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MARXISTISCHE BLÄTTER/640: NATO jagt Roter Oktober


Marxistische Blätter Heft 3-17

NATO jagt Roter Oktober
Die Ost-West-Studie der NATO 1978 - das strategische Handlungsdispositiv zum Sieg im Kalten Krieg(1)

von Lothar Schröter


Am 30. und 31. Mai 1978 tagte in Washington der NATO-Ministerrat (NAC). Die Beratungen, bei denen auch die Außen- und Verteidigungsminister zugegen waren, und ihre Ergebnisse gehören zu den wichtigsten in der Geschichte der Allianz.

Dafür steht in allererster Linie die "Studie über die langfristigen Tendenzen in den Ost-West-Beziehungen". Für dieses Dokument galt eine 30-jährige Sperrfrist. Nach mehreren erfolglosen Versuchen gelang es dem Autor im Oktober 2014, es einzusehen (schon vor der Verabschiedung 1978 lag die Studie der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR vor). Die Studie "behandelte ausführlich die innere Lage der Sowjetunion, ihre wirtschaftlichen Probleme ..., ihre Differenzen mit China und die immer sichtbarere Erosion des Warschauer Pakts. Ausdrücklich wies die Studie auf die Bemühungen der DDR-Führung hin, die internen Probleme der DDR durch größere Eigenständigkeit gegenüber der Sowjetunion zu lösen. Sie beschrieb die zentrifugalen Tendenzen innerhalb des Warschauer Pakts zutreffend ..." (2)

Der Chef der HVA, Generaloberst Markus Wolf, hielt das Dokument, "das meinen eigenen Gedanken und Erkenntnissen der letzten Monate (entsprach)", für so relevant, dass er mit ihm auf die politische Führung seines Landes zugunsten von weitreichenden politischen Korrekturen zugeben wollte.(3)

Zu den Grundlagen der Studie gehören Passagen, die bei oberflächlicher Lektüre untergehen. In Punkt 147 heißt es: "Es scheint wenig Zweifel daran zu geben, dass sich die sowjetischen Führer weiter bemühen werden, besondere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu unterhalten und eine direkte Konfrontation zu vermeiden, unabhängig von Schwankungen in der Entspannungspolitik." In Anbetracht des militärischen Potenzials der USA "auf allen Gebieten" bleibt es der schlussendlich entscheidende Antrieb der sowjetischen Politik, eine Konfrontation der beiden Supermächte zu vermeiden (Punkt 165). Der Punkt 189 im Teil III ("Konsequenzen für die Allianz") formuliert diesen Gedanken mit den Worten: "Die Sowjetregierung wird wahrscheinlich in absehbarer Zukunft ihre Politik der Entspannung weiterführen." So wurde auch auf der NAC-Tagung selbst diskutiert, wie z.B. die Meinungsäußerung des griechischen Ministerpräsidenten Karamanlis dokumentierte.(4) Zu den drei Kernzielen der Außenpolitik der UdSSR zähle die Politik der friedlichen Koexistenz und der Entspannung, zu der auch der Wirtschaftsaustausch gehöre. Zuvor schon war der Entspannungskonzeption Moskaus attestiert werden, sie wolle eine militärische und jede gefährliche Konfrontation vermeiden und eine gewisse Stabilität in den Ost-West-Beziehungen aufrechterhalten. Fundamentales Ziel der Sowjetregierung, und daran werde sich nichts ändern, sei es, einer Konfrontation der beiden Supermächte vorzubeugen. Die UdSSR habe ungeachtet ihres starken Militärpotenzials ein tiefes Misstrauen gegen jegliches Abenteurertum. In diesen Beurteilungskomplex fällt - so indirekt an anderer Stelle - der in den 1970er Jahren in der deutschen Frage erreichte modus vivendi. Eine friedliche Entwicklung in dieser Region stehe im positiven Einklang mit dem sowjetischen Interesse nach Fortführung der Entspannung.

Diese für die UdSSR angenommenen strategischen politischen Zielstellungen korrespondieren mit einem für die Streitkräfte der Organisation des Warschauer Vertrages unterstellten strategischen Auftrag. An erster Stelle stehe die Verteidigung der territorialen Integrität seiner Mitgliedsländer. Es folgen die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung in den Ländern bzw. die Sicherung des Status quo und schließlich die Unterstützung der militärischen Ziele der Sowjetunion.

Wären alle diese Punkte zum richtungsbestimmenden Politikkonzept des Nordatlantikblocks geworden, dann hätte die Entspannungspolitik der 1970er Jahre zum Vorteil für alle fortgeführt werden können. Und was noch wichtiger ist: Die Welt wäre nicht bis unmittelbar an den Rand einer nuklearen Katastrophe gebracht werden.

USA-Präsident Ronald W. Reagan gab hingegen die Linie der Liquidierung des anderen Gesellschaftssystems unmissverständlich vor. In einer Rede am 8. Juni 1982, in der er einen "Kreuzzug gegen den Kommunismus" verkündete, erklärte er, dieser werde "den Marxismus-Leninismus auf dem Aschehaufen der Geschichte zurücklassen ..."(5) Am 8. März 1983 bezeichnete er in Orlando (Florida) die Sowjetunion als "das Zentrum des Bösen in der modernen Welt". Und er verlangte die Zerstörung des Realsozialismus: "Wir werden ihn abschließen als ein trauriges, bizarres Kapitel der Geschichte, dessen letzte Seiten eben geschrieben werden. Wir werden uns nicht damit abgeben, ihn anzuprangern, wir werden uns seiner entledigen ..."(6)

Dem entsprachen die militärischen Planungen. Die Kursnahme auf die Fähigkeit zum nuklearen Entwaffnungsschlag, zur nuklearen Enthauptung des Gegners, war u.a. in dem Grundsatzdokument des USA-Verteidigungsministeriums zur Militär- und Rüstungspolitik "Fiscal Year 1984-1988 Defense Guidance" vom 29. März 1982 niedergelegt. Dieses 125-seitige strategische Grundsatzdokument forderte u.a., "Pläne mit dem Ziel zu entwickeln, die Sowjetunion auf jedem Konfliktniveau - von Aufständen bis hin zum Atomkrieg - zu besiegen". Weiter hieß es, die Strategie des nuklearen Krieges würde auf der so genannten Enthauptung ("decapitation") basieren, wobei Schläge gegen die politische und militärische Führung sowie gegen die Nachrichtenverbindungen und Verkehrsadern der Sowjetunion gemeint sind.(7) Es gehe darum, "dem sowjetischen Huhn den Kopf abzuschneiden".(8) Moskau war selbstverständlich bekannt, dass zwei der einflussreichsten Strategieberater Reagans verlangten: "Die Vereinigten Staaten sollten planen, die Sowjetunion zu besiegen, und dies zu einem Preis, der eine Erholung der USA erlauben würde. Washington sollte Kriegsziele festlegen, die letztendlich die Zerstörung der politischen Macht der Sowjets und das Entstehen einer Nachkriegs-Weltordnung, die den westlichen Wertvorstellungen entspricht, in Betracht ziehen."(9)

All das kollidierte mit der ehernen Säule der sowjetischen Militärdoktrin, nämlich dass sich ein 22. Juni 1941 niemals wiederholen dürfe: Um keinen Preis der Welt sollte das Land wieder Opfer eines erbarmungslosen Überfalls werden.

Das analytische Grundsatzdokument für die Konfrontationspolitik des Nordatlantikpaktes der 1980er Jahre, die zusammen mit den tief reichenden und existenziellen inneren Krisenprozessen den Untergang des Realsozialismus in den von der UdSSR geführten osteuropäischen Ländern bewirkte, war die Ost-West-Studie der NATO von 1978. Wer diese welthistorisch kaum zu überschätzende Umwälzung verstehen will, kommt an dieser Studie nicht vorbei. Und zwar in zweierlei Hinsicht: wegen der Präzision der Analyse und des - allerdings nur indirekt - enthaltenen strategischen Schlachtplans zum schlussendlich errungenen Sieg über das alternative Gesellschaftsmodell.

Der hohe Grad an Exaktheit der Studie schließt Wiederholungen, damit oft zusammenhängend zum Teil unsystematische Gruppierungen der Inhalte sowie manche Widersprüchlichkeit. Verschwommenheit und sogar Fehlerhaftigkeit nicht aus. Darüber hinaus ist das Dokument in den Voraussagen höchst vorsichtig.

Im Zentrum der Analyse, "die den Akzent besonders auf jene Elemente legt, die einen direkten Einfluss auf die Ost-West-Beziehungen haben werden",(10) stehen die Lage, die Absichten und die Perspektiven der UdSSR. In den umfangreichen Passagen dazu gibt es zudem teilweise erhebliche Fehleinschätzungen, wobei für letztere wohl häufig auch die politische Absicht maßgebend war, die NATO-Partner mit einem bedrohlich daher kommenden Szenario auf Kurs zu bringen.

Zu den Grundannahmen in der Studie, die im Kern aber
Selbstverständlichkeiten
waren, zählen:

  • die UdSSR wird ihren Anspruch, Weltmacht, Großmacht und Supermacht zu sein, verteidigen;
  • die UdSSR wird die Parität mit den USA vor allem auf politischem und militärischem Gebiet verteidigen;
  • die UdSSR wird ihre nach dem Zweiten Weltkrieg errungene Position der Stärke in Europa verteidigen.

Sodann breitet die Studie eine breite Palette von tiefgreifenden Problemen aus, vor denen die UdSSR als Ganzes und ihre Führung sowie ihre Bündnispartner stehen. Die Nichtbewältigung dieser fundamentalen Probleme, der die Weigerung vorangegangen ist, sie in ihrer existenziellen Bedeutung überhaupt im gebotenen Maße zur Kenntnis zu nehmen, bewirkte schließlich den Zusammenbruch des Realsozialismus in Ost- und Südosteuropa in den Jahren 1989 bis 1991.

Das NATO-Dokument von 1978 listet sie, zum Teil wiederholt bzw. in unterschiedlichen Zusammenhängen oder Nuancierungen. folgendermaßen auf:


1. Ökonomische Schwierigkeiten

Sie werden als ein Hauptfaktor der (relativen - L.S.) Instabilität des Sowjetsystems eingeschätzt. Das Regierungs- und Verwaltungssystem der UdSSR ist unfähig, eine Wirtschaft zu schaffen, die den Anforderungen der heutigen Zeit entspricht. Das Land - zweitstärkste Industriemacht der Erde - werde wahrscheinlich in eine lange Periode verminderten Wachstums eintreten. Belief es sich beim Bruttonationalprodukt (BNP) zwischen 1950 und 1970 jährlich auf durchschnittlich 5,3 Prozent, so zwischen 1971 und 1975 lediglich entsprechend auf 3,8 Prozent. Jetzt werden sogar nur 3 Prozent befürchtet. Das betrifft die Schwer- und die Leichtindustrie gleichermaßen. Hier stehen eigentlich erhebliche Investitionen auf der Tagesordnung. Dies umso mehr, als der Konsumtionsbedarf der Bevölkerung immer drängender wird. Sinkende Geburtenraten bewirken, dass die Qualität und Verfügbarkeit der Arbeitskräfte dauerhaft abnehmen, besonders in der Industrie und im Dienstleistungssektor. Der Staat hat nur begrenzte (im NATO-Dokument aufgezählte) Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken, darunter die Reduzierung der Militärdienstzeit.

Weitere sehr nachteilige Faktoren sind u. a. die Schwerfälligkeit des bürokratischen Apparats, die Abschottung des (leistungsfähigen - L.S.) militärischen Sektors vom zivilen und die Restriktionen für den wissenschaftlich-technischen Austausch mit dem Westen. Dabei seien Technologieimporte aus dem Westen besonders für die Chemie-, Erdöl- bzw. Erdgas- und Automobilindustrie sowie in der Informationstechnik und Mikroelektronik dringend erforderlich. Dem stünden jedoch hohe Außenhandelsdefizite und Schulden in Devisen gegenüber.

Größte Sorgen bereitete Moskau dazu die Landwirtschaft. Sie trägt zu einem Fünftel zum BNP bei, bindet jedoch ein Viertel bis ein Drittel des Arbeitskräftereservoirs (in den USA und Kanada fünf Prozent). In der Gesamtschau magere Böden, schlechte klimatische Bedingungen, gering qualifizierte Arbeitskräfte, ein Investitionsstau bei Landtechnik, ein zu geringer Einsatz der Agrochemie, ungeeignete Organisationsformen und mangelnde Stimulation sind die schwerwiegendsten Probleme.

Die wirtschaftliche Lage der UdSSR macht es auch zunehmend komplizierter, wenn nicht gar unmöglich, die Ressourcen für neue Militärprogramme zu erschließen. Trotzdem wird - auch für jede neue politische Führung - die sowjetische Militärmacht absolute Priorität genießen. Dies sowohl in außen- als auch in innenpolitischer Hinsicht. Wahrscheinlich wird in der Perspektive das Wachstum des BNP hinter dem des Verteidigungsbudgets zurückbleiben, das gegenwärtig auf 11 bis 13 Prozent vom BNP veranschlagt wird, obgleich sich die Führung in Moskau eigentlich gezwungen sehen könnte, einen Gegenkurs einzuschlagen. Sie könne sich aber darauf verlassen, dass die große Masse des Volkes blind den Begründungen für die Verteidigungsausgaben folge. Die Ressourcen für die Stärkung der Militärmacht schwinden dennoch, und so werden auch die Aufwendungen für das Militär auf lange Sicht auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Doch sollten die "Sowjets" zu der Einschätzung kommen, ihr gewaltiges Militärpotenzial reiche nicht aus, würden sie ohne Zögern ihre Ausgaben dafür erhöhen, und die Bevölkerung würde das akzeptieren. Das Fehlen einer effektiven Wirtschaft macht die Sowjetunion zu einer unvollständigen Supermacht; das einzige Attribut dafür ist die Militärmacht.

Zunehmende wirtschaftliche Komplikationen werden sich auch bei den osteuropäischen Verbündeten der UdSSR einstellen. Wohl seien dort in den zurückliegenden 15 Jahren die nationalen Wirtschaften und der relative Wohlstand fühlbar gestiegen. Die DDR und die CSSR haben im BNP sogar zu vielen westlichen Staaten aufgeschlossen, in bestimmten Bereichen habe das Industriepotenzial Osteuropas mit dem in Westeuropa gleichgezogen, und bei Konsumgütern bessere sich die Lage, allerdings bei zurückgebliebener Qualität. Dagegen stünde eine Verlangsamung des industriellen Wachstums. Dazu kämen die Abhängigkeit von Getreide- und Erdölimporten, veraltete Industrieanlagen, die unbefriedigende Lage in der Landwirtschaft, fehlende Anreize zur Erhöhung der Produktivität, eine Besorgnis erregende demographische Entwicklung, die hohe Verschuldung gegenüber dem Westen und die Notwendigkeit, die Westimporte zurückzufahren und die Exporte dorthin zu steigern. Die UdSSR sei an einer prosperierenden wirtschaftlichen Entwicklung in Osteuropa interessiert, einschließlich entsprechender Kontakte zum Westen. Deshalb werde Moskau den Partnern auch weiter Rohstoffe und Energieträgern zu günstigen Preisen verkaufen. Doch würde es Einschränkungen bei der Lieferung von Erdöl geben, erst recht, wenn es in der Sowjetunion in den 1980er Jahren zu einer Energiekrise kommen sollte. Es bestehe aber ein gegenseitiges Aufeinanderangewiesensein, wogegen die hinter den Erwartungen zurückbleibende ökonomische Integration im RGW stehe.(11)

Angesichts all dessen befänden sich auf der Agenda in den osteuropäischen Staaten umfangreiche Reformen, besonders in Richtung Steigerung der materiellen Anreize, Einführung einer realistischen Preisstruktur und Dezentralisierung. Zweifel sind jedoch angebracht, ob dazu die politischen Führungen in der Lage sind, besonders in Anbetracht der Haltung Moskaus. Durch ökonomisches Flickwerk und "mit ein bisschen Glück" haben alle Regierungen in Osteuropa oder viele von ihnen die Chance, die wirtschaftlichen Unwetter der nächsten Jahre zu überstehen.

Am kompliziertesten sei es aber in Polen, wo die Unzufriedenheit der Werktätigen am größten ist, und in der DDR, auf die die Anziehungskraft der benachbarten Bundesrepublik wirke. In beiden Ländern, vor allem in Polen, könnte in den nächsten zehn Jahren eine explosive Situation entstehen, wenn dort die Arbeiter, die Intelligenz, die Kirche, Nationalisten und "Anti-Russen" ihre Anstrengungen bündeln. Dann droht sogar ein Militärputsch und die Hilfe der UdSSR, um die alte Ordnung wieder herzustellen. Über ausgebaute Wirtschaftsbeziehungen habe der Westen die Möglichkeit, die Abhängigkeit der osteuropäischen Staaten von der Sowjetunion zu schwächen und eine Liberalisierung im Innern zu befördern.


2. Die Nachfolge in der politischen Führung

Die Herrschaft der Staatspartei ist Basis des gesamten Sowjetsystems (das damit angreifbar ist - L.S.). In der politischen Hierarchie gruppieren sich um die Führung Tausende von Technokraten und Funktionären, die vom System profitieren und die mehr aus Bequemlichkeit denn aus Überzeugung handeln. Insofern ist die Nachfolgefrage bei der politischen Führung in der UdSSR von überragender Bedeutung, gibt das NATO-Dokument zu erkennen. Für die Sowjetunion ist sie völlig offen. Dabei wirkt verschärfend, dass die eventuell wieder Turbulenzen verursachenden Verfahren bei der Erneuerung der Führungsmannschaft nicht geklärt sind. All dies ist von umso nachhaltigerer Brisanz, als die Lösung der großen ökonomischen Probleme, aber auch die Beziehungen zum Westen nicht zuletzt vom Spitzenpersonal abhängen. Angesichts des hohen Alters möglicher Nachfolger von Breshnew als KPdSU-Generalsekretär ist absehbar, dass die (unmittelbare - L.S.) Nachfolgeriege, die in sich inhomogen ist, nicht sehr lange im Amt sein wird. Im Zeitraum des personellen Wechsels, den das NATO-Dokument auf zehn Jahre veranschlagt, würden die drängendsten Fragen vor sich hergeschoben werden. Er könnte von mehrjährigen Unsicherheiten geprägt sein. Dabei werde wohl der Konservatismus die Oberhand behalten - ein Breshnewismus ohne Breshnew.

Eine optimistischere Hypothese, die mit den tiefgreifenden Wirtschaftsproblemen korrespondiert, laufe auf eine flexiblere, verjüngte und mit Technokraten durchsetzte Mannschaft hinaus, die mit Reformen eine gelenkte Umgestaltung der Sowjetgesellschaft in Richtung größerer Effektivität und Öffnung angehen könnte. Und eine fundamentale Wirtschaftsreform sowie die Lösung wachsender sozialer Probleme werden für die Sowjetunion immer zwingender. Die neue Generation ist in einem Lebensalter um die 50, verfügt über ein hohes Bildungsniveau, ist voraussichtlich weniger dogmatisch, aber nationalistischer, scheint aufnahmebereit für die Erfordernisse der modernen Welt und pragmatischer. U. U. könnten sie jedoch eine härtere Haltung gegenüber dem Westen einnehmen. Bei einem Scheitern - wie unter Chruschtschow - könnte eine Verschärfung der Repression nach innen mit ähnlichen Wirkungen nach außen folgen. Unter dem Strich scheint ein radikaler Wechsel unwahrscheinlich und ein offener Machtkampf in der Nachfolgefrage nicht zwingend. In der Übergangsphase sind Rückschläge, Unsicherheiten und widersprüchliche Entwicklungen möglich.

Bei der Mehrzahl der Verbündeten Moskaus haben die Führungen die Macht fest in den Händen. Die dortigen Staats- und Parteichefs bzw. ihre Politik werden sich bis Ende der 1980er Jahre nicht verändern, eingeschränkt allerdings dadurch, wer in der Sowjetunion auf Breshnew folgt. Ein plötzlicher Ausfall an der Staats- und Parteispitze könnte in allen osteuropäischen Ländern in einen offenen Kampf um die Nachfolge und auch in Aufruhr im Lande münden. Die relative Stabilität in Osteuropa beruht auch darauf, dass die Loyalität der Streitkräfte aller Staaten dort durchgesetzt ist. Änderungen in Friedenszeiten sind dabei nicht "absehbar. Im inneren und äußeren Konfliktfall ist dies jedoch nicht sicher. Die UdSSR könne nicht absolut auf die osteuropäischen Armeen vertrauen.


3. Der Nationalismus

Der Nationalismus bleibt in der absehbaren Zukunft eine brisante Frage, obwohl er für das "Regime" noch keine ernste Gefahr sei. Das Nationalbewusstsein entwickelt sich in bestimmten Teilen des Landes und könnte insbesondere dann noch einen Aufschwung erfahren, wenn der russische Bevölkerungsanteil abnimmt und die "Großrussen" ihre absolute Herrschaft dennoch aufrechterhalten und ein "Sowjetvolk" zusammenschmelzen wollen. Tatsächlich liege ein Missverhältnis in den Geburtenraten bei den Russen einerseits und den Völkern Transkaukasiens und Zentralasiens andererseits vor. So wachse der islamische Bevölkerungsanteil; im Jahre 2000 werde jeder vierte Sowjetbürger ein Moslem sein. Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den verschiedenen Regionen mit ihren jeweiligen Nationalitäten spitzen dieses Problem noch zu. Anlass zu ernster Besorgnis für Moskau ist besonders auch der ukrainische Nationalismus, der durch zahlreiche Auslandsukrainer angeheizt wird.

In den Ländern Osteuropas äußern sich nationalistische Tendenzen auch in der Weise, dass, bis hinein in Regierungskreise sogar ein geistiges Anknüpfen an die Vorkriegsregimes zu verzeichnen ist. Verbreitet ist traditionell die Russophobie, die sich bei anschwellender allgemeiner Unzufriedenheit noch verschärfen könnte. Eine gewisse Sowjetfeindlichkeit ist sogar in den Streitkräften anzutreffen, besonders in denen der CSSR und Ungarns. "Brennend" sei außerdem das überkommene Problem mit den nationalen Minderheiten, ohne dass es aber eine Gefahr für die Stabilität und den Zusammenhalt des "Ostblocks" darstelle. Bulgarien und Albanien könnten aber bei ihren nationalen Minoritäten einen aggressiveren Kurs einschlagen, ebenso Jugoslawien nach dem Ableben Präsident Titos.


4. Das Dissidententum

Die sowjetischen Werktätigen sind relativ geduldig, doch eine Bedrohung des Lebensniveaus könnte unter der Bevölkerung der UdSSR und ihrer Verbündeten Bewegungen auslösen. Schon jetzt haben es viele Menschen gewagt, vor dem Hintergrund ethnischer, religiöser, intellektueller, künstlerischer, wirtschaftlicher und anderer Gründe offen ihre Unzufriedenheit mit dem politischen System zu äußern. Aber: Der größte Teil des Volkes und sogar der Intelligenz akzeptiert das System und ist bereit, in ihm zu arbeiten.

Problematischer sieht es für Moskau in den anderen Staaten des Warschauer Vertrages aus, die DDR ausdrücklich eingeschlossen. Zu den alten Faktoren wie die relativ unpopulären "Regimes", Nationalismus und Anziehungskraft des Westens gesellten sich neue. Hier hinein fällt vor allem der Rückgang des Wirtschaftswachstums. Es werde immer schwieriger, die Bedürfnisse der Verbraucher zu befriedigen, hinzu kommt die Gefahr von Preissteigerungen, was eine starke Quelle für Unzufriedenheit sein könnte. Dazu addierten sich die nachlassende Bindekraft bzw. Glaubwürdigkeit der Ideologie - die UdSSR ist augenblicklich wohl zum ersten Mal ideologisch in der Defensive - und das Aufleben des Dissidententums. Gegenüber ersterer zeigen die Menschen eine allgemeine Apathie, und das Dissidententum könnte mit den nationalistischen Strömungen und den Kirchen eine Verbindung eingehen.

All dies könnte zu tiefgreifenderen Destabilisierungen als in der Sowjetunion führen, besonders in Polen, obwohl die osteuropäischen"Regimes" in der Obhut Moskaus augenblicklich noch fest im Sattel säßen; die DDR ist sogar existenziell auf die UdSSR angewiesen. Die Menschen in Osteuropa haben einerseits offenbar resigniert und ziehen sich vor dem Druck der Staatsmacht und der Bürokratie in das Private zurück. Andererseits wollen sie auch die relativen Fortschritte im Lebensniveau nicht gefährden. So werden wahrscheinlich die Faktoren der Stabilität jene der Instabilität überwiegen.

Im unmittelbaren Bezug auf das Dissidententum ist in vielen Ländern Osteuropas eine wachsende Unterstützung von verschiedener Seite festzustellen. Zunehmend fühlbareren Einfluss entfalten die bürgerlichen Menschenrechte und in dieser Hinsicht die Inhalte der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975, die Ermutigung der Opposition durch die westliche Politik, aber auch der Eurokommunismus. Das Klima für die Thesen der Dissidenten bleibt günstig.

Aber: Es existiert noch keine echte Oppositionsbewegung, also eine Opposition mit einer gewissen Breite, weil dafür die breite Unterstützung durch die Bevölkerung fehlt. Außerdem ist keine Koordination zwischen den Dissidentengruppen zu erkennen, so dass sie weiterhin wahrscheinlich isoliert bleiben. Im Ergebnis wird das Dissidententum in den 1980er Jahren aller Voraussicht nach keine wichtigere Rolle spielen als heute, nur der Druck auf die Opposition wird stärker werden.

Die "Regimes" ihrerseits könnten in Zukunft ein höheres Maß an Toleranz an den Tag legen. Das trifft schon jetzt auf die Kirchen zu, mit denen ein modus vivendi hergestellt wurde. Ihr Einfluss ist im Übrigen begrenzt, und sie stellen keine Gefahr für die "Regimes" dar. Polen ist ein Sonderfall, wo sich der Klerus mit den Protestbewegungen der Werktätigen und Intellektuellen verbünden könnte. Ähnliches könnte sich nach dem Tod von Parteichef Kádár in Ungarn abspielen.

Ziel des Westens, der Wille der Regierungen und der öffentlichen Meinung, sei es, in das "kommunistische Lager" die Debatte über die demokratischen und die Menschenrechte hineinzutragen, eingeschlossen die religiöse Freiheit. Auch die Entwicklung der menschlichen Kontakte zwischen Ost und West stehe auf der Tagesordnung. Sie hat bisher noch nicht zu den vom Westen gewünschten Effekten geführt, nachgelassen werden dürfe aber dabei nicht. Die Aufrechterhaltung politischer, gesellschaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher Beziehungen gemäß dem eigenen Verständnis von Entspannung (hier klingt die 1963 von Egon Bahr entwickelte Konzeption des "Wandels durch Annäherung" an) sei der beste Weg für den Westen, Einfluss auf den Osten auszuüben. aber auch um die Hegemonie der UdSSR über Osteuropa einzuschränken. Speziell für die Sowjetunion gehe es darum, die Toleranz und den Liberalismus voranzubringen.

In Bezug auf die Außenpolitik erkennt die Studie der NATO bei der UdSSR zwar eine moderatere Linie, jedoch seien die Ziele unverändert; zum Teil knüpft sie an diese des Zarenreiches an,(12) und sie schwankt zwischen Pragmatismus und Ideologie: Verteidigung des eigenen Territoriums gegen den Kapitalismus, aber auch gegen China, Erhalt der Hegemonie in Osteuropa und damit des territorialen Vorfeldes mit dem Hauptinstrument des Warschauer Vertrages, Expansion (besonders im Nahen Osten, in Südasien und Afrika) und Vorantreiben des revolutionären Weltprozesses, Stärkung der Rolle der UdSSR als Führerin der internationalen kommunistischen Bewegung, Verhinderung einer deutschen Wiedervereinigung, Erhalt des Status von Westberlin als besonderer politischer Einheit.

Zu den westlichen Staaten strebt Moskau einen neuen Typ der Beziehungen an. Bei Begrenzung der Entspannung auf die zwischenstaatliche Ebene (also nicht auf die zwischen den Menschen) will Moskau eine gewisse Stabilität erreichen und eine militärische Konfrontation vermeiden. Das Verhältnis zu den USA ist dabei von besonderer Bedeutung. Dies hauptsächlich, um die gleichberechtigte Rolle auf der Weltbühne zu betonen, am Management internationaler Krisen teilzunehmen (womit eine Eskalation in einen nuklearen Weltkrieg verhindert werden soll), das Wettrüsten zu begrenzen und eine Annäherung Washingtons und Pekings zu hintertreiben.

Bei den Analysen im militärischen Bereich wird die teilweise Widersprüchlichkeit der NATO-Studie mit am deutlichsten. Einerseits räumt sie ein, dass die Verteidigung des eigenen Territoriums für die Sowjetunion an oberster Stelle steht, was auch aus historischen Erfahrungen mit ausländischen Interventionen erwächst.(13) Hier liegt eines der wichtigsten Motive für die absolute Priorität, die der sowjetischen Militärmacht eingeräumt wird. Der Hauptauftrag der Streitkräfte des Warschauer Vertrages, von denen nach der Sowjetarmee diejenigen der DDR, Polens und Bulgariens die leistungsfähigsten darstellen, ist ebenfalls die Verteidigung der territorialen Integrität. Eingeräumt wird, dass die sowjetischen Streitkräfte ein politisches Instrument sind, weniger eines, um Krieg zu führen. Es ist Instrument der Innen-, vor allem aber der Außenpolitik, auch mit Blick auf die nichtpaktgebundenen Nachbarländer und die Dritte Welt. In erster Linie aber ist es für Moskau das erstrangige Attribut für den Status als Supermacht (zumal beim sonstigen wirtschaftlichen und technologischen Rückstand und der nachlassenden ideologischen Ausstrahlung). Es dient der eigenen Sicherheit, der Kontrolle Osteuropas und dazu, eine Abschreckungswirkung gegen die den Westmächten und China zugeschrieben Absichten zu entfalten. Sollte sich die Sowjetunion vor die Entscheidung gestellt sehen: Entspannung oder Erhalt des "Imperiums", werde sie sich für das Letztere entscheiden.

Im Kontrast dazu tauchen an verschiedenen Stellen Passagen auf, die das Gegenteil, zumindest aber aggressive Absichten Moskaus, nahelegen. Man beobachte, ungeachtet der ökonomischen und sozio-politischen Probleme, ein fortdauerndes Anwachsen der sowjetischen Militärmacht, und zwar aller Teilstreitkräfte, auch im Rahmen des Warschauer Vertrages insgesamt. Ihr Umfang werde stabil bleiben, aber die materielle Ausstattung verbessere sich immer mehr. Das betrifft Feuerkraft, Mobilität und Flexibilität, womit künftig auch Operationen mit großer Effektivität selbst in entfernten Gebieten geführt werden können. Dazu dienten besonders auch die sich rapide entwickelnden Seestreitkräfte, die immer mehr in die warmen Meere vorgeschoben werden. Gegner sind die "revanchistischen Kapitalisten", aber auch - langfristig - China. Gegen sie wird der Akzent zunehmend auf offensive Rüstungen gelegt. Sollte sich das Kräfteverhältnis spürbar zugunsten des Warschauer Vertrages verändern, könnten die "Sowjets" versucht sein, ihre Militärmacht direkter als Mittel der Politik einzusetzen. Auch innere Probleme wie mehrere schlechte Ernten hintereinander, andauernde wirtschaftliche Schwierigkeiten oder Turbulenzen in Osteuropa könnten Moskau dazu veranlassen. Allerdings existiert dafür offenbar kein auf lange Sicht angelegter Generalplan.

Ungeachtet aller kritischen Sichten verschließt die NATO-Studie nicht die Augen vor den Stärken des sowjetischen und auf die ost- bzw. südosteuropäischen Staaten prinzipiell übertragenen Gesellschafts- und Staatsmodells, wobei zum Teil zwischen der Sowjetunion einerseits und ihren Verbündeten andererseits sowie zwischen den Verbündeten durchaus Unterschiede festgestellt wurden.

Aufgeführt werden:

  • die UdSSR durchlebt gegenwärtig die längste Periode des äußeren und des sozialen Friedens ihrer Geschichte, die Bevölkerung empfindet im bestimmten Maße ein Gefühl der persönlichen Sicherheit und Stabilität, die in der Ära Stalins völlig fehlten und in der Chruschtschows nur schwach ausgeprägt waren;
  • das zurückliegende Jahrzehnt sah in der Sowjetunion einen spürbaren, wenn auch ungleich verteilten Anstieg des Lebensstandards;
  • in der Bevölkerung gibt es keinerlei Anzeichen einer Unzufriedenheit, die die Stabilität des "Regimes" gefährden könnte;
  • obwohl ein Großteil der Menschen das westliche System wegen seiner Freiheiten und wirtschaftlichen Leistungskraft bewundert, würden sie bei freier Wahl wahrscheinlich viele Aspekte des Sozialismus bewahren wollen.

Die NATO-Studie ist keine direkte Richtlinie, wie der Westen auf die Sowjetunion und ihre Verbündeten einwirken sollte, um deren Zusammenbruch zu befördern. Dies wäre schon allein deshalb nicht durchzusetzen gewesen, weil in der NATO das Einstimmigkeitsprinzip herrscht: Kein Grundsatzdokument, erst recht keines von der strategischen Bedeutung der Ost-West-Studie von 1978, könnte mit Gegenstimmen verabschiedet werden. Vor allem aber kleinere Paktmitglieder wären für einen offen aggressiven Kurs nicht zu gewinnen gewesen. Divergenzen wurden und werden deshalb im Vorfeld ausgeräumt, und es wird Zuflucht zu Formelkompromissen bzw. verklausulierten Abreden gesucht, die allen Beteiligten die gewünschten Interpretationsspielräume belassen. Außerdem nutzt man Bilder, die die eigentlichen Ziele in der Diplomatensprache ausreichend beschreiben. Sollte man folgenden Satz nicht verstehen? "Das Vorankommen einer zivilisierteren Gesellschaft in der UdSSR und im sowjetischen Block entspricht den Interessen des Westens."

All das findet man in der Ost-West-Studie. Allein das Auflisten von Stärken und Schwächen der Gegenseite offenbart die für notwendig erachteten Ansätze für die eigene Politik. Meinungsverschiedenheiten traten aber offensichtlich dennoch auf und zwangen dazu, am 24. Mai 1978 aus dem zweiten Teil ("Allgemeine Bewertung") mit einer "Berichtigung" ein ganzes Kapitel von acht Seiten herauszunehmen: "Offene Gebiete für die westliche Einflussnahme".

Dies ändert jedoch nichts daran, dass man sich ja zunächst auf die Inhalte des Kapitels verständigt hatte. Und somit waren sie in der Welt, wirkten indirekt als Vorgabe für das Agieren auf der internationalen Bühne. Es empfiehlt sich, das gestrichene Kapitel des Dokuments mit dem beibehaltenen Teil III unter der Überschrift "Konsequenzen für die Allianz" auf die darin vermittelt enthaltenen Impulse zur Auseinandersetzung mit dem östlichen Gegner hin zu untersuchen:

Die einzig effektive Art, um auf die UdSSR einzuwirken und sie von der Ausweitung ihrer Einflusszone(n) abzuhalten, sei eine glaubwürdige militärische Abschreckung, den politischen Zusammenhalt des Westens aufrechtzuerhalten und es für die Sowjetunion teuer und gefährlich zu machen, die eine oder andere Situation in der Welt auszunutzen.(14) Die Abschreckungsdoktrin und die Bedrohungsszenarien sind Zwillingsschwestern.(15) Der Kalte Krieg hat stets aufs Neue bewiesen, dass beide für den Nordatlantikpakt allein dazu dienten, immer wieder weitere Runden der Auf- und Hochrüstung zu begründen. An anderer Stelle fügt die NATO-Studie hinzu, dass Abschreckung allein nicht ausreiche. Mit dem Ziel, das Erstarken des sowjetischen Militärpotenzials zu verhindern, sollte der Westen auch Rüstungskontrolle und Abrüstung betreiben.

In einer sich schnell verändernden Welt gäbe es auch weniger "brutale" Möglichkeiten, um geschickt auf die "Sowjets" einzuwirken. Beispiele sind der Technologietransfers und die Entwicklung von Ost-West-Kontakten zwischen Wissenschaftlern, Außenhandelsexperten und Technikern. Handelsbeziehungen, Kreditgewährung eingeschlossen, seien für den Westen geeignet, Einfluss auf die sowjetische Politik zu nehmen. Sei es, indem sie forciert, oder sei es, indem sie abgebrochen oder heruntergefahren werden. Wird an diesem Punkt schon erkennbar, dass die Wirtschaftsbeziehungen zum Osten den politischen Interessen untergeordnet sind, so wird die Studie in Bezug auf Kredite noch deutlicher: Es sei möglich, dass der Westen aus politischen und ökonomischen Gründen einmal nicht mehr bereit sein könnte, "den Ländern des Ostens unbegrenzte Kredite zur Verfügung zu stellen." Bei alledem müsse jedoch Vorsicht walten, denn das Ausüben von Druck könne beim Zielobjekt zu Autarkieanstrengungen führen, die nicht im Interesse des Westens lägen. Im Übrigen: Unabhängig von der Politik ziehe der Westen auch Ökonomische Vorteile aus den genannten Wirtschaftsbeziehungen, deren Nutzen im Übrigen für den Militärisch-Industriellen Komplex der UdSSR schwer zu bewerten ist, aber nicht überschätzt werden sollte. Unter dem Strich bewirke der ökonomische Austausch mit der Sowjetunion und erst recht der mit den osteuropäischen Staaten mehr positive als negative Effekte, vor allem in Richtung von mehr Weltoffenheit und gesellschaftlicher Liberalisierung.

In anderen Passagen wird ausgeführt: Sollten die künftigen Führer der UdSSR einen "negativeren" Kurs gegenüber dem Westen einschlagen, dann werde ihnen der Preis dafür klar werden. In diesem Umfeld kann man in der Sowjetunion schon heute die "Westorientierten" und die "Slawophilen" unterscheiden. Der Westen sollte Moskau deutlich vor Augen führen, dass es besser ist, mit ihm zu kooperieren als sich in eine Konfrontation zu begeben. Gegenüber der Dritten Welt sollte aufgezeigt werden, dass der Osten auf lange Sicht unfähig zu einem wirksamen Beitrag zu einer neuen Weltwirtschaftsordnung ist. Umgekehrt sollte der Westen "wirkliche" Nichtpaktgebundenheit und Neutralität ermutigen, ebenso die Lösung zahlreicher Länder der Dritten Welt von der UdSSR. Der wachsenden Einflussnahme Moskaus auf die Dritte Welt muss der Westen entgegentreten. Auf dem Gebiet der Geheimdienste sollte der Westen entschlossen und angemessen handeln, wobei das NATO-Dokument als Argument die wahrscheinliche Fortführung subversiver Handlungen von Seiten der UdSSR verbringt.

Bei den Darlegungen zu den militärischen Faktoren gibt die Ost-West-Studie indirekt die Begründungen für die Hauptrichtungen der eigenen Aufrüstung vor. Sie stellt eine beiderseits akzeptierte annähernde Parität bei den strategischen Kernwaffen und Vorteile des Westens bei den taktischen Nuklearwaffen und den Seestreitkräften (mit Ausnahme der U-Boot-Waffe) fest. Bei der Marine von einer "Parität" zu sprechen, sei irrig und gefährlich - sie soll also nicht zugelassen werden. Eine klare Überlegenheit des Ostens existiere aber bei den konventionellen Streitkräften. Sie seien auf Offensive ausgerichtet und überstiegen weit die Verteidigungserfordernisse. Eine weitere Stärkung des östlichen konventionellen Potenzials könnte zu einer Sprengung des Gleichgewichts zugunsten der Organisation des Warschauer Vertrages und dazu führen, dass die UdSSR die politische Initiative in Europa und anderen Teilen der Welt ergreift. So lange Rüstungsbegrenzungsabmachungen, die angestrebt werden sollten, fehlen, müsse deshalb die NATO die Modernisierung und Stärkung des eigenen Militärpotenzials vorantreiben. Dafür blieben aber die Zustimmung der öffentlichen Meinung und die Einheit unter den Alliierten unabdingbar.

Als die NATO die für die politische Strategie des Bündnisses bis Ende der 1980er Jahre fundamentale Studie formulierte und verabschiedete, reiften die komplettierenden militärischen Programme aus. Gleichzeitig nahm das westliche Interesse an Rüstungsbegrenzung und Abrüstung spürbar ab, was in der schließlichen Nichtratifizierung des am 18. Juni 1979 unterzeichneten Vertrages über die Begrenzung der strategischen Waffen (SALT II) seinen sichtbarsten Ausdruck fand.

Am 28. Oktober 1977 öffnete Bundeskanzler Helmut Schmidt den Weg zur Stationierung neuartiger nuklearer Mittelstreckenwaffen strategischer Bestimmung in Westeuropa. Der mündete in den NATO-"Doppelbeschluss" vom 12. Dezember 1979 zur Aufstellung von MGM-31 C PERSHING 2 sowie von landgestützten Cruise Missiles in Westeuropa - ein strategischer Schachzug zur Erringung der militärischen Überlegenheit und zum "Totrüsten" des östlichen Gegners. Von annähernder Qualität war das LTDP, nicht zufällig angenommen auf der gleichen NAC-Tagung vom Mai 1978 wie die Ost-West-Studie. Aufgeschlüsselt in zehn Komplexe, berechnet für eine Laufzeit von 15 Jahren (1978 bis 1992), veranschlagt mit Kosten von 60 bis 80 Milliarden Dollar und mit 180 Einzelmaßnahmen war es der seit den (gescheiterten) Beschlüssen der NAC-Tagung in Lissabon von 1952 massivste Versuch zur Veränderung des bestehenden militärischen West-Ost-Kräfteverhältnisses zugunsten der NATO. Das betraf vor allem das Gebiet der konventionellen Streitkräfte und Rüstungen. Durch kontinuierliche Beschlüsse des Verteidigungsplanungsausschusses (DPC) und der Europagruppe aktualisierte die NATO die Grundidee des LTDP ständig. Der so genannte Rogersplan von 1982, zu dem auch Präventivschläge mit konventionellen, nuklearen und chemischen Waffen gehörten, bzw. das Konzept des Angriffs auf die Nachfolgenden Kräfte (FOFA) lieferten die adäquaten Ideen für das militärische Vorgehen auf dem wichtigsten Kriegsschauplatz in Europa. Unter der 1981 begonnenen Präsidentschaft Reagans in den USA wurde dieser Kurs dann mit dem "Kreuzzug gegen den Kommunismus" in die offene Konfrontationspolitik übergeleitet, militärisch durch das Projekt einer umfassenden Militarisierung des Weltraums in Gestalt der so genannten Strategischen Verteidigungsinitiative (SDI) zusätzlich untermauert. Reagan verkündete es am 23. März 1983.

Parallel dazu hielt die Kampagne zur ideologischen Beeinflussung der Menschen in den sozialistischen Ländern an, wobei unter Rückgriff auf den so genannten Korb III der KSZE-Schlussakte von Helsinki vor allem mit der von dem 1977 ins Amt gekommenen USA-Präsidenten Carter beförderten Menschenrechtsargumentation erhebliche Erfolge und sogar Einbrüche erzielt werden konnten. Dies vor allem im schwächsten Glied der realsozialistischen Phalanx, in Polen. Dafür stand vor allem auch der am 16. Oktober 1978 zum 264. Papst erkorene, streng antikommunistische Landsmann Karol Wojtyla. Als Johannes Paul II. förderte er fortan politisch und moralisch das antisozialistische Lager in seinem Heimatland und rief mehr oder weniger offen zum Sturz der bestehenden Ordnung auf. Allein über die Bank des Vatikans und ihre Verflechtungen flossen der als Gewerkschaft deklarierten entscheidenden Oppositionsbewegung Solidarnosc insgesamt zwischen 50 und 100 Millionen Dollar zu.

Insgesamt ist die Feststellung angebracht: Die "Studie über die langfristigen Tendenzen in den Ost-West-Beziehungen der NATO vom Mai 1978 trug als strategisches Leitlinienpapier des Nordatlantikpakts nachhaltig zur machtpolitischen Vorentscheidung in der Auseinandersetzung der beiden antagonistischen Weltsysteme bei, flankiert von neuen Runden der Aufrüstung des Militärblocks und einem ergebnisreichen ideologischen Feldzug. Die immer offensichtlicher werdende gesellschaftliche Krise in der UdSSR und in den mit ihr verbündeten sozialistischen Ländern sowie gravierende Fehlentscheidungen ihrer Führungen auf allen Politikfeldern führten in der Tat zum welthistorischen Erfolg des Westens über den Sozialismus in Europa Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre.


Lothar Schröter, Dr. sc. phil., Militärhistoriker, Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V.


Anmerkungen

(1) Stark gekürzter Beitrag. Ungekürzt nachzulesen unter
http://archiv.neue-impulse-verlag.de/veroeffentlichungen/masch-skripte/139-nato-jagt-roter-oktober.html

Vom Autor ebenfalls erschienen: Die NATO im Kalten Krieg, 2 Bände, Berlin 2009, Kai Homilius Verlag, je Band 34.80 Euro.
(Einige Ausgaben sind noch beim Autor zu einem herabgesetzten Preis erhältlich, Tel. 033845 305 83)

(2) Markus Wolf, Spionagechef im geheimen Krieg, Erinnerungen, Berlin 1997, S. 427.

(3) Siehe ebd., S. 427f.

(4) Er sagte, dass die Sowjetunion keinerlei Absicht habe - und es läge auch nicht in ihrem Interesse -, ihre Politik der Entspannung aufzugeben.

(5) Zit. nach: Rede des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Ronald Reagan, in London vor beiden Häusern des Britischen Parlaments am 8. Juni 1982 (Auszüge). In: Europa-Archiv, Bonn, Folge 17/1982, S. D 421.

(6) Zit. nach: Wer torpediert die Genfer Verhandlungen? Tatsachen und imperialistische Selbstzeugnisse beweisen USA-Obstruktionspolitik. In: Neues Deutschland, Ausgabe B, Berlin (Ost), 18. November 1983, S. 3; Archiv der Gegenwart, Sankt Augustin 1983, S. 26463; Blätter für deutsche und internationale Politik, Köln, H. 7/1983, S. 999f.

(7) Siehe The New York Times, New York, 31. Mai 1982. In: Das geheime Pentagon-Programm ("Leitlinien-Dokument") zur umfassenden Kriegsvorbereitung 1984-1988. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Köln, H. 8/1982, S. 1012.

(8) Zit. nach: Wer torpediert die Genfer Verhandlungen? Tatsachen und imperialistische Selbstzeugnisse beweisen USA-Obstruktionspolitik, a.a.O.

(9) Zit. nach: Colin S. Gray/Keith Payne, "Sieg ist möglich". Eine amerikanische Einladung zum Atomkrieg. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Köln, H. 12/1980, S. 1506. Bei alledem waren diese Strategieberater auch zu einem hohen Preis der USA bereit. Gray schrieb in der "Washington Post" vom 14. Mai 1982: "Niemand kann eine Nuklearstrategie entwickeln, die weniger als zwischen fünf und zwanzig Millionen Fronttote nach sich zieht. Wenn wir dies in einem größeren Krieg, der nicht nach einer sehr leichten ersten Runde beendet wird, erreichen könnten, wären wir extrem gut" (Zit. nach: Zu neuen Tendenzen in der Strategie der USA. In: Militärpolitische Informationen, Strausberg, H. 1/1983, S. 8.).

(10) Étude par l'Alliance des relations Est-Ouest. Rapport du Conseil permanent. C-M(78)35(Révisé), a.a.O., S. 6.

(11) Siehe ebd., S. 29f. Ergänzend heißt es, die UdSSR werde alle Anstrengungen unternehmen, um den RGW zu stärken. Er diene der Kontrolle Osteuropas und sei auch Basis der Organisation des Warschauer Vertrages. (Siehe ebenda, S. 56)

(12) Siehe ebd., S. 34. Das NATO-Dokument postuliert, es gäbe zwischen dem Sowjet- und dem zaristischen Staat weniger Differenzen als zwischen ersterem und den "westlichen Demokratien". (Siehe ebd., S. 48)

(13) Siehe ebd., S. 42, 76. An anderer Stelle stellt die NATO-Ost-West-Studie fast verwundert fest, dass die UdSSR 60 Jahre nach der Oktoberrevolution immer noch nicht den Belagerungskomplex verloren habe. (Siehe ebenda, S. 47)

(14) Siehe Étude par l'Alliance des relations Est-Ouest. Rapport du Conseil permanent. C-M(78)35(Révisé), a.a.O., S. 67. Siehe auch S. 58.

(15) Siehe Gerhard Kade, Die Bedrohungslüge. Die Legende von der "Gefahr aus dem Osten", Berlin (Ost) 1981.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-17, 55. Jahrgang, S. 127-138
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Februar 2018

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