.

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erweiterte Gesell seine Vorstellungen um eine Reform des Bodenrechts. Der Boden sollte gegen eine Entschädigung für die Besitzer in die Hände des Staates überführt und zur privaten Nutzung an Meistbietende verpachtet werden. Solange der Boden eine private Handelsware und ein Spekulationsobjekt bleibe, werde die organische Verbindung des Menschen mit der Erde gestört. Die Höhe der Pachteinnahmen hängt allerdings von der Bevölkerungsdichte ab, letztlich von der Bereitschaft der Frauen, Kinder zu gebären und zu erziehen. Deshalb wollte Gesell die Pachteinnahmen an die Mütter als Entgelt für Erziehungsleistungen gestaffelt nach der Zahl ihrer Kinder auszahlen. Die Mütter sollten dadurch aus der ökonomischen Abhängigkeit von den Männern befreit werden. Das Verhältnis der Geschlechter sollte dadurch auf die Grundlage einer von Machtverhältnissen freien Liebe gestellt werden. Der vom Kapitalismus körperlich, seelisch und geistig krank gemachte Mensch sollte durch die natürliche freie Wettbewerbsordnung, durch "Freiland" und "Freigeld" allmählich wieder gesund werden und zu einer neuen Kulturblüte aufsteigen ...

Im weltweiten Maßstab trat Gesell für einen offenen Weltmarkt ohne Monopole, Zollgrenzen, Handelsprotektionismus und koloniale Eroberungen ein. Er wollte eine "Internationale Valuta Assoziation" einrichten, die ein über allen Landeswährungen stehendes neutrales Weltgeld ausgibt und so verwaltet, dass es zum Ausgleich freier Welthandelsbeziehungen kommt.

Gesell schließt an die Überlegungen des französischen Sozialreformers Pierre Joseph Proudhon (1809-1865) an. Er will die von ihm als "natürlich" verstandene marktwirtschaftliche Ordnung von den "kapitalistischen Auswüchsen" befreien und postuliert daher eine "Marktwirtschaft ohne Kapitalismus".

Die Ableitung des Zinses aus dem Charakter der kapitalistischen Ordnung bei Karl Marx

Die Entstehung von Kaufmannskapital: Zunächst besorgt jedes Einkaufskapital nicht nur die Produktion der Waren, sondern auch deren Verkauf. D.h., der Kapitalist muss sich um die Kosten für Transport, Lagerung, Versand, Bewerbung, Abrechnung usw. selbst kümmern, ebenso um ständiges zur Verfügung Halten von Geld als Zahlungsmittel. Diese für den Verkauf der Waren notwendigen Operationen sind nicht wertproduzierend, sie erhöhen den Wert der Waren nicht, es sei denn, sie sind unabdingbare Voraussetzung des Gebrauchswerts der Ware wie z. B. die Arbeit für die Lagerung von Whisky. Die Arbeit, die nötig ist, um den Zahlungsverkehr zu bewerkstelligen, ist ebenfalls notwendig, aber nicht wertschaffend. Im Zuge der Arbeitsteilung zwischen den Kapitalen werden Transport, Lagerung etc. von spezialisiertem Kapital übernommen, dem "Warenhandlungskapital". Alle Zahlungsoperationen übernimmt das "Geldhandlungskapital". Die Funktionen des Kapitals, die der Zirkulationssphäre angehören, nehmen also die selbstständige Form des "Kaufmannskapitals" an. Wie verwertet sich dieses? Es muss den gesellschaftlichen Durchschnittsprofit abwerfen, da sonst kein Kapital in diesen Zweig investierte. Der Profit des Kaufmannskapitals wird also aus einem kleinen Teil des Profits des produzierenden Kapitals bestritten.

Der Zins: Der Zins wird erst im dritten Band des "Kapital" eingeführt, in dem es um den Gesamtprozess der kapitalistischen Reproduktion geht. Die Trennung der Kapitalisten in Geldkapitalisten und industrielle Kapitalisten schafft nach Marx erst den Zins bzw. verwandelt einen Teil des Profits in Zins. Geld befähigt den Kapitalisten, ein bestimmtes Quantum unbezahlter Arbeit, Mehrwert und Mehrprodukt, aus den Arbeitern herauszuziehen und sich anzueignen. In dieser Eigenschaft als Mittel zur Produktion des Profits, wird es eine Ware. Ein Beispiel:

"Gesetzt, die jährliche Durchschnittsprofitrate sei 20 %. Eine Maschine im Wert von 100 Pfund St. würde dann ... einen Profit von 20 Pfund St. abwerfen. Ein Mann also, der 100 Pfund St. zur Verfügung hat, hält in seiner Hand die Macht aus 100 Pfund St. 120 zu machen oder einen Profit von 20 Pfund St. zu produzieren. Überlässt dieser Mann für ein Jahr die 100 Pfund St. einem anderen, der sie wirklich als Kapital anwendet, so gibt er ihm die Macht, 20 Pfund St. Profit zu produzieren ... Wenn dieser Mann dem Eigner der 100 Pfund St. am Jahresschluss vielleicht 5 Pfund St. zahlt, d. h. einen Teil des produzierten Profits, so zahlt er damit den Gebrauchswert der 100 Pfund St. ... 20 Pfund St. zu produzieren. Der Teil des Profits, den er ihm zahlt, heißt Zins, was also nichts als ein besondrer Name, eine besondre Rubrik für den Teil des Profits, den das fungierende Kapital, statt in die eigene Tasche zu stecken, an den Eigner des Kapitals wegzuzahlen hat" (MEW Bd. 25, 351) Die Anzahl der Geldkapitalisten muss klein bleiben, weil sonst das Geldkapital stark entwertet würde und die Zinsrate stark fallen würde. Weil sie von ihren Zinsen nicht mehr leben könnten, müssten sich viele wieder in industrielle Kapitalisten verwandeln. Die Bewegung, die das Geld vollzieht, lässt sich als G-G-W-G'-G' beschreiben: Geld wird als Schatz in der Hand des Eigners zu Geld als potentiellem Kapital in der Hand des Leihers. Danach verwertet sich das Geld als Kapital entsprechend der Formel G-W-G'. Als G' fließt es zurück zum Eigentümer. Das letzte G' ist ein Teil des vorherigen, nämlich der Zins.

Die Zinsrate: Der Zins kann höchstens gleich dem Profit sein, da sonst der Leiher kein Interesse hat, als Kapitalist tätig zu sein. Er kann andererseits nicht 0 sein, da sonst der Eigner kein Bedürfnis verspürt, sein Geld zu verleihen. Die Höhe der Zinsrate liegt also zwischen 0 und 100 % des Profits. Die Durchschnittsprofitrate bildet dabei die absolute Obergrenze des Zinses. Die Höhe des Zinses wird durch die Konkurrenz auf dem Markt festgelegt.

Für Marx ist der Zins kein Machtmittel der Geldkapitalisten, sondern als Teil des Profits gleichzeitig die Voraussetzung seiner Realisierung. Er lässt sich vom Gesamtprozess kapitalistischer Mehrwertproduktion nicht ablösen. Die Forderung, den Zins abzuschaffen, ist in der Sicht von Marx eine Aufforderung an die Kapitalisten, ihre notwendige Arbeitsteilung aufzugeben. ...

Systematische Kritik am freiwirtschaftlichen Ansatz aus marxistischer Sicht

Der Gesamtentwurf von Marx erscheint mir erheblich plausibler als der von Gesell. Zum Abschluss soll eine grundsätzliche Kritik des Gesellschen Ansatzes auf mehreren Ebenen erfolgen.

a) Einschätzung der Leistungsfähigkeit von "Schwundgeld" und "Regionalwährungen"

Während der Weltwirtschaftskrise hatte die kleine Tiroler Gemeinde Wörgl 1932 "Schwundgeld" in Form von "Arbeitsscheinen" eingeführt. Der Schwund von jährlich 12 % musste vom jeweiligen Besitzer des Scheins am Monatsende durch eine mit Gebühr belastete aufzuklebende Marke in Höhe des Schwundes ausgeglichen werden. Die an sich bankrotte Gemeinde finanzierte mit diesem Geld, für das eine Deckung in Schilling hinterlegt wurde, einige kommunale Beschäftigungsmaßnahmen, z.B. den Bau einer Skisprungschanze. Den Arbeitern wurde ein erheblicher Anteil ihres Lohnes in diesen Arbeitsscheinen ausgezahlt, die dadurch in Umlauf gebracht werden sollten. Die Gemeinde wechselte die Scheine jederzeit in Schilling um, allerdings ohne den Schwund und mit einem Abzug von 2%. Wie war der Effekt des "Schwundgeldes"? Die Arbeitsscheine wurden von einigen Bauern, Milchhändlern, Bäckern und kleinen Ladenbesitzern akzeptiert. Diese bezahlten damit postwendend rückständige Steuern an die Gemeinde. Ungefähr ein Drittel der Scheine verschwand, z. B. durch den Verkauf als Sammelobjekt an Liebhaber, was einen Reingewinn für die Gemeinde bedeutete. Tatsächlich konnten in der Wirtschaftskrise damit Projekte finanziert werden, gab es einen ökonomischen Reparatur-Effekt wie bei heutigen Beschäftigungsmaßnahmen. Allerdings hatte Wörgl damals ca. 4000 Einwohner und die Weltwirtschaftskrise erhöhte die Akzeptanz des Experiments.

Nach kurzer Zeit untersagte die Österreichische Nationalbank das Wörgler Experiment aus Sorge um ihre Geldhoheit. Es ist zweifelhaft, ob Wörgl für heute als Beispiel gelten kann. Wie aber sieht es heute mit den Versuchen der Einführung einer "Regionalwährung" (Chiemgauer u.a.) aus? Ziel ist dabei die Stärkung des regionalen Wirtschaftsraums. Deshalb wird versucht, die Nutzung der Regionalwährung außerhalb der eigenen Region zu erschweren und das hortende Sparen von Regionalgeld zu unterbinden, womit gleichzeitig eine erhöhte Umlaufgeschwindigkeit des regionalen Geldes erreicht werden soll. "Der den Freiwirtschaftlern mit Sympathie gegenüber stehende Egon Kreutzer hat eine Reihe von Kritikpunkten aufgezählt:

- Die Argumentation, durch modernste Informationstechnologie sei es problemlos möglich, alle Regionalwährungen korrekt und ohne Zeitverzug zu vernetzen und untereinander zu tauschen, verkennt den tatsächlichen Aufwand für die Installation dieser Systeme.

- Die unvermeidliche Herausbildung stark schwankender Wechselkurse zwischen den Mikrowährungen stellt für die Marktteilnehmer ein unbeherrschbares Problem dar.

- Die Regionalwährungen leiden unter einem grundsätzlichen Akzeptanzproblem: Die universellere Nutzbarkeit des parallel verfügbaren gesetzlichen Zahlungsmittels mindert die breite Akzeptanz. Die Bevölkerung der Region wird nur in dem Maße von der Regionalwährung Gebrauch machen, wie sich daraus lokale Einkaufsvorteile ergeben und vielleicht aus (auf Dauer unsicherem) Lokalpatriotismus.

- Die von Einzelhändlern und Handwerkern eingenommenen Beiträge in Regionalwährung müssen überwiegend in Euro zurückgetauscht werden, um Material beschaffen, Löhne zahlen und Kredite aufnehmen zu können. Kreutzer bezeichnet die Regionalwährung daher auch als "Sonderform" von Geschenkgutscheinen.

- Die Implementierung der Umlaufsicherung soll durch einen Wertverlust der Gutscheine gelöst werden. Aber: Wer wird freiwillig einen Euro gegen einen "Regio" tauschen, wenn er nicht sicher ist, dass er den gekauften Regio vor dem nächsten Verfallsdatum auch ausgeben kann? Spätestens nach den ersten unangenehmen Erfahrungen wird der Bürger seine Regio-Bestände sehr vorsichtig deponieren. Auch die Akzeptanzstellen des Einzelhandels und des Handwerks werden ihre Regio Annahme so gestalten, dass Tausch- und Aufbewahrungsverluste vermieden werden oder sie werden den Verlust durch Preisaufschläge kompensieren.

- Wer wird ein auf Regionalwährung lautendes Darlehen aufnehmen, wenn er sich von Anfang an an bestimmte, die Regionalwährung akzeptierende Handwerker und Lieferanten bindet? Und wer wird ein langfristiges Guthaben anlegen, wenn er nicht weiß, ob der Währungsverein nicht in Kürze Insolvenz anmeldet?

- Weitere Voraussetzungen für den Erfolg der Regionalwährungen: Der Staat akzeptiert die Regionalwährung mindestens bei der Mehrwertsteuer, sonst müssen 16 % aller Umsätze in Regionalwährung in Euro zurückgetauscht und gehen damit der Region verloren. Die Mineralölkonzerne akzeptieren die Regionalwährung bei der Bezahlung von Benzin- und Heizölrechnungen, die Wasserversorger bei Strom-, Gas- und Wasserrechnungen. Die Banken akzeptieren die Regionalwährung als Tilgungs- und Zinszahlung für Alt-Kredite, die Versicherungen bei der Prämienzahlung, Immobilienbesitzer als Miet- oder Pachtzahlung. Tun sie das nicht, resultiert daraus ein Rücktauschvolumen von mindestens 50 % der Umsätze in Regionalwährung. Die Region ist dann gezwungen, durch "Exporte" in den Besitz der dafür notwendigen Euros zu gelangen, um die Abflüsse in Euro bestreiten zu können. Entweder wird ein Großteil der Wirtschaftsleistung exportiert, was dem Gedanken des regionalen Wirtschaftens diametral zuwiderläuft, oder dem System gehen die gesetzlichen Zahlungsmittel aus.

Kreutzer schlussfolgert: Jede Form unbaren Umgangs mit Regionalwährung hat nur geringe Chancen, wenn gleichzeitig das sichere gesetzliche Zahlungsmittel zur Verfügung steht.

- Die Regionalwährung muss erhebliche Mittel für die Finanzierung von Investitionen bereitstellen, damit Euro-Gelder nicht erforderlich sind. Dies erfordert eine erhebliche Sparleistung der Marktteilnehmer des regionalen Währungsgebiets oder einen jahrelangen Verzicht auf Investitionen, bis genügend Geld in Regionalwährung angespart ist. Das ist für die heimische Wirtschaft kontraproduktiv.

b) Kritik an der Analyse und den Zielen von Gesell aus marxistischer Sicht

- Die Freiwirtschaftler wollen das Geld- oder Zinskapital abschaffen, aber nicht die anderen Kapitale. Für Marx dagegen lässt sich der Zins vom Gesamtprozess kapitalistischer Mehrwertproduktion nicht ablösen. Gesell will den Kapitalismus abschaffen, indem er den Zins abschafft. Das ist so sinnvoll wie das christliche Gottesbild abzulehnen, aber nur den H1. Geist und nicht Vater und Sohn.

- Die Freiwirtschaftler bzw. Tauschringe haben ein prinzipielles Problem der Bestimmung des Wertes von Arbeitsprodukten oder der "Talente". Nach Marx ist die erste Funktion des Geldes die des Maßstabs aller Waren, der Äquivalenzform der Waren, d.h. der Wert der Waren untereinander kann nur in Bezug zum Geld dargestellt werden und ändert sich ständig. Geld in seiner Funktion als Tauschmittel baut darauf erst auf. Es existiert nach Marx kein Wertausdruck ohne Geld.

- Geld soll nicht gehortet bzw. nicht kurzfristig auf den Kapitalmärkten angelegt werden, so die Forderung der Freiwirtschaftler. Wenn dieser Verwertungsmodus verhindert werde, verwerte sich das Geld in sinnvoller Produktion. Das muss es aber nicht, vielmehr gibt es vielfältige Möglichkeiten der Akkumulation durch Steigerung des relativen oder absoluten Mehrwerts bzw. der "Akkumulation durch Enteignung".

- Auch attac und viele Linke fordern wie die Freiwirtschaftler, dass Geld langfristig bzw. produktiv angelegt werden soll. Beide setzen sich z.B. für die Tobinsteuer ein. Aber die Ziele etwa von attac und den Freiwirtschaftlern gehen auseinander: Für Marxisten kann das Ende von "spekulativen Blasen" der Finanzmärkte eine sinnvolle Reformmaßnahme sein. Das Ziel ist letztlich aber die Überwindung des Kapitalismus. Den Freiwirtschaftlern geht es dagegen de facto um das bessere Funktionieren des Kapitalismus. So z.B. Heinrichs: "Betriebskapital und Leistungsbereitschaft soll es weiterhin geben" oder "der produktive Unternehmer erhält seinen Lohn zurecht".

- Freiwirtschaftler wie z.B. Heinrichs fordern die "Revolution", sehen den Zins aber als Hebel dafür an. Entscheidend ist aber die "Wirkursache" (Heinrichs) des Zinses, nämlich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Dort gilt es anzusetzen und eben nicht beim Zins!

c) Versuch der Erklärung der Entstehung und der heutigen Popularität der Gesellschen Thesen

Gesells Blick ist der des einzelnen Unternehmers, der seine Situation, u.a. seine Abhängigkeit vom Geldkapital, reflektiert und davon ausgehend das Wirtschaftssystem modelliert. Seine Abneigung, sich mit abstrakten Werttheorien überhaupt zu befassen, wird so verständlich. Gesell verarbeitet aber auch allgemeine Erfahrungen im Kapitalismus: Für den einzelnen Menschen sind Arbeit und Waren konkret, man weiß, was man tut bzw. kann sie anfassen, die Funktionen von Geld oder Zinsen dagegen erscheinen abstrakt und undurchschaubar. Gerade das Zinskapital ist die "fetischartigste Form" des Kapitals. Neben der Undurchschaubarkeit spielen Angst und Unsicherheit im Kapitalismus, nicht zuletzt wegen der Leerstelle in Bezug auf Sinnhaftigkeit durch das reine Akkumulationsprinzip, immer eine Rolle. Das Denken der Freiwirtschaftler verläuft offenbar wie folgt:

- der konkrete Teil des Kapitalismus (Arbeit, Produktion) wird positiv, der abstrakte (Geld, Zins) negativ besetzt;

- die Kapitale werden dabei personifiziert und so "produktive" und "unproduktive" Kapitalisten, letztere mit "leistungslosem Einkommen", konstruiert;

- diese Personifikation (die nicht nur von Freiwirtschaftlern vollzogen wird) kann zu einer Identifizierung des Zinskapitals mit "den Juden" führen. Gesell war kein Antisemit, aber seine Theorie ist in Bezug auf antisemitische Tendenzen anschlussfähig. Die historisch feststellbaren rechten Tendenzen der Freiwirtschaftler sind also nicht zwangsläufig, aber auch nicht zufällig. (Robert Kurz bezeichnet diese Zusammenhänge als "politische Ökonomie des Antisemitismus".)

Heute befinden wir uns offenbar in einer historischen Situation, in der die Angst im Kapitalismus verstärkt um sich greift und die ganze Situation als krisenhaft, aber auch als kaum durchschaubar und nicht steuerbar (Globalisierung als Sachzwang) wahrgenommen wird. Insofern können die relativ leicht verständliche Analyse von Gesell und seine konkreten, an Praxis anschlussfähigen Vorschläge nach einer langen Phase praktischer Bedeutungslosigkeit wieder an Popularität gewinnen. Man kann sogar davon ausgehen, dass die Renaissance der Gesellschen Theorie ihren Höhepunkt noch längst nicht erreicht hat. Leider ist der freiwirtschaftliche Ansatz für eine fundierte Kapitalismuskritik aus meiner Sicht nicht brauchbar. Wer die heutige Gesellschaft besser verstehen und sie verändern will, ist bei Gesell schlecht beraten.


Stefan Leibold, Dr., Münster, Theologe und Sozialwissenschaftler

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-15, 53. Jahrgang, S. 96-101
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Oktober 2015

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