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OSSIETZKY/939: Gut Ding will Weile haben


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 2 vom 21. Januar 2017

Gut Ding will Weile haben

von Ralph Hartmann


2016 war ein ereignisreiches, für viele ein bedrückendes und für die Kanzlerin »ein Jahr schwerer Prüfungen«. Schlechte Nachrichten lösten einander ab, darunter die Aufdeckung von Misshandlungen und Missbrauch an Kindern bei den Regensburger Domspatzen, schreckliche Kriege in Syrien, Libyen, im Irak und Jemen, Flüchtlingskrise und Aufstieg der AfD, Sieg der Brexit-Anhänger, Terroranschläge in Europa, darunter in Paris, Nizza, Berlin, Zyklon »Winston« auf den Fidschiinseln, Hurrikan »Matthew« in der Karibik, Zunahme der Spannungen und Kriegsgefahr in Europa, Schlammschlacht um die Präsidentschaft in den USA.

Zum Glück ist der deutschen Öffentlichkeit, den so schon strapazierten Bundesbürgern, eine weitere aufregende Ungeheuerlichkeit dank der menschenfreundlichen Fürsorge unserer Leitmedien verborgen geblieben. Obwohl im März 2006 in seiner Zelle im Gefängnis in Scheveningen zu Tode gebracht, ist er wieder aufgetaucht: der »serbische Mörder und Diktator«, »Schlächter vom Balkan«, »Belgrader Unhold«, »pathologische Genius des Bösen«. Der so von der bundesdeutschen Presse von Bild bis FAZ Bezeichnete, der ehemalige langjährige Präsident Jugoslawiens und Serbiens, Slobodan Milošević, ist zehn Jahre nach seinem Ableben vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag von schwerwiegenden Anklagepunkten freigesprochen worden. Das von der NATO initiierte Gericht stellte fest, dass Milošević nicht für Kriegsverbrechen verantwortlich war, die während des Krieges in Bosnien-Herzegowina von 1992 bis 1995 begangen wurden.

Ja, ist denn das möglich? Waren denn dem nach Den Haag Entführten nicht 2002 im Gerichtssaal des Tribunals Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schwere Verletzungen der Genfer Konventionen während des Bos-nien-Kriegs von 1992 bis 1995 vorgeworfen worden? Hieß es nicht in der Anklageschrift, dass Milošević an einer kriminellen Unternehmung beteiligt war, deren Ziel die dauerhafte Vertreibung der nicht-serbischen Bevölkerungsmehrheit aus weiten Teilen Bosnien-Herzegowinas war? Hatte der Staatsanwalt Geoffrey Nice, rein zufällig aus dem NATO-Staat Großbritannien kommend, nicht überzeugend die Schuld Miloševićs nachgewiesen und festgestellt: »Der Angeklagte beabsichtigte, die bosnisch-muslimische und die bosnisch-kroatische Volksgruppe teilweise zu vernichten, was die Definition von Völkermord erfüllt.« [1] Und nun, 14 Jahre nach dieser schwerwiegenden Anklage, diese Wendung?

Tatsächlich, das gleiche Gericht kam im Urteil über den bosnisch-serbischen Präsidenten Radovan Karadžć, der wegen Kriegsverbrechen zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, zu der Feststellung: »Das Gericht verfügte über keinerlei Beweismaterial, dass Slobodan Milošević mit dem gemeinsamen Plan [der Vertreibung der Moslems und Kroaten im Bosnienkrieg; R. H.] einverstanden war ... Außerdem gab es frühzeitig, etwa ab März 1992, offensichtliche Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Angeklagten und Milošević bei Treffen ..., in deren Verlauf Milošević und andere serbische Vertreter die bosnischen Serbenführer offen kritisierten, 'Verbrechen gegen die Menschlichkeit' und 'ethnische Säuberungen' zu begehen.« Weiter heißt es in dem Urteil: »Im Mai 1993 appellierte Slobodan Milošević an die bosnisch-serbische Versammlung, dass sie den Vance-Owen-Plan akzeptieren solle, um die desaströsen Folgen einer Fortsetzung des Krieges zu vermeiden ... Bei einem weiteren Treffen am 15. März 1994 in Belgrad unterstrich Slobodan Milošević, dass alle anderen Nationen und Ethnien geschützt werden müssen und dass das nationale Interesse der Serben nicht die Diskriminierung ist.« Schließlich konstatierte das Gericht: »Als die Republika Srpska den [Vance-Owen-]Friedensplan nicht akzeptierte, verhängte Milošević eine Blockade und suspendierte die politischen und ökonomischen Beziehungen zur bosnisch-serbischen Führung.« [2] Was bleibt nach diesen Feststellungen vom »Völkermord«-Vorwurf des Staatsanwalts Geoffrey Nice gegen Milošević? Nichts! Das Gericht hat den toten Milošević zum Kronzeugen der Anklage gegen Karadžć gemacht. Das ist ohne Zweifel eine sensationelle Wende in der Beurteilung Miloševićs durch den Internationalen Strafgerichtshof. Ein wenig verwunderlich ist allerdings die Tatsache, dass die bundesdeutschen Leitmedien, die nicht müde geworden waren, den »Belgrader Unhold« zu verdammen, darüber keine Zeile, kein einziges Wort veröffentlichten. Eigentlich sind sie bei Freisprüchen oder Begnadigungen höchst aufmerksam, selbst dann, wenn es sich um Schlachttiere handelt. So berichteten sie Ende 2016 nach dpa wortreich und anrührend, als Präsident Obama im Garten des Weißen Hauses zwei Thanksgiving-Truthähne begnadigte und vor dem Tod rettete.

Aber im Falle Milošević ist die Lage ein wenig anders. Es ist den Herren Chef- und anderen Redakteuren - wahrscheinlich und wie wäre es anders zu erklären - der ganze Sachverhalt nicht aufgefallen, immerhin hat das Haager Urteil 2540 Seiten und die Passagen über Miloševićs sind erst ab Seite 1235 zu finden. Hinzu kommt, dass es erst im März des vergangenen Jahres veröffentlicht wurde, so dass die Zeit zur Durcharbeitung des in Englisch abgefassten Dokuments einfach nicht ausreichte. Gut Ding will eben Weile haben.


Anmerkung:
[1] https://www.wsws.org/de/articles/2002/03/milo-m09.html
[2] www.icty.org/x/cases/karadzic/tjug/en/160324_judgement.pdf, Übersetzung: R. H.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Zwanzigster Jahrgang, Nr. 2 vom 21. Januar 2017, Seite 49-50
Herausgeber: Matthias Biskupek, Daniela Dahn, Dr. Rolf Gössner,
Ulla Jelpke, Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Eckart Spoo, Jürgen Krause (Korrektor)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Februar 2017

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