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OSSIETZKY/891: Niemand war schon immer da!


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 4 vom 13. Februar 2016

Niemand war schon immer da!

Von Susanna Böhme-Kuby


In Zürich kann man gleich beim Hauptbahnhof das Landesmuseum besuchen. Dort gibt es eine dreiteilige Dauerausstellung zur Geschichte der Schweiz: Sie beginnt mit dem Themenkomplex Migration, einem konstituierenden Element der Gesellschaft der Alpenrepublik, immerhin beträgt der Ausländeranteil heute gut 24 Prozent, also rund zwei von acht Millionen Einwohnern.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg von einem überwiegenden Agrarland zur Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft mutiert, nahm die Schweiz allein während der 50er und 60er Jahre - trotz aller Restriktionen - eine Million Italiener auf.

"Armut ist ein Grund, die Heimat zu verlassen" steht in großen Lettern am Anfang des Rundgangs, auch "Klimawandel, Glaubenskriege und politische Verfolgung" gaben Anlass dazu.

Im Übrigen bildet die gesamte Geschichte der Menschheit eine Abfolge von wirtschaftlich bedingten Wanderungsbewegungen - weltweit. Das allein müsste die aktuellen Spitzfindigkeiten der europäischen Regierungen bei der Unterscheidung zwischen "schutzwürdigen" Kriegs- und "nicht-schutzwürdigen" Wirtschaftsflüchtlingen ad absurdum führen, ungeachtet all der praktischen Schwierigkeiten einer solchen Trennung. Da man zudem auch das Asylrecht in Deutschland und anderswo de jure und de facto unterhöhlt und limitiert, indem man es allein ökonomischen Interessen der Aufnahmeländer unterordnet, drängt sich der Vergleich zur Situation der 30er und 40erJahre geradezu auf, als die aus Nazideutschland (einschließlich Österreich ab 1938) fliehenden Juden häufig vor geschlossenen Grenzen in Europa standen, so auch vor der schweizerischen.

Dass selbst in der auf ihren besonderen Rechtsstaat (sogenannte direkte Demokratie) stolzen Schweiz die Rechtslage der heute dort regulär lebenden Ausländer sich von der ihrer eigenen Staatsbürger unterscheiden soll, zeigte der im November 2010 erfolgte mehrheitliche Volksentscheid zugunsten der "Ausschaffung krimineller Ausländer". Da allerdings bisher kein diesbezügliches Gesetz in Kraft getreten ist beziehungsweise im März 2015 eine mildernde "Härtefallklausel" erlassen wurde, hat sich nun die rechte Schweizerische Volkspartei (SVP) erneut zum Verfechter der "Sicherheit des Standortes Schweiz" und der "Unversehrtheit der Schweizer Familien" gemacht und fordert in einer großangelegten Angstkampagne mit Propaganda von Tür zu Tür die Wähler für den 28. Februar zur Abstimmung über eine sogenannte Durchsetzungsinitiative auf, die nun die umgehende Abschiebung straffällig gewordener Bewohner des Landes ohne Schweizer Pass besiegeln soll. Sie betrifft zwei Millionen in der Schweiz lebende Menschen und bedeutet einen massiven Angriff auf den demokratischen Rechtsstaat. Die Wochenzeitung WOZ verleiht den Gegnern der Initiative ihre Stimme und weist eben daraufhin, dass diese die Rechtsgleichheit, das Verhältnismäßigkeitsprinzip, die Gewaltenteilung und die Menschenrechte generell angreift. Denn es kann zum Beispiel passieren, dass Familien nur wegen zweier Bagatelldelikte eines Angehörigen auseinandergerissen werden oder dass sogenannte Secondos, das sind in der Schweiz geborene Ausländer, in Länder ausgewiesen werden, in denen sie nie gelebt haben.

Und in dem Angstklima, das auch in Deutschland inzwischen fast alle politischen Parteien alimentieren, wird nun hier Ähnliches gefordert: Straffällig gewordene Ausländer und Asylbewerber sollen "umgehend" in "sichere Herkunftsländer oder Drittstaaten" abgeschoben werden, fordern AfD, CSU, CDU und SPD, zudem verkündet Andrea Nahles "Leistungskürzungen für nicht integrationswillige Asylbewerber", noch ehe überhaupt nennenswerte Zahlen über eine erfolgte Asylgewährung vorliegen. De facto bedeutet das jüngste Asylpaket von Ende Januar eine deutliche Kursänderung in Deutschland. Auf der politischen Ebene will noch immer keiner bemerken, dass nicht Asylanten und Migranten kommen, sondern Menschen (in Anlehnung an Max Frischs einstige Feststellung: "Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen"). Von alledem werden - as usual - nur die rechten Kräfte profitieren. Europaweit.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Neunzehnter Jahrgang, Nr. 4 vom 13. Februar 2016, Seite 109-110
Herausgeber: Matthias Biskupek, Daniela Dahn, Dr. Rolf Gössner,
Ulla Jelpke, Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Eckart Spoo, Jürgen Krause (Korrektor)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2016

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