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MARXISTISCHE BLÄTTER/637: Antonio Gramsci - Mein Großvater


Marxistische Blätter Heft 2-17

Mein Großvater(1)
Zum 80. Todestag von Antonio Gramsci (1891-1937)

Von Antonio Gramsci Jr.


Vor dem Niedergang der Sowjetunion besaß ich von meinem Großvater, Antonio Gramsci, nur eine vage Vorstellung, er war eine von einer Legende umhüllte Figur. Dies hing mit meinem Vater, Giuliano Gramsci, zusammen, der ein großer Romantiker war - er war außerdem ein talentierter Musiker und Komponist und ein Gelehrter der Kunstgeschichte, insbesondere der italienischen Renaissance, der Literatur und der Poesie. Sein Lieblingsschriftsteller war Giacomo Leopardi. Es war, als hätte sich mein Vater dazu entschieden, sich zwischen den Klassikern zu verkriechen - nicht nur wegen einer angeborenen Neigung, sondern auch weil das 20. Jahrhundert, dessen Schrecken er als unmittelbarer Augenzeuge erlebte, so viele schmerzvolle Erinnerungen bot, von denen die schlimmste ohne Zweifel der Verlust des Vaters war - der Vater, den er nie kennen gelernt hatte, aber den er so sehr vermisste. Bei all seiner Bildung und all seinem kindlichen Respekt vor seinem Vater, war Giuliano Gramsci ein Mensch, dem politische Regungen vollständig fehlten. Oft sagte er: "Verdammte Politik, warum musste er [Antonio Gramsci - Anm. d. Übers.] sich darin verheddern? Warum hat er nicht, obwohl er auf diesem Gebiet doch so talentiert war, den Rat seines Professors Bartoli befolgt und ist Sprachwissenschaftler geworden?"(2) "Aber Papa", antwortete ich ihm scherzend, "Du wärest nicht hier, wenn er das getan hätte!"

Delio Gramsci, der ältere Bruder meines Vaters, war anders: Als Oberst bei der Marine, Ausbilder im Bereich der Ballistik und Mitglied der KPdSU hatte er große politische Ambitionen. Es wird deutlich in seiner Familienkorrespondenz, dass Delio während des Zweiten Weltkriegs ernsthaft in Erwägung zog, nach Italien zu gehen, um ein Führer des antifaschistischen Widerstandes zu werden. Er wollte an der Schaffung der zukünftigen italienischen Marine teilhaben, da er glaubte, dass Italien nach dem Sieg über den Faschismus ein sozialistisches Land werden würde. Anders ausgedrückt wollte Delio die Sache, für die sein Vater sein Leben gegeben hatte, weiter voranbringen. Es ist möglich, dass diese Ambitionen von Palmiro Togliatti, Antonio Gramscis Nachfolger als Generalsekretär der italienischen KP (PCI), ermutigt wurden. Togliatti organisierte einen steten Quell der Unterstützung für die Familie Gramsci und korrespondierte zu dieser Zeit regelmäßig mit Gramscis ältestem Sohn. Viele Jahre später, wenn uns unser Onkel Delio besuchte, wurde ich unfreiwilliger Zeuge der manchmal hitzigen Streitigkeiten zwischen den Gramsci-Brüdern, zwei Männern, die so unterschiedlich waren. Ich muss sagen, dass ich aus diesen Diskussionen kaum etwas für mich herausziehen konnte. Zu dieser Zeit war ich noch sehr jung (als Delio 1982 starb, war ich erst 17 Jahre alt) und interessierte mich nicht für Politik.

Oft besuchte ich gemeinsam mit meinen Eltern meine Großmutter Giulia Schucht, die Witwe Antonio Gramscis, die bis 1980 in einem Sanatorium für alte Bolschewiken in Peredelkino, außerhalb Moskaus, lebte. Obwohl sie bettlägerig war, behielt sie bis zum Schluss ihre geistigen Fähigkeiten und war sehr interessiert am Leben ihrer Lieben und an allem, was in der Welt passierte. Gleichwohl kann ich mich nicht entsinnen, dass sie jemals spontan Erinnerungen an meinen Großvater zur Sprache gebracht hätte. Sie sprach selten über ihn, in Briefen an italienische Verwandte und während Interviews. Als sie noch bei uns zuhause lebte, stellte sie gemeinsam mit ihrer Schwester Eugenia eine Art Museum mit persönlichen Gegenständen Gramscis zusammen. In einer großen Glasvitrine mit vier Fächern wurden ein traditionelles sardisches Webdeckchen, von Gramsci selbst angefertigtes Holzbesteck, ein Zigarettenhalter und andere Objekte ausgestellt. Ich erinnere mich an diese alten, auf mich so mysteriös wirkenden, Dinge als eine unerschöpfliche Quelle für meine Fantasiespiele. Die meisten dieser Gegenstände hat meine Familie in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren an das Gramsci-Museum in Ghilarza gespendet, aber ein paar wurden als Familienreliquien zuhause behalten - der Aschenbecher, den mein kettenrauchender Großvater bis zu seinem Ende bei sich hatte, oder seine Ausgabe von Machiavellis Buch "Der Fürst", das ihn im Rahmen seiner Gefängnishefte inspirierte.

Vor 25 Jahren kollabierte die Sowjetunion - eine Gesellschaft, die, mit all ihren Mängeln, die Bastion des real existierenden Sozialismus dargestellt und paradoxerweise geholfen hatte, die Widersprüche des westlichen Kapitalismus zu lindern. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt begann ich mich für meinen Großvater zu interessieren. Die PCI und die Gramsci-Stiftung hatten 1991 für mich und meinen Vater anlässlich Gramscis hundertstem Geburtstag eine Reise nach Italien arrangiert. Wir blieben für ungefähr sechs Monate in Italien und besuchten in dieser Zeit alle Ort, die eine starke Verbindung zum Leben Antonio Gramscis aufweisen, von Sardinien bis Turi in Apulien, wo der PCI-Führer unter anderem inhaftiert gewesen war. Einer der am meisten bewegenden Höhepunkte unserer Reise war das Konzert, das ich zusammen mit Francesca Vacca für die Insassen des Gefängnisses von Turi gab. Während dieser Monate, die voller faszinierender Ereignisse waren, tauchte ich tief ein in die italienische Kultur und erkannte, wie wichtig mein Großvater für diese Kultur ist. Zurück in Russland begann ich, voller Enthusiasmus systematisch die italienische Sprache zu lernen und fing an, die wenigen Texte, die von meinem Großvater in russischer Übersetzung vorlagen, zu lesen. Mein Interesse an Gramscis Denken wuchs immer stärker, als ich versuchte durch seine Brille zu verstehen, was in meinem Land passiert war. Dank ihm begriff ich die zerstörerische Rolle, die unsere Intellektuellen gespielt hatten und die verantwortlich waren für die molekulare Verschiebung der öffentlichen Meinung zugunsten des neuen Regimes, das zur Ausplünderung Russlands geführt hatte - ein Prozess, der bereits während der Jahre der Perestroika begonnen hatte. Ich wurde kein Gramsci-Forscher - ich bin Biologe und Musiker -, aber meine geistigen Bezüge hatten sich radikal verändert. Wenn ich von unserer heutigen Zeit spreche, kann ich sagen, dass ich genau in diesem turbulenten historischen Moment das echte Bedürfnis nach dem Lautwerden einer intellektuellen Stimme von dem Kaliber Antonio Gramscis spüre, damit unterschiedliche Gruppen geeint werden können, die noch gespalten und ideologisch unkreativ sind. Diese unterschiedlichen Gruppen können nur schwerlich als Opposition bezeichnet werden, die in dem "historischen Block" zusammengegossen werden müsste, der alleine in der Lage wäre, eine korrekte strategische Linie im Kampf gegen die unterdrückerischen, korrupten und zynischen Kräfte des neuen Regimes zu entwickeln, das Russland nun seit zwei Jahrzehnten beherrscht.

Der entscheidende Schritt in Richtung meiner Umarmung von Gramsci ereignete sich in den 2000er Jahren, als ich im Zuge meiner Zusammenarbeit mit der Gramsci-Stiftung begann, der Geschichte seiner russischen Familie nachzugehen. Damals wusste ich noch nicht, dass sich diese bescheidenen und unzusammenhängenden Versuche, Gramscis Geschichte zu rekonstruieren, in ein echtes Forschungsprojekt verwandeln würden. Damit hoffe ich meinen kleinen Beitrag zur Rekonstruktion sowohl der Geschichte meines eigenen Landes als auch des Lebens meines Großvaters geleistet zu haben.(3) Giulia Schuchts Familie war mit beiden Aspekten tief verbunden.(4) Einerseits gab es den sehr interessanten historischen Präzedenzfall eines Teils der russischen Intelligenz mit adeligem Hintergrund, der die eigene Klasse im Namen der Revolution verriet und sich von deren sozialen "Vorurteilen" distanzierte und das neue Wertesystem des Landes annahm. Andererseits prägte die Familie Schucht sowohl persönlich als auch politisch das Leben meines Großvaters stark. Diese ungewöhnliche Familie wurde das essentielle Zwischenstück in der extrem engen Verbindung zwischen Gramsci und dem revolutionären Russland. Und Russland, so behaupte ich, ist manchmal der Schlüssel um einige der wichtigsten und zugleich rätselhaftesten Episoden in Gramscis Leben zu erklären. Über einige dieser Episoden möchte ich an dieser Stelle sprechen.

Die erste richtet unsere Aufmerksamkeit auf das Verhältnis zwischen Gramsci und Lenin. Bereits in den 1970er Jahren war bekannt, dass der Führer der Bolschewiki den zukünftigen Führer der italienischen Kommunisten 1922 getroffen hatte. Wir wissen aus sowjetischem Archivmaterial, dass die beiden Männer sich in Lenins Kremlbüro am 25. Oktober 1922 trafen. Das Register der Bibliographischen Aufzeichnungen Lenins, erstmals 1972 publiziert, enthält eine Liste mit den von den beiden besprochenen, allesamt sehr wichtigen, Themen: die Besonderheit Süditaliens, der Zustand der italienischen Sozialisten und die Möglichkeit ihrer Fusion mit den Kommunisten. Zum Zeitpunkt der Vorbereitung der Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen wurde mein Vater vom Institut für Marxismus-Leninismus beauftragt, mit Hilfe italienischer Kommunisten andere Berichte über dieses historische Treffen ausfindig zu machen. Der einzige Brief, den er erhielt, kam von Camilla Ravera, Gründungsmitglied der PCI, die sowohl den detaillierten Report, den ihr Gramsci selbst bezüglich des Treffens gegeben hatte, übermittelte als auch die kühne Hypothese anbot, dass es wahrscheinlich diese Begegnung war, die Lenin dazu inspirierte, meinen Großvater anstelle von Amadeo Bordiga, dem ersten PCI-Generalsekretär, der ihn mit seiner rigiden und sektiererischen Mentalität enttäuscht hatte, zum Führer der italienischen Kommunisten zu machen. Aber warum stand hiervon nichts in Raveras Memoiren, die sie nur wenige Monate später veröffentlichen sollte? Warum hatten alle Gramsci-Biographen diesen Aspekt übersehen, inklusive des unübertroffenen Giuseppe Fiori?(5) Und warum erwähnte Gramsci dies nie in einem Brief oder Artikel, trotz seiner großen Bewunderung für Lenin und den starken freundschaftlichen Verbindungen zwischen der Familie Schucht und der Familie Uljanow? Es ist möglich, dass diese eigenartige Stille mit der Bescheidenheit zusammenhing, die mein Großvater gegenüber Bordiga an den Tag legte, dem er, ungeachtet politischer Differenzen, als Gründer der PCI großen Respekt entgegenbrachte und den er als Freund schätzte. Aber vielleicht ist die wahre Erklärung nicht so simpel.

Die zweite Episode betrifft die Versuche, Gramsci nach seiner Verhaftung aus dem faschistischen Kerker zu befreien. Auch hier bleibt, trotz der Anstrengungen einiger der besten Forscher,(6) die Wahrheit ungewiss. Auch ich fand nichts von Bedeutung, als ich durch unser Familienarchiv stöberte. Die wahrscheinlichste Hypothese ist dass, obwohl sie dem Gefangenen erhebliche materielle Unterstützung gewährten, die sowjetischen Behörden nichts ernsthaft unternahmen, um ihn aus dem Gefängnis zu befreien. Sie wiederholten die leidenschaftliche Arbeit, in der sich Gramscis Schwägerin, Tatiana Schucht, ebenfalls engagierte: Sie wurde wahrscheinlich absichtlich fehlgeleitet und widmete sich erfolglos endlosem Papierkram zur Erreichung von Gramscis Freilassung. Auch hier haben wir eine nur wenig befriedigende Erklärung. Es ist möglich, dass uns eine bessere nach fokussierter Recherche im Stalin-Archiv, das bis heute unzugänglich bleibt, erwartet.

Das größte Mysterium betrifft die letzten Monate im Leben meines Großvaters, das heißt von Ende 1936 bis zu seinem Tod am 27. April 1937. Trotz aller Forschungen, die angestellt wurden, haben wir immer noch keine vollständige Antwort auf die einfache, aber sowohl historisch wie auch biographisch wichtige Frage: Was gedachte Gramsci zu tun, nachdem er seine Freiheit wiedererlangen würde? Laut einer Hypothese, die von zeitgenössischen Wissenschaftlern unterstützt wird, wollte Gramsci eine Genehmigung der italienischen Behörden erwirken, die ihm seine Auswanderung in die Sowjetunion ermöglichen sollte, wo er mit seiner Familie wiedervereint und möglicherweise seinen politischen Kampf fortsetzen konnte. Diese Vorstellung, die auf dem Zeugnis Piero Sraffas beruht, vereinfacht nach meinem Dafürhalten die Realität.(7) Tatianas Korrespondenz aus dieser Zeit, die ich vor kurzem in unserem Familienarchiv entdeckt habe, erlaubt eine akkuratere Rekonstruktion der Tatsachen. In ähnlicher Weise präsentieren die von Silvio Pons von der Gramsci-Stiftung in den frühen 2000er Jahren in den russischen Staatsarchiven entdeckten Dokumente ein komplexeres Bild. Laut diesen Dokumenten baten um die Jahreswende 1936/37 Vertreter des sowjetischen Sicherheitsdienstes NKWD Gramsci, dass er ihnen alles, was er über die italienischen Trotzkisten wusste, mitteilen möge. Sie bohrten zwei Monate lang und Gramscis Antwort lautete, dass sie gute Beziehungen mit den Bediensteten der italienischen Botschaft aufbauen sollten, um so alles, was sie wissen wollten, herauszufinden. Er vermutete eine neue Provokation. An diesem Punkt ergeben sich neue Fragen: Machten die sowjetischen Behörden eine mögliche Rückkehr Gramscis nach Moskau von seiner Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten abhängig? Oder wollten sie ihn schlichtweg indirekt darauf aufmerksam machen, dass er immer noch den Makel trotzkistischer Sympathien trug, zumal er einen Brief an das Zentralkomitee der KPdSU im Oktober 1926 bezüglich der innerparteilichen Konflikte in der bolschewistischen Partei verfasst hatte?(8) So oder so war es genau zu diesem Zeitpunkt, wie sich seine Nichte Edmea Gramsci erinnert, dass Gramsci einen Brief an seine Familie in Sardinien schrieb, in dem er sie dringend darum bat, für ihn ein Zimmer in Santo Lussurgiu zu finden. Aber was wollte er in Sardinien tun? Am 24. März 1937 schrieb Tatiana in einem Brief an Eugenia: "Antonio glaubt, dass es viel einfacher wäre, aus Sardinien als aus Italien zu flüchten. Wir dürfen es nicht erwähnen, sonst beginnen die Gerüchte." Wie der Historiker Giuseppe Vacca zurecht behauptet, ist es unwahrscheinlich, dass Gramsci in der Lage gewesen wäre, zu fliehen. Ich glaube, dass mein Großvater den sowjetischen Behörden indirekt signalisieren wollte, dass er nicht plane, in Italien zu bleiben und sich für immer vom politischen Leben zurückzuziehen, wie es Bordiga einige Jahre zuvor getan hatte. Es ist möglich, dass Sraffas Aussage demselben Zweck diente. Sraffa hatte die Möglichkeit, Gramsci im Jahr 1936 zu besuchen und ihm die Nachricht des Moskauer Prozesses zu überbringen, dem ersten in einer Reihe, die mit der Todesstrafe für Lenins engste Mitstreiter, von denen einige beschuldigt worden waren, Trotzkisten zu sein, endeten. Gramscis Reaktion war Stille, eine Nichtkommentierung, die wahrscheinlich Bestürzung und Entrüstung versteckte. Aus Tatianas Korrespondenz (und aus anderen Quellen) wird klar, dass die Gesundheit meines Großvaters in einem äußerst ernsten und gefährlichen Zustand war und dass er sich dessen vollkommen bewusst war. Auch dies hätte einen Transfer nach Russland unwahrscheinlich gemacht. Gramsci wollte, dass Giulia und die Kinder ihn vor seinem Tod besuchen. Meine eigene Rekonstruktion dieser Angelegenheit lautet wie folgt: Bis zum Beginn des Jahres 1936 plante Gramsci in der Tat, in die Sowjetunion auszuwandern. Gegen Ende des Jahres entschied er sich jedoch mit Hinblick auf die Verschlechterung sowohl seiner Gesundheit als auch des politischen Klimas in Russland (von dem ihm Sraffa berichtet hatte und das durch das Verhalten des NKWD auf gewisse Weise bestätigt werden war) für einen radikalen Kurswechsel und optierte nun, wie Fiori glaubt, dafür, sich in seiner Heimat zur Ruhe zu setzen.

Meine Beziehung zu meinem Großvater geht über mein Interesse an seinem Leben und seinen Ideen hinaus. Als sein Enkel und in gewisser Weise als sein Schüler empfinde ich es als Pflicht, seine Erinnerung und auch die Sache, um derentwillen er sein Leben verlor, gegen Manipulation und alle Arten von Spekulationen zu verteidigen. In jüngster Zeit haben sich neue Versuche, Gramsci in Opposition zur kommunistischen Bewegung zu bringen oder ihn sogar als Opfer des Kommunismus darzustellen, intensiviert. Viele italienische Autoren, von Massimo Caprara bis Giancarlo Rehner, vertreten diese Sicht der Dinge.(9) So wird beispielsweise behauptet, dass Gramsci sowohl von der sowjetischen Partei als auch von seiner russischen Familie fallen gelassen werden wäre. Laut Lehner soll es das italienische Innenministerium gewesen sein, dass zwischen 1934 und seinem Tod für seine sehr teure medizinische Behandlung aufkam. Nun, nachdem vor kurzem Tatianas Briefe aufgefunden werden, wissen wir sicher, dass dies nicht der Fall gewesen ist. In Wahrheit sandte Giulia große Geldsummen für die Pflege ihres Ehemannes an Tatiana - Geld, das ihnen sicherlich von sowjetischen Stellen gewährt werden war.

Ich werde mich nicht mit all dem Unfug beschäftigen, der sich über die Jahre angesammelt hat, angefangen von den Fantasien Capraras, der andeutete, dass Giulia Schucht von den sowjetischen Geheimdiensten geschickt werden wäre, um Gramsci zu verführen; dass ihre Schwester Tatiana von denselben Diensten angeheuert werden wäre, um Gramsci auszuspionieren; dass die Schucht-Familie Gramscis Kinder in Unkenntnis über die Ideen ihres Vaters gelassen hätte... Dieser Unfug türmt sich auf bis zu den Behauptungen von Kardinal Luigi de Magistri, wonach Gramsci sich auf seinem Totenbett zum Katholizismus bekehrt hätte, und dem Zeugnis einer alten Dame, die genau wie Gramsci in der Quisisana-Klinik in Rom gepflegt wurde, wonach mein Großvater Selbstmord begangen hätte, indem er sich aus einem Fenster stürzte - oder ermordet worden sei.

Leider werden dies nicht die letzten Mythen über meinen Großvater und unsere Familie bleiben. Die Mythologie über Gramsci (und nicht nur über ihn) breitet sich unter den Voraussetzungen allgemeinen kulturellen Verfalls kontinuierlich aus. Dieser Verfall, verstärkt durch die Bewusstseinsmanipulation der Massenmedien, ist charakteristisch für das, was Hermann Hesse in seinem Roman "Das Glasperlenspiel" als das "Zeitalter des Feuilleton" bezeichnet hat, eine absurde Zeit, in der Kreativität und wahre Forschung durch wechselseitige Zitationen ersetzt werden. Ich glaube, es ist unsere Pflicht - als Aktivisten, als Wissenschaftler, als Intellektuelle und auch als ganz normale Bürger -, diese bösartigen Tendenzen zu bekämpfen, wenn wir mit Würde in dieser "so großen und so schrecklichen Welt", wie sich Gramsci in einem Brief vom 19. Februar 1927 ausdrückte, überleben wollen.

Übersetzung: Phillip Becher


Anmerkungen

(1) Dieser Text von Antonio Gramscis 1965 in Moskau geborenem und noch heute in Russland lebendem Enkel wurde mit freundlicher Genehmigung der Ausgabe 102 (November/ Dezember 2016) der New Left Review entnommen.

Er wurde zuerst in dem von Angelo D'Orsi herausgegebenen Sammelband "Inchiesta su Gramsci" (Turin 2014) veröffentlicht und basiert auf einer Rede, die am 20. Januar 2012 im Turiner Teatro Vittoria gehalten wurde. (Der Schattenblick dankt dem Verlag Accademia University Press in Turin für die Nachdruckgenehmigung.)

(2) Matteo Bartoli (1873-1946) war Dialektforscher und für viele Jahre Professor für Sprachwissenschaft an der Universität von Turin, wo Gramsci zwischen 1911 und 1915 studierte.

(3) Vgl. Gramsci, Antonio Jr.: La Storia di una famiglia rivoluzionaria. Antonio Gramsci e gli Schucht tra la Russia e l'ltalia, Rom 2014. Anm. d. Übers.

(4) Giulia Schuchts Vater Apollon (1861-1933) war der Sohn eines zaristischen Generals mit sächsischen Wurzeln; er wurde höchstwahrscheinlich als Anerkennung seiner hervorragenden militärischen Dienste in den Adelsstand erhoben. Er heiratete Julia Hirchfeld, Tochter eines angesehenen jüdischen Anwalts aus der Ukraine. Seit seiner Zeit als Student gehörte Apollon zu den Volkstümlern und war mit der Organisation klandestiner revolutionärer Zellen in der Armee beschäftigt; er wurde 1897 verhaftet und nach Tomsk in Westsibirien verbannt, später nach Samara. Nach seiner Rückkehr nach Petersburg ungefähr sechs Jahre später, entschied Apollon, seine Familie ins Ausland zu bringen, zunächst in die Schweiz, dann nach Frankreich und Italien, wo er bis 1916 blieb. Zurück in Petersburg schloss er sich im Frühjahr 1917 den Bolschewiki an. Seine Töchter Eugenia, die bereits in Russland weilte, und Giulia, die ihrem Vater kurz darauf nachfolgte, schlossen sich beide im September desselben Jahres der Partei an. Wie sie sollte auch ihr Vater besoldete Positionen im neuen Staat einnehmen. Die Schwestern trafen Gramsci erstmals 1922.

(5) Fiori, Giuseppe: Das Leben des Antonio Gramsci. Eine Biographie, Berlin 2013.

(6) Insbesondere Rossi, Angelo Antonio/Vacca, Giuseppe: Gramsci tra Mussolini e Stalin, Rom 2007.

(7) Piero Sraffa (1898-1983) war ein neoricardianischer Ökonom und enger Freund Gramscis.

(8) Vgl. zu den Hintergründen und Inhalten dieses Briefes Neubert, Harald: Die internationale Einheit der Kommunisten. Ein dokumentierter historischer Abriss. 2. Auflage, Essen 2009, S. 86-89. Anm. d. Übers.

(9) Massimo Caprara (1922-2009) war PCI-Mitglied, Journalist, Autor, Politiker und Funktionär. Nach 20 Jahren als Togliattis persönlicher Sekretär schloss er sich für einige Zeit der Gruppe II Manifesto an und wandte sich dann dem Katholizismus zu. Er schwor seiner kommunistischen Vergangenheit ab und wurde ein Publizist der Zentrumsrechten. Der 1943 geborene Giancarlo Lehner ist ein produktiver Publizist der italienischen Rechten und ein glühender Antikommunist, der eng mit Silvio Berlusconi verbunden ist, vgl. Giancarlo Lehner: La famiglia Gramsci in Russia, Mailand 2008.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-17, 54. Jahrgang, S. 102-107
Redaktion: Marxistische Blätter
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2017

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