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ROTFUCHS/214: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 262 - November 2019



ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

22. Jahrgang, Nr. 262 - November 2019


Aus dem Inhalt
  • Nie wieder Krieg!
  • Das Ende des INF-Vertrags - die Welt in Gefahr
  • Die kapitalistische Produktionsweise gefährdet unsere Existenz
  • "Wir alle werden unseren Auftrag erfüllen!"
  • Wie Ernst Busch seinen Henkern entkam
  • Agrarreform im Alentejo
  • Das NKFD und die Bündnispolitik
  • Die "Amazonien-Synode" und die "Theologie der Erde"
  • Hans Bauer: "Manche junge Menschen sahen keine Perspektive"
  • Zauberlehrlinge
  • Migration - Das Märchen von der Sogwirkung
  • Wider den Schlaf der Vernunft
  • Hartmut König: Die untote DDR
  • 50 Jahre "Telespargel"
  • Rudi Kurz: Dagoberta und Mirella
  • Freie Wahl? Alles klar?
  • Veranstaltungen
  • Leserbriefe

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Diese Wirtschaft tötet

Die geschichtliche Zäsur, für die der 9. November 1989 steht, bedeutet eine Rückwende in eine Ära der weltweiten Konterrevolution. Im Tingeltangel der imperialistischen Medien, die damals ihren eigenen Leistungen bei der "Befreiung" Ostdeutschlands Beifall klatschten, ging ein Ereignis unter, das mehr noch als der 9. November zeigte, was weltweit bevorstand: Am Morgen des 16. November 1989 fand man in der Universität (Universidad Centroamericana - UCA) des zentralamerikanischen Staates El Salvador die Jesuiten und Wissenschaftler Ignacio Ellacuría (Rektor der UCA), Segundo Montes, Ignacio Martín-Baró, Joaquín López y López, Juan Ramón Moreno und Amando López erschossen im Garten liegend. Mit ihnen wurde auch die Köchin Elba Ramos und ihre Tochter Celina ermordet, die in dieser Nacht bei ihnen Schutz gesucht hatten. Die Täter sind bekannt: Es handelte sich um die militärische Spezialeinheit Batallón Atlácatl, die drei Tage zuvor ein Training bei US-Streitkräften erhalten hatte. Die 20 namentlich bekannten salvadorianischen Soldaten führten die Nachtsichtgeräte ihrer US-Trainer mit sich - angeblich ohne deren Wissen. Niemand wurde bis heute für die Mordtat bestraft.

Auf der Grabplatte der in der Bevölkerung El Salvadors hochverehrten "Märtyrer der UCA" steht der Grund für den Mord. Es ist ein Zitat aus einem Grundsatzpapier des Jesuitenordens aus dem Jahr 1975: "Was heißt heute Jesuit, Gefährte Jesu sein? Sich unter dem Kreuz im entscheidenden Kampf unserer Zeit einzusetzen: im Kampf für den Glauben, der den Kampf für die Gerechtigkeit mit einschließt." Der am 16. November 1989 ermordete Ignacio Ellacuría war wie die anderen ein Vertreter der "Theologie der Befreiung". Er hatte es sich zur Aufgabe gestellt, inmitten des Elends, in dem die Mehrheit der Bevölkerung ganz Lateinamerikas lebt, für gesellschaftliche Veränderung und Gerechtigkeit einzutreten. Das war sein und seiner Glaubensgenossen Todesurteil.

Damals leitete in Rom ein polnischer Papst, Johannes Paul II., die katholische Kirche. Ihm wird zu Recht ein bedeutender Anteil an der Erosion des Sozialismus in seinem Heimatland und den anderen Ländern Zentral- und Osteuropas zugeschrieben. Seine Verabredung dazu mit dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan ist inzwischen dokumentiert. Er war ein Gegner der "Theologie der Befreiung" ebenso wie sein Nachfolger, der deutsche Papst Benedikt XVI. Der jetzige Papst Franziskus dagegen ist nicht nur Jesuit, sondern selbst ein Theologe der Befreiung. Es ist kein Zufall, daß er vor zwei Jahren die Einberufung der "Amazonien-Synode" anordnete, die vom 6. bis zum 27. Oktober in Rom stattfand. Ihr Hauptgegenstand war ein Brennpunkt der Verbrechen des heutigen Kapitalismus: das fortgesetzte Abschlachten der Ureinwohner im Amazonas-Becken im Auftrag internationaler Rohstoffkonzerne und der globalen Agrarindustrie.

Der österreichische "RotFuchs"-Autor Georg Oberkofler hat für das vorliegende Heft die Vorbereitungsdokumente dieser Synode untersucht (siehe Seiten 17-20). Unausgesprochen stand über ihr der Franziskus-Satz: "Diese Wirtschaft tötet."

Wenn der November-"RotFuchs" erscheint, liegt die Landtagswahl in Thüringen erst wenige Tage zurück. Ein Fazit der Wahlen des Jahres 2019 kann daher noch nicht gezogen werden. Eins steht allerdings fest: Eine linke Partei, die nicht in der Lage ist, dem internationalen und internationalistischen Konzept des Papstes im Kampf gegen Armut und Mord an Armen auch nur ansatzweise zu folgen, muß nicht nach Ursachen für Wahlverluste suchen. Die Debakel der Linkspartei bei den Wahlen zum EU-Parlament am 26. Mai sowie in Sachsen und Brandenburg am 1. September haben auch damit zu tun, daß es unvorstellbar geworden ist, aus ihren Reihen einen Satz zu hören, der etwa lauten könnte: "Kapitalismus tötet." Ihre Vertreter ziehen es vor, die DDR, den ersten deutschen Friedensstaat, als "Unrechtsstaat" zu kriminalisieren. Sie wirken mit am Propagandanebel, der zum 30. Jahrestag des 9. November 1989 wieder reichlich produziert wird. Sie helfen so dabei, dahinter auch 2019 die Märtyrer der UCA verschwinden zu lassen.

Arnold Schölzel

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Frieden und Zusammenarbeit statt Aufrüstung und Konfrontation
Nie wieder Krieg!

Am 1. September jährte sich zum 80. Mal der Überfall des faschistischen Deutschland auf Polen, der Beginn des zweiten Weltkriegs. Heute herrschen in vielen Ländern erneut Krieg oder Bürgerkrieg, weltweit wächst die Gefahr neuer Kriege. Auch Deutschland beteiligt sich an der vom Westen und vor allem den USA betriebenen Politik der Konfrontation, der Sanktionen und der Aufrüstung.

Dazu wurde jetzt auf der Website nie-wieder-krieg.org ein Aufruf "Nie wieder Krieg! Frieden und Zusammenarbeit statt Aufrüstung und Konfrontation!" mit mehr als 150 Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichnern aus der Friedensbewegung, von Linken, Gewerkschaftern und Kulturschaffenden sowie mit vielen weitergehenden Informationen veröffentlicht.

Deutschland darf sich an einer Politik der Konfrontation, der Sanktionen und der Aufrüstung nicht länger beteiligen, sondern muß sich ihr widersetzen und dafür Partner in Europa und weltweit suchen. Die Nutzung von Militärbasen und anderer Infrastruktur in Deutschland für völkerrechtswidrige Kriege darf nicht gestattet werden. Wir fordern die Bundesregierung, die Parteien und die Medien in Deutschland auf, zu einer Politik des Friedens und der Abrüstung, der Entspannung und Verständigung, der Achtung des Völkerrechts, der gemeinsamen Sicherheit in Europa und weltweit zurückzukehren, wie sie der Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt betrieben hat.

Erläuterung

Die Kriegsgefahr steigt weltweit. Der Iran wird unmittelbar mit Krieg bedroht. Die USA und anschließend auch Rußland kündigten den INF-Vertrag über Mittelstreckenraketen, der START-Vertrag über die Reduzierung der Langstreckenraketen läuft 2021 aus. Das Ende des Rüstungskontrollsystems droht. Auch der Weltraum und das Internet werden militarisiert. Neue Technologien wie superschnelle Raketen, Laserwaffen und autonome Killer-Roboter erhöhen die Kriegsgefahr. Zur Gefahr der Klimakatastrophe tritt die eines nuklearen Winters.

Am 1. September jährt sich zum achtzigsten Mal der Überfall des faschistischen Deutschland auf Polen, der Beginn des zweiten Weltkriegs. Fast 80 Millionen Menschen wurden getötet, die Mehrzahl davon Zivilpersonen. Die mit Abstand meisten Opfer hatten die Sowjetunion und China zu beklagen. Die Vereinten Nationen zogen 1945 in ihrer Charta die bis heute gültigen Lehren aus den Weltkriegen: "Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder. (...) Jeder Staat hat das Recht, seine politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Ordnung frei zu wählen und zu entwickeln. (...) Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt."

Heute herrschen in vielen Ländern erneut Krieg oder Bürgerkrieg, weltweit wächst die Gefahr neuer Kriege. Krieg ist Hauptursache für Flucht und Vertreibung. Die Grundnormen des Völkerrechts werden immer wieder und von vielen Staaten verletzt. Deutschland und andere EU- Staaten waren und sind an Kriegen beteiligt, die militärische Rolle der EU wird fortschreitend ausgebaut. Die massivsten Völkerrechtsverstöße gehen jedoch seit langem von den USA aus, die ständig in mehrere Kriege verwickelt sind. Immer wieder wurden diese mit inszenierten Lügen begründet (Tonkin-Zwischenfall, Brutkastenlüge, Hufeisenplan, Saddams Massenvernichtungswaffen ...). Das US-Militär ist zudem der größte einzelne Ölverbraucher und Umweltzerstörer. In den letzten Jahren setzt die US-Regierung noch stärker als bisher auf Gewalt und Aufrüstung, eine aggressive Politik und Einmischung in andere Länder, um weltweit ihre Interessen und ihnen genehme Regime durchzusetzen. Die Rüstungsausgaben der USA sind doppelt so hoch wie die von China und Rußland zusammen, die der NATO dreimal so hoch. In den kommenden Jahren sollen sie dramatisch weiter erhöht werden. Rußland und China betreiben Militärpolitik, doch Politik und Massenmedien messen mit zweierlei Maß, wenn sie sie als die "Bösen" und "den Westen" als die "Guten" darstellen.

Gegen Länder wie Kuba, Iran, Venezuela, Syrien, aber auch Rußland und China haben die USA einseitig teils extreme Wirtschaftssanktionen verhängt und verlangen von allen anderen Staaten der Erde unter Androhung von Strafen, diese ebenfalls zu befolgen. Unabhängig davon, wie die Verhältnisse in diesen Ländern beurteilt werden: das ist völkerrechts- und menschenrechtswidrig. Diese Sanktionen kommen in ihrer zerstörerischen Wirkung unerklärten Angriffskriegen gleich, unter denen vor allem die Zivilbevölkerung zu leiden hat, mit vielen Tausenden Toten durch Versorgungsmängel bei Nahrungsmitteln und Medikamenten. Auch Sanktionen der EU sind nicht durch UN-Beschlüsse gedeckt und stehen politischen Konfliktlösungen im Wege.

Die NATO ist zu einem weltweit aktiven Kriegsführungsbündnis gemacht worden (Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen ...). Es geht dabei nicht um Menschenrechte oder Demokratie, sondern um politische und wirtschaftliche Machtinteressen. Diktaturen, Terrorregime und Kriegsparteien, die den "Westen" unterstützen, haben nichts zu befürchten, sondern werden noch mit Waffen versorgt.

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Appell der IPPNW: Fridays for future! Fridays for peace!

Die ärztliche Friedensorganisation IPPNW forderte am 19. September die Umstellung auf nachhaltige Ökonomie ohne die Verbrennung fossiler Energieträger und ohne Atomkraftwerke: "Fridays for future heißt auch Fridays for peace!"

Notwendig ist eine weltweite Abrüstung und die Umstellung der Rüstungswirtschaft auf die Entwicklung von Umwelttechnologien. Ärmeren Ländern müssen finanzielle Ressourcen zur Klimaanpassung bereitgestellt werden. Klimaveränderungen stellen heute eine der größten Bedrohungen für die Gesundheit und das Überleben der Menschen dar. Zudem werden sie zu mehr Konflikten um Ressourcen wie Wasser oder fruchtbares Land und erzwungener Migration führen. Es ist zu befürchten, daß diese Konflikte zunehmend militärisch ausgetragen werden.

Die notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung und zum Schutz sind längst bekannt, werden aber verschleppt, verzögert und untergraben, auch durch die deutsche Bundesregierung. Hartnäckig und rücksichtslos wird von den Atomwaffenstaaten und ihren Verbündeten an der teuren und gefährlichen Atomenergie festgehalten: Trotz Tschernobyl und Fukushima, trotz der Rolle der zivilen Atomenergie in der atomaren Aufrüstung, trotz des Risikos der Weiterverbreitung und trotz des völlig ungelösten Problems der radioaktiven Abfälle. Neuerdings versucht die Atomlobby mit dem Argument "Klimaschutz" sogar für ein Comeback der Atomenergie zu werben.

Statt die wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Ressourcen für den lebensnotwendigen Umbau in Richtung einer klimaschonenden Energiegewinnung, einer echten Verkehrswende und einer solidarischen internationalen Zusammenarbeit für diese tiefgreifenden Veränderungen zu nutzen, wenden gerade die reichsten Staaten immer mehr Mittel für Kriege und Aufrüstung auf. Sie setzen ihre Interessen durch - insbesondere in ölreichen Regionen wie aktuell im Nahen und Mittleren Osten. Durch Rüstung, Militär und Kriege werden enorme CO2-Emissionen frei, die nicht in den Berichten des Weltklimarats (IPCC) auftauchen. So heizt die Rüstungsindustrie die Klimakrise weiter an. Allein der "Krieg gegen den Terror" verursachte seit 2001 bislang 1,2 Milliarden Tonnen CO2. Das US-Militär ist dabei der größte Einzelverbraucher fossiler Brennstoffe weltweit mit einem Verbrauch von 48 Millionen Liter Öl pro Tag.

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Wenn der Russe nicht wär

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Lukaschenko für Nichtstationierungs-Deklaration

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Das Ende des INF-Vertrags - die Welt in Gefahr

Einen großen atomaren Krieg wird es nie geben. Die Gefahr gegenseitiger totaler Vernichtung wäre zu groß ... Im Vertrauen darauf konnten sich zwei Generationen von Deutschen lange beruhigen. Das Ausbleiben des noch in den 80er Jahren heftig befürchteten Weltenbrands schien den Optimisten recht zu geben. Doch schon lange arbeiten NATO-Strategen daran, diese Dynamik zu unterlaufen und das "Gleichgewicht des Schreckens" in ein Ungleichgewicht zugunsten des US-Imperiums zu verwandeln. Zu diesem Zweck wird unter anderem an Techniken getüftelt, welche die atomare Zweitschlagfähigkeit Rußlands unterlaufen sollen. Ohnehin befinden sich die USA in einer komfortablen Situation. Die Hauptlast eines vor allem von ihnen zu verantwortenden Krieges hätte ein dann vollständig verwüstetes Europa zu tragen.

Zu Beginn der 80er Jahre hatten die USA und die NATO eine Strategie gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten in der Warschauer-Vertrags-Organisation entwickelt, welche die perverse Situation der "gegenseitigen sicheren Vernichtung" überwinden sollte. Caspar Weinberger, der damalige US-Verteidigungsminister, erklärte dies in einem Interview mit dem "Spiegel" im Oktober 1981: "Wir müssen sicherstellen, daß dieses sowjetische Imperium, wenn es denn aufgrund seiner eigenen Widersprüche zusammenbricht, das mit einem Winseln tut und nicht mit einem großen Knall."

Die Sowjetunion war so freundlich, dies mit einem Winseln zu tun. Unverhohlen formulierte es auch der damalige Direktor des US-Sicherheitsrats für osteuropäische und sowjetische Angelegenheiten: "Die sowjetische Führung wird die Wahl haben, ihr kommunistisches System friedlich in die vom Westen verfolgte Richtung zu ändern oder in den Krieg zu ziehen."

Damals, als die NATO ihre neuen nuklearen Mittelstreckenraketen - Cruise Missiles und Pershing II - aufstellte, hofften westliche Strategen, daß es gelingen könne, die Sowjetunion zu "enthaupten" und ihre Zweitschlagsfähigkeit zu vernichten, so daß sie unfähig wäre, dem Westen vernichtende Schläge zu versetzen.

Wie auch immer: Das Schlachtfeld eines solchen nuklearen Krieges wäre Europa gewesen - und mit Europa ist hier der Raum vom Atlantik bis zum Ural gemeint. Es war die Einsicht in den selbstzerstörerischen Wahnsinn dieser Strategie, aber auch die Stärke der Friedensbewegung in ganz Europa, die 1987 zum Abschluß des INF-Vertrags (Intermediate Range Nuclear Forces) führte, der die Stationierung von mit Atomwaffen bestückten Trägersystemen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern in Europa untersagte.

Eine Kündigung mit Folgen

Diesen Vertrag hat US-Präsident Donald Trump zu Anfang dieses Jahres gekündigt, der Vertrag lief am 1. August aus. Die vom Westen als Vertragsbruch stigmatisierte neue russische Rakete hat - nach russischen Angaben - eine Reichweite von 480 Kilometern. Rußland hat der NATO, wie im INF-Vertrag vorgesehen, mehrfach die Inspektion der Rakete angeboten, die NATO lehnte das Angebot ab. In der Folge reagierte Rußland, indem es seinerseits den Vertrag kündigte. Das Ende des INF-Vertrags wird unmittelbare Folgen haben für die noch existierenden Abkommen über Abrüstung und Rüstungskontrolle: Als ersten betrifft dies den New-START-Vertrag (Strategie Arms Reduction Talks), der zwischen den Präsidenten Barack Obama und Dmitri Medwedjew geschlossen wurde. Dieser sieht vor, die atomaren Sprengköpfe auf beiden Seiten auf die Zahl von 1550 zu reduzieren und die Anzahl der Trägerraketen zu begrenzen. Der Vertrag läuft 2021 aus. Mißtrauen und Angst auf beiden Seiten machen die Verlängerung des START-Vertrags mehr als unwahrscheinlich. So eröffnet die Beendigung des INF-Vertrags das Tor für ein neues gigantisches nukleares Wettrüsten.

Was hinter dieser Raketen-Debatte steckt, wird sichtbar, wenn wir genauer auf drei grundsätzliche Entscheidungen der US-Administration und der NATO schauen:

1. Alle zwei Jahre veröffentlichen die USA ihr nukleares Planungskonzept, die Nuclear Posture Review (NPR). In der NPR vom Februar 2018 kündigten die USA an, daß sie die Zahl ihrer sogenannten Low-yield-Nuklearwaffen über die derzeit existierenden 500 hinaus massiv erhöhen wollten. Diese Bomben werden in den Medien meist verniedlichend Mini-Nukes genannt, die Sprengkraft dieser "kleinen" Bomben liegt in etwa bei der der Hiroshima-Bombe. Wie in der NPR ausgeführt, dienen diese Bomben taktischen, nicht strategischen Zwecken. Das heißt: Sie sind für das - europäische - Gefechtsfeld bestimmt. Für den Transport dieser Mini-Nukes ins Ziel werden also jene Mittelstreckenraketen benötigt, die bisher verboten waren. So senkt die Vervielfachung der neuen Sprengköpfe zweifelsohne die Schwelle des Einsatzes von Kernwaffen. Die NPR stellt eindeutig fest: Ihre Verwendung wird nicht beschränkt sein auf Aktionen gegen "Angriffe auf die Zivilbevölkerung oder die Infrastruktur in den USA, von Alliierten oder Partnern". In der NPR wird offen der Ersteinsatz von Nuklearwaffen gefordert; unterstrichen wird, "daß die USA Nuklearwaffen als Antwort auf bedeutsame nichtnukleare strategische Angriffe" einsetzen werden. Damit ist klar, daß die veränderte Nuklearstrategie und das mit ihr verbundene Waffenarsenal dafür bestimmt sind, in Konflikten eingesetzt zu werden, die bisher als "konventionell" eingestuft wurden. In diese neue Strategie paßt es, daß die USA nicht bereit sind, den umfassenden Vertrag zum Verbot von Atomwaffentests (Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty) zu ratifizieren, den bisher nur Rußland - neben 167 anderen Ländern - ratifiziert hat. Damit werden Atomwaffentests wieder möglich - unterirdisch, auf der Erdoberfläche wie auch im Weltraum. Aus diesem Grund, so die NPR, lehnen die USA den Atomwaffenverbotsvertrag ab, weil dieser Vertrag "völlig unrealistische Erwartungen wecke", denen zufolge eine atomare Abrüstung möglich sei.

2. Nun gibt es für die Umsetzung dieser Strategie ein Problem: die russische Zweitschlagsantwort mittels ballistischer Raketen. Die USA und die NATO haben allerdings bereits in Rumänien anti-ballistische Systeme installiert, solche Systeme sind in Polen im Aufbau. Ursprünglich wurde die Dislozierung dieser Systeme gerechtfertigt mit möglichen Bedrohungen aus dem Iran. Als Rußland seine Beteiligung an diesen "Verteidigungssystemen" mit der Begründung vorschlug, es sei aus geographischen Gründen von solchen Raketen mehr bedroht als Westeuropa, winkten die USA und die NATO ab, was nur einen Schluß zuläßt: Diese Systeme richten sich gegen die russischen ballistischen Raketen, ihr strategisches Ziel ist die Eliminierung der russischen Zweitschlagsfähigkeit im Falle eines nuklearen Angriffs auf Rußland. Dies sind exakt die alten Vorstellungen und Konzepte, die bereits Anfang der 80er Jahre verfolgt wurden: einen Atomkrieg möglich und gewinnbar zu machen.

3. Westliche Politik beschränkt sich aber nicht auf nukleare Kriegsführung. Daneben gibt es gewaltige konventionelle Anstrengungen. Der wahrscheinlich wichtigste Vertrag über Abrüstung und Vertrauensbildung war der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE), der 1989 geschlossen wurde. 1999 wurde er neu verhandelt. Dieser Vertrag wurde ratifiziert von Rußland, Weißrußland, der Ukraine und Kasachstan - kein NATO-Mitglied ratifizierte ihn. Statt dessen betrieb die NATO ihre Osterweiterung - dies im Gegensatz zu Versprechen, die der frühere US-Außenminister James Baker anläßlich der Unterzeichnung des Zwei-plus-vier-Vertrags der sowjetischen Seite gegeben hatte und wonach die NATO "keinen Zentimeter nach Osten" ausgeweitet werden sollte. Auf dem Höhepunkt des kalten Krieges hatte die NATO 16 Mitglieder, jetzt sind es 30, und das NATO-Gebiet hat sich ausgeweitet bis unmittelbar an die Grenzen Rußlands. Wer vermag zu glauben, daß dies Rußland nicht beunruhigt? Mehr noch: Im vergangenen Jahr organisierte die NATO entlang der russisch-norwegischen Grenze das größte Manöver seit Ende des kalten Krieges, an dem mehr als 50.000 Soldaten teilnahmen. Begleitet wurde das Manöver von einer gewaltigen Armada von Kriegsschiffen und Luftstreitkräften. Es ist nicht bekannt, mit welchen Arten von Waffen die Flugzeuge und Kriegsschiffe ausgerüstet waren. Spielten Nuklearwaffen eine Rolle in den Szenarien dieser Kriegsspiele? Spielte die NATO-Doktrin vom Ersteinsatz von Nuklearwaffen eine Rolle bei diesen Übungen?

Angesichts des oben Gesagten stellt sich die Frage, ob der Einsatz von "Nuklearwaffen in Antwort auf bedeutsame nichtnukleare Angriffe" - der russischen Seite - geübt oder zumindest simuliert wurde.

Wer bedroht wen?

Rußland und sein Präsident Putin werden immer wieder als die große Bedrohung des Westens bezeichnet. Doch was heißt dies, wenn wir die Rüstungsanstrengungen beider Seiten betrachten? Im Jahr 2018 haben die USA 623 Milliarden Dollar für Rüstung ausgegeben, Rußland 62. Rußland hat sogar seine Ausgaben von 80 Milliarden im Jahr 2016 auf besagte 62 im Jahr 2018 reduziert. Dies sind Signale - wie aber reagiert der Westen? Die NATO-Ausgaben übersteigen insgesamt bei weitem 1000 Milliarden US-Dollar. Angefügt sei: Wenn Deutschland das Ziel von 2 Prozent des BSP für Rüstungsausgaben erreicht, wird es bei rund 80 Milliarden liegen - weit über den derzeitigen Militärausgaben Rußlands!

Selbst wenn zugestanden werden muß, daß Rußland gerade aufgrund seiner vergleichsweisen wirtschaftlichen Schwäche massiv in die - billigeren - Atomwaffen investieren wird, ist eines klar: Die Digitalisierung der Kriegführung erhöht die Gefahr für die Menschheit. Die Zeit für Entscheidungen - und deren Korrektur - wird kürzer, sie wird an Maschinen übertragen. Allein dies wäre ein weiterer Grund für Abrüstung und Vertrauensbildung - es sei denn, man hält einen Atomkrieg für gewinnbar.

Vertrauensbildung ist unabdingbar

In dieser Situation fällt den europäischen Staaten eine besondere Verantwortung zu - und gemeint sind hier die Staaten des europäischen Kontinents vom Atlantik bis zum Ural. Es kann und darf nicht sein, daß dieser Kontinent zum nuklearen Schlachtfeld einer US-Expansion in der gesamten nördlichen Hemisphäre wird. Vertrauensbildung, Abrüstung, Ent-Nuklearisierung, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit, wie sie in der Charta von Paris, dem Schlußdokument des KSZE-Prozesses, am Ende des kalten Krieges als Politikziele festgeschrieben worden waren, sind der einzige Weg, der aus der derzeitigen Paranoia herausführen kann, welche die Anmaßung besitzt, sich "Sicherheitspolitik" zu nennen.

Der Ausgangspunkt einer solchen rationalen Politik, die die existentiellen Rechte und Interessen der Menschheit zum Ausgangs- und Zielpunkt macht, kann nur und muß das kontinentale Europa sein.

Militär und militärische Allianzen, die sich wechselseitig bedrohen, werden niemals Sicherheit schaffen. Sicherheit kann es nur geben, wenn der andere, gerade auch der potentielle Gegner, sich sicher fühlen kann. Daher gilt: Nein zum Krieg heißt immer auch "Nein zur NATO!"

Werner Ruf


Rede beim Internationalen Treffen im deutschen Friedenscamp Ramstein am 28. Juni. Überarbeitete und aktualisierte Fassung, redaktionell leicht gekürzt.

Werner Ruf, Jahrgang 1937, ist Professor für Internationale Politik an der Universität Kassel im Ruhestand.

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Die kapitalistische Produktionsweise gefährdet unsere Existenz

Die Klimaforschung warnt seit mehr als 50 Jahren vor der globalen Erwärmung, vor der Eisschmelze und dem Anstieg der Weltmeere. Als Hauptursache dafür wird die Verbrennung von immer mehr fossilen Brennstoffen ausgemacht.

Der Klimaforscher Stefan Rahmstorf, Professor für Physik der Ozeane an der Universität Potsdam, äußerte in einem "Spiegel online"-Beitrag, daß "... die Klimaforscher die globale Erwärmung seit einem halben Jahrhundert zwar grundsätzlich richtig vorhergesagt haben, (doch) lagen sie bei Tempo und Ausmaß einiger Entwicklungen falsch. Allerdings haben sie diese nicht über-, sondern unterschätzt." Er verweist darauf, daß es im Klimasystem mehrere kritische Systeme gibt, die irgendwann das Klima unaufhaltsam verändern. Er vergleicht es mit einer vollen Kaffeetasse, die immer mehr an den Rand eines Tisches geschoben wird, bis sie kippt und sich auf dem Boden ergießt. Rahmstorf spricht von den sogenannten Klima-Kipp-Punkten des Erdsystems, deren Überschreiten zu unumkehrbaren, verhängnisvollen Veränderungen führt ...

Natürlich gibt es eine Reihe von Ursachen und Faktoren, die unsere Umwelt beeinflussen und verändern, ja zerstören. Dazu zählen der Raubbau an den Urwäldern, die Ausplünderung der Ressourcen und Rohstoffe, die Vernichtung der natürlichen Tier- und Pflanzenwelt, die Ausbeutung und Verschmutzung der Meere und Gewässer, Monokulturen, der Einsatz von chemischen Düngemitteln, Pestiziden, Insektiziden und Fungiziden, Bevölkerungswachstum, das Ausbringen von chemischen Giften und Treibhausgasen in die Umwelt u. a. m.

Ein ganz wichtiger Faktor für die Bedrohung und Zerstörung unserer Umwelt und Lebensbedingungen wird oft nicht erwähnt oder gar bewußt verschwiegen - nämlich Rüstung und Krieg.

Alle Ursachen und Faktoren wirken außerordentlich kompliziert, beeinflussen sich wechselseitig, und niemand ist heute in der Lage, diese Komplexität vollständig zu erfassen und darzustellen.

Es ist keineswegs erstaunlich, daß sich gerade jetzt viele junge Menschen immer mehr Gedanken über ihre Zukunft und die Zukunft des Planeten Erde machen. Fridays for Future ist eine solche weltweite Bewegung, die, ausgehend von Schülern und Studenten, sich intensiv dafür einsetzt, den Klimaschutz mit effektiven Maßnahmen durchzusetzen. Als Grundlage hierfür betrachtet diese Bewegung die UN-Weltklimakonferenz von 2015. Das Übereinkommen von Paris vom 20. Dezember 2015, das 197 Staaten unterzeichneten, hat sich zum Ziel gesetzt, den globalen Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius zu beschränken. Das Engagement der Jugend ist bemerkenswert und stimmt optimistisch. Trotzdem bleiben die Zweifel, daß die bestehenden gesellschaftlichen Ursachen für den Klimawandel und die Umweltzerstörung richtig benannt, erkannt bzw. analysiert werden. Auf der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung am 12. Juni 1992 in Rio de Janeiro - in dem Land, wo heute der Amazonas an allen Ecken und Enden brennt - hielt Fidel Castro eine bemerkenswerte Rede, die die richtigen Antworten gibt:

"Eine bedeutende biologische Gattung ist aufgrund der schnellen und fortschreitenden Beseitigung ihrer natürlichen Lebensbedingungen vom Aussterben bedroht: der Mensch. Wir werden uns jetzt dieses Problems bewußt, wo es fast zu spät ist, es zu verhindern. Es muß darauf verwiesen werden, daß die Konsumgesellschaften die Hauptverantwortlichen für die grauenhafte Vernichtung der Umwelt sind. Sie entstanden aus den ehemaligen Kolonialmetropolen und der imperialen Politik, die ihrerseits die Rückständigkeit und die Armut verursachten, welche heute die immense Mehrheit der Menschheit geißeln. Sie verbrauchen zwei Drittel des Metalls und drei Viertel der Energie, die auf der Welt erzeugt werden, obwohl sie nur 20 Prozent der Weltbevölkerung darstellen. Sie haben die Meere und Flüsse vergiftet, die Luft verschmutzt, die Ozonschicht geschwächt und Löcher in ihr verursacht, haben die Atmosphäre mit Gasen angereichert, die die klimatischen Bedingungen beeinträchtigen, was katastrophale Auswirkungen hat, die wir schon zu spüren beginnen.

Die Wälder verschwinden, die Wüsten weiten sich aus, Milliarden Tonnen fruchtbarer Erde enden jährlich im Meer. Zahlreiche Arten sterben aus. Der aus dem Bevölkerungszuwachs resultierende Druck und die Armut führen zu verzweifelten Anstrengungen, um selbst auf Kosten der Natur zu überleben. Man kann dafür nicht die Länder der Dritten Welt beschuldigen, die gestern Kolonien waren und heute durch die ungerechte Weltwirtschaftsordnung ausgebeutete und ausgeplünderte Nationen sind.

Die Lösung kann nicht sein, die Entwicklung jener zu verhindern, die sie am meisten brauchen. Wahr ist, daß alles das, was heute zur Unterentwicklung und zur Armut beiträgt, ein offenkundiges Attentat auf die Ökologie ist. Zig Millionen Männer, Frauen und Kinder sterben infolge dessen jährlich in der Dritten Welt, mehr als in jedem der beiden Weltkriege. Der ungleiche Austausch, der Protektionismus und die Auslandsverschuldung greifen die Ökologie an und fördern die Zerstörung der Umwelt.

Wenn man die Menschheit vor dieser Selbstzerstörung retten will, müssen die Reichtümer und die verfügbaren Technologien des Planeten besser verteilt werden. Weniger Luxus und weniger Verschwendung in einigen wenigen Ländern, damit weniger Armut und weniger Hunger in großen Teilen der Erde herrschen! Schluß mit dem Transfer von umweltzerstörende Lebensstilen und Konsumgewohnheiten in die Dritte Welt! Das menschliche Leben muß rationaler werden.

Es muß eine gerechte internationale Wirtschaftsordnung durchgesetzt werden. Alle notwendigen wissenschaftlichen Forschungen sollen für eine nachhaltige Entwicklung ohne Umweltverschmutzung eingesetzt werden. Es soll die Umweltschuld bezahlt werden und nicht die Auslandsschuld. Es soll der Hunger verschwinden und nicht der Mensch. Jetzt, wo die angebliche Bedrohung durch den Kommunismus nicht mehr da ist, und keine Vorwände für kalte Kriege, Wettrüsten und Militärausgaben bleiben, was hindert daran, diese Mittel sofort dafür einzusetzen, die Entwicklung der Dritten Welt zu fördern und die Gefahr der ökologischen Zerstörung des Planeten zu bekämpfen?

Schluß mit dem Egoismus, Schluß mit dem Vorherrschaftsbestreben, Schluß mit der Gefühllosigkeit, der Unverantwortlichkeit und dem Betrug! Morgen wird es zu spät sein für das, was wir schon lange gemacht haben müßten." (Siehe RF 257, S. 9)

Ohne es explizit auszusprechen, weist Castro darauf hin, daß die Produktionsweise einschließlich der Verteilung in der gesamten Welt geändert werden muß, wenn der Mensch überleben will.

Die gegenwärtige Weltwirtschaftsordnung beruht auf dem kapitalistischen Profitmechanismus, der die irreversible Zerstörung der Umwelt für maximale Gewinne in Kauf nimmt und nehmen muß.

Aus marxistischer Sicht heißt das, daß die Umgestaltung der Produktions- und somit der Eigentumsverhältnisse notwendig sind. Die Produktivkräfte dürfen nur so eingesetzt werden, daß sie dem Menschen dienen und nicht zur Zerstörung der Lebensgrundlagen und der Umwelt führen.

Genau diesen Denkansatz finden wir bei dem Potsdamer Professor oder auch bei vielen anderen nicht, die sich mit Fragen des Klimawandels und der Umweltzerstörung befassen. Vor diesem Dilemma stehen natürlich viele Umweltbewegungen und andere Strömungen, die sich darauf beschränken, innerhalb des bestehenden Systems nach Lösungen zu suchen.

Die Protagonisten der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse suchen nach Antworten und Lösungen, die die Produktionsweise nicht in Frage stellen. So ließ z. B. der deutsche Außenminister Maas die Welt auf der Bundestagssitzung am 11. September d. J. wissen, daß ein Zusammenhang zwischen Klima und Sicherheit bestehe. Weiter meint der Sozialdemokrat, daß mit der Bekämpfung des Klimawandels die Fluchtursachen bekämpft würden. Es gehe darum, in Zukunft Kriege zu verhindern, die mit dem Klimawandel zu tun haben.

Die wirklichen gesellschaftlichen Ursachen für Klimawandel und Fluchtbewegungen - die bestehende imperialistische Weltwirtschaftsordnung - kann und will er nicht anerkennen.

Dr. Ulrich Sommerfeld

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Vor 75 Jahren wurde der Kundschafter Dr. Richard Sorge ermordet
"Wir alle werden unseren Auftrag erfüllen!"

Dieser Leitspruch der Kundschaftergruppe "Ramsay", ins Leben gerufen und aufgebaut in Japan durch den Kommunisten und Internationalisten Dr. Richard Sorge, wurde in den folgenden Jahren, bis heute, Maßstab im Kampf um Frieden und soziale Gerechtigkeit.

Für mich und meine Gattin war es das größte Glück, als wir 1985 erfuhren, daß unser Einsatzort Tokio sein wird. Also sollte es in das Land gehen, in dem Dr. Richard Sorge von 1933 bis zu seiner Ermordung 1944 lebte, arbeitete, kämpfte und starb. Endlich waren wir unserem großen Vorbild so nahe. Meine ersten Bemühungen waren darauf gerichtet zu erfahren, wie man den Tama-Friedhof im Norden der Metropole Tokio und insbesondere das Grab mit der Nummer 17-1-21-16 findet. Wir (ich als 3. Sekretär an der Botschaft der DDR in Japan und meine Gattin, Chiffrierin an der Botschaft) hielten es für unsere moralische Pflicht, jedes Jahr die Grabanlage der Gruppe "Ramsay" mit dem Grab Dr. Richard Sorges aufzusuchen - entgegen dem vom 1. Sekretär an der Botschaft und Residenten ausgesprochenen Verbot. Eine emotionale Bindung an unser großes Vorbild war ihm offensichtlich fremd. Tradition war, daß alljährlich hier die Jung- und Thälmannpioniere unserer Botschaftsschule ihre Halstücher erhielten und anschließend Hanako Ishii (1911-2000), die langjährige Lebensgefährtin Dr. Richard Sorges, aufsuchten. Auch die sowjetische Botschaft betreute Hanako Ishii. Sie erhielt von der Botschaft monatlich eine "Witwen"rente. Auf die Frage der japanischen Peiniger bei seiner Verhaftung am 18. Oktober 1941 "Wer sind Sie?" antwortete Dr. Richard Sorge: "Ich bin Kommunist!" Sorges Geheimnis war seine Überzeugung, der Marxismus als seine Weltanschauung, verbunden mit einem hohen Allgemeinwissen und Fremdsprachenkenntnissen, herausragenden analytischen Fähigkeiten sowie regime- und landesspezifischen Kenntnissen. Bei seiner Verhaftung wurden etwa 1000 Bücher beschlagnahmt - zum großen Teil über Japan.

Richard Sorge wurde am 4. Oktober 1895 in Adshikend (Baku) geboren. Sein Vater war deutscher Ingenieur, welcher in einer russischen Erdölraffinerie bei Baku arbeitete, seine Mutter die Tochter eines russischen Erdölarbeiters. Seine Muttersprache war russisch. Mit drei Jahren kam Richard Sorge nach Deutschland. Sein Lebensweg war trotz revolutionärer Wurzeln in der Familie (sein Großvater war Revolutionär, dessen Cousin Friedrich Sorge ein Mitstreiter von Marx und Engels) nicht als Kommunist vorgezeichnet. Er las viel, aber manches schien ihm zu unverständlich, zu philosophisch. Er war ein mehr praktischer Typ. Mit 18 Jahren verließ er sein Zuhause und ging freiwillig in den Krieg. Die Teilnahme am I. Weltkrieg wurde für ihn eine große Schule. Der Krieg brachte ihm das Eiserne Kreuz II. Klasse, drei schwere Verwundungen und die Ernüchterung: Wofür? Warum? 1915 machte er unter anderem Bekanntschaft mit einem zwanzigjährigen Soldaten, Erich Correns, dem späteren Präsidenten des Nationalrates der Nationalen Front der DDR. Beide diskutierten während ihres sechsmonatigen Krankenhausaufenthaltes leidenschaftlich über den Krieg, das Leben und über die große Idee, der man sein Leben widmen sollte. Sorges weitere Reifestationen waren: Arbeit als Bergmann im Ruhrgebiet, Studium der Medizin, der Politökonomie, der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels. Nach der Oktoberrevolution bereitet er sich auf die Tätigkeit als Berufsrevolutionär vor, wird Mitglied der USPD, nimmt am Kieler Matrosenaufstand teil. Er wird Journalist , schreibt pol it ische Artikel in Zeitungen und Zeitschriften und arbeitet als Redakteur, Agitator und Propagandist, darunter auch an der Hamburger Universität.

Das Studium schließt er als Doktor für Staatsrecht und Soziologie ab. 1924 macht Sorge die Bekanntschaft mit Dmitri Manuilski, Sekretär des Exekutivkomitees der Komintern. Damit ist sein weiterer Weg vorgezeichnet. Im Dezember fährt Richard Sorge nach Moskau. 1927 bestätigte Manuilski kurz und knapp: "Ich kenne Genossen Sorge seit 1924 aus der Arbeit in Deutschland und halte ihn für einen vertrauenswürdigen Genossen." Er wird Sowjetbürger und im März 1925 Mitglied der KPdSU. Er schreibt für Zeitungen und Zeitschriften unter verschiedenen Namen. Seine Untersuchungen und Analysen werden von Freund und Feind gelesen. In Moskau lernt Richard Sorge General Jan Karlowitsch Bersin, Leiter der Verwaltung Aufklärung der Roten Armee, kennen. Dieses Zusammentreffen führte Richard Sorge im Jahre 1929 zu einem Entschluß, der für seinen weiteren Weg richtungsweisend war.

Dr. Richard Sorge erhielt seinen ersten Auftrag als Kundschafter. Er verließ Moskau gut vorbereitet. Sein Ziel: China. Zur besseren Tarnung reiste Sorge mit einem echten deutschen Paß als Journalist. Zu diesem Zweck schloß er mit der "Getreide-Zeitung", einem landwirtschaftlichen Fachblatt, und einem Verlag für soziologische Schriften Mitarbeiterverträge in Berlin. Mit dem Beginn seines China-Aufenthaltes 1930 bestanden seine Aufgaben in der Analyse der politischen und militärischen Strukturen der nationalistischen Nanking-Regierung, der Guomindang, ihres Verhältnisses zu den chinesischen Kommunisten und zu anderen Oppositionsbewegungen, der Chinapolitik der USA und Großbritanniens, aber auch der Sammlung allgemeiner Informationen zum Entwicklungsstand der chinesischen Industrie und Landwirtschaft. Er begann mit dem Aufbau einer Kundschaftergruppe in Shanghai, Harbin und Kanton.

So konnte er wichtige Informationen über das Voranschreiten der japanischen Invasion auf dem chinesischen Festland sammeln. In Shanghai lernte er Ozaki Hotsumi, Chinakorrespondent der japanischen Tageszeitung "Asahi shinbun", kennen, welcher wichtiger Informant und Mitkämpfer in der Gruppe "Ramsay" wurde. In diese Zeit fällt auch die gemeinsame Arbeit mit der Kundschafterin "Sonja" (Ruth Werner) für die sowjetische Aufklärung.

Im September 1933 erreichte er Tokio und begann mit dem Aufbau der Kundschaftergruppe "Ramsay" unter Beteiligung Ozaki Hotsumis (1901- 1944), des Funkers der Gruppe Max Christiansen-Clausen (1899-1979), dessen Frau Anna (1899-1978), des jugoslawischen Journalisten Branko Vukelic (1904-1945), des Kunstmalers Miyagi Yotoku (1903-1943) sowie anderer japanischer Mitarbeiter. Durch seine Tätigkeit als Auslandskorrespondent der "Frankfurter Zeitung" und durch Vermittlung Ozakis wurde eine Reihe führender Persönlichkeiten Japans zu unwissentlichen Informanten. Etwa 40 Prozent der Angehörigen der Gruppe "Ramsay" hatten durch ihre Berufe einen besonderen Einblick in die japanische Außen- und Innenpolitik sowie in die Wirtschafts- und Militärpolitik. Von den Mitstreitern Sorges übten 18 Prozent den Beruf eines Journalisten oder Kriegsberichterstatters aus, 12 Prozent zählten zu den hohen und mittleren Beamten der japanischen Staatsbürokratie und 10 Prozent saßen in den Zentral- und Forschungsbüros der Südmandschurischen Eisenbahngesellschaft sowie in deren Auslandsniederlassungen. Richard Sorge war Internationalist, kannte seit seiner Kindheit Vertreter vieler Nationen, und so vermochte er seine Gruppe zu einem festen Kollektiv von wahren Humanisten zu schmieden. Unter Einsatz ihres Lebens setzten sich Sorge und seine Mitstreiter für den Frieden und den Schutz des ersten sozialistischen Landes ein. Richard Sorge zeichneten analytisches schöpferisches Denken, schnelles Erfassen von Situationen, Disziplin und Selbstlosigkeit aus.

An zwei der bekanntesten und bedeutendsten Leistungen der Gruppe "Ramsay" unter der Führung Dr. Richard Sorges sei hier erinnert: Als möglichen Termin des Angriffs Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion nannte Richard Sorge in einem Funkspruch den Mai 1941. Moskau schwieg und zweifelte. In Moskau lagen widersprüchliche Informationen vor. Gleichzeitig wurde die Verfolgung ihrer Funksendungen durch den japanischen Geheimdienst immer offensichtlicher. Am 17. Juni funkte Richard Sorge schließlich den 22. Juni 1941 als genauen Termin für den deutschen Überfall nach Moskau. Der japanische Botschafter in Berlin war über den genauen Termin informiert worden mit der Aufforderung an Japan, die Sowjetunion gleichzeitig im Osten anzugreifen. Wie verhält sich das kaiserliche Japan?

Richard Sorge untersucht die Wirtschaftsstruktur Japans und sucht die sensibelste Stelle des Landes - es sind die Brennstoffe und deren Abhängigkeit von ausländischen Quellen. Bereits 1937 hatte Richard Sorge eine Untersuchung über "Japans Erdölsorgen" veröffentlicht. Die Erdölreserven reichen nur für ein halbes Jahr und somit nicht für einen langwierigen Krieg. Japan hatte bereits im August 1939 Erfahrungen mit sowjetischen Truppen (unter dem Kommando des damaligen Generals Shukow) am Chalkin-Gol gemacht, wo sechs japanische Divisionen zerschlagen wurden. Diese Analyse, Gespräche seiner Kundschafter in japanischen Führungskreisen und deren Wertungen führten zum Funkspruch am 6. September 1941: "Der sowjetische Ferne Osten kann als sicher vor einem Angriff Japans erachtet werden."

Damit konnten Stalin und die sowjetische Führung ihre Truppen völlig neu verteilen. Die im Fernen Osten stationierten Divisionen wurden in die Schlachten um Moskau und Stalingrad geworfen. Die Funksprüche Richard Sorges, die aufopferungsvolle Arbeit der Kundschafter der Gruppe "Ramsay" waren kriegsentscheidend.

Die Achse Berlin-Rom-Tokio rächte sich. Die deutsche faschistische und die japanische militärische Führung legten den 7. November 1944, den 27. Jahrestag des Sturms auf das Winterpalais und des Beginns der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, als Hinrichtungstermin fest. Der deutsche Kommunist, Internationalist und sowjetische Kundschafter Dr. Richard Sorge sollte bis zuletzt gedemütigt werden. Dr. Richard Sorge starb mit den Worten: "Es lebe die Kommunistische Partei! Es lebe die Rote Armee! Es lebe die Sowjetunion!"

Horst Hommel, Berlin
AG Kundschafter in der GRH e. V.

*

Anfang Texteinschub
Ein Held der DDR

Vom 26. August bis zum 3. September 1978
umkreiste der Jagdflieger und Kosmonaut
Sigmund Jähn zusammen mit drei sowjetischen
Kosmonauten in der Raumstation "Salut 6" die
Erde. Der erste Deutsche im All war ein
DDR-Bürger.

Der Sohn eines Sägewerkarbeiters wurde am
13. März 1937 in Morgenröthe-Rautenkranz
geboren, war gelernter Buchdrucker und
Pionierleiter. 1955 trat er seinen Dienst
bei der VP-Luft an, dem Vorläufer der
Luftstreitkräfte der DDR.

1986 ernannte ihn die DDR-Führung zum
Generalmajor, am 2. Oktober 1990 entließen
ihn die Vollstrecker der Konterrevolution
aus dem Dienst. Er hat den Kopf oben behalten
und machte sich auch bei westlichen Fachleuten
einen Namen.

Sigmund Jähn gehörte zu den treuen Lesern des
"RotFuchs" und trat in Regionalgruppen des
"RotFuchs"-Fördervereins als Referent auf. Am
21. September starb er in Strausberg.

Die "RotFuchs"-Redaktion und der Vorstand des
Fördervereins verneigen sich vor ihm und
bekunden seinen Hinterbliebenen ihr Beileid.
Ende Texteinschub

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Die Sowjetunion hatte keine andere Wahl

Der sogenannte Hitler-Stalin-Pakt gehört nach wie vor zum bevorzugten Repertoire antikommunistischer Propaganda. Auf der Basis der Unkenntnis vieler über die Kompliziertheit der damaligen Vorgänge werden manipulativ Tatsachen ausgeblendet oder gar auf den Kopf gestellt.

Im Verlauf der letzten 70 Jahre wandelte sich die Zielrichtung der Darstellung. Konstant geblieben ist nur ihre antikommunistisch-antisowjetische Ausrichtung. Dennoch gab es zeitlich unterschiedliche Akzente. Anfangs ging es darum, der UdSSR Aggressivität anzudichten, dann um eine Gleichsetzung des deutschen Faschismus mit der Sowjetunion unter Stalin, später darum, ihr eine Mitschuld, wenn nicht sogar Hauptschuld am Ausbruch des 2. Weltkrieges zu geben.

In der 1989 in der DDR entbrannten Diskussion bestand die Hauptstoßrichtung darin, zu suggerieren, daß Moskau mit dem Pakt aus eigenem Interesse Verbündete opfern würde. Auf die Sowjetunion zu zählen, hätte also keinen Sinn. Das begünstigte eine zunehmend schwankende Haltung zu diesem Vertrag unter DDR-Bürgern und auch Linken.

In der UdSSR wurde im Zuge von Perestroika der Pakt, vor allem das Zusatzprotokoll, durch den rechtsdominierten Volksdelegiertenkongreß im Dezember 1989 mehrheitlich in Frage gestellt: Stalin hätte sich den Deutschen zugewandt, um imperiale Ziele realisieren zu können.

In den öffentlichen wie auch wissenschaftlichen Diskussionen über den "Hitler-Stalin-Pakt" spielt die Frage nach der Option durch die sowjetische Seite eine ausschlaggebende, vor allem eine politische und somit propagandistische Rolle.

Unter marxistisch-leninistischen Historikern gab es hinsichtlich dieser Frage kaum Zweifel. Vielmehr wurden moralische und philanthropische Bedenken geltend gemacht. Bürgerliche Historiker und Medien hingegen halten hartnäckig an einer Wahlmöglichkeit fest: Stalin hätte ein Bündnis mit dem Westen ausgeschlagen.

Bemerkenswert ist, daß die Publikation eines bürgerlichen polnischen Historikers aus dem Jahre 2014 nicht nur die marxistische Sicht mit neuen Fakten untersetzt. Er belegt zweifelsfrei durch polnische, britische, französische und deutsche Quellen, daß die Westmächte keinesfalls willens waren, Polen zu helfen. Schlimmer noch: Sie trieben Polen in den Krieg, damit sie selbst verschont blieben. Demzufolge war auch nie ein Militärbündnis mit der UdSSR ins Auge gefaßt worden.

Polen hatte zu Deutschland und der UdSSR seit 1932/34 relativ gute Beziehungen, was den Westmächten nicht behagte. So war es auch nicht möglich, Hitler auf die UdSSR zu hetzen. Als Hitler Polen jedoch ein Ultimatum stellte, sein Vasall zu werden oder zu kämpfen, griffen die Westmächte ein. Sie befürchteten, daß Polen sich Hitler fügt und er sich statt nach Osten nach Westen wenden würde. Polen verweigerte sich Hitler, setzte aber auf Verhandlungen. Um Polens Widerstand zu bestärken und die eigene Ruhe im Westen zu sichern, wurden Polen politische und militärische Garantien versprochen. Die polnische Führung fühlte sich bestärkt. Doch weder die militärischen noch materiellen Versprechungen wurden je eingehalten.

Am 4. Mai 1939 beschlossen die Westmächte insgeheim, Polen jegliche Hilfe zu verweigern, es offiziell aber hinzuhalten. Daher wurden im Mai und August Militärbündnisse zwischen Polen und Frankreich/Großbritannien abgeschlossen. Nichtsahnend fühlten sich die Polen sicher, kauften für teures Geld Kriegsgerät, wovon aber nie etwas ankam. Als man sich der Kampfbereitschaft Polens sicher war, versuchten die Westmächte noch Warschau zu einem Zusammengehen mit der Sowjetunion zu überreden, die UdSSR mit Polen Hitler allein gegenüberstehen zu lassen. Doch das lehnte Warschau entschieden ab.

Als der Krieg begann, erklärte der Westen erst am 4. September Deutschland den Krieg, darauf rechnend, daß, bevor der Bündnisfall nach 14 Tagen einträte, Polen schon besiegt wäre. Am 12. September erklärte der Oberste Kriegsrat der Alliierten in Abbeville, daß auch jetzt keine Unterstützung Polens erfolgen und die französischen Truppen die wenigen Quadratkilometer deutschen Gebietes, das sie erobert hatten, räumen sollten. Die polnische Seite wurde darüber nicht informiert, ihr wurde im Gegenteil sogar Unterstützung versprochen. Doch kamen weder englische Schiffe noch alliierte Flugzeuge zu Hilfe.

Über das doppelte Spiel der Westmächte war die Sowjetführung im wesentlichen durch ihre diplomatische Vertretungen und ihre Auslandsaufklärung informiert. In offiziellen Publikationen griff sie zudem die deutsch-britischen Geheimverhandlungen zur Erlangung eines Modus vivendi und die schleppende Verhandlungsführung der Westmächte insgesamt an. Als die Bevollmächtigten der Westmächte dann in Moskau ohne Mandat und Funktion lediglich auf Sondierung aus waren, keine Verträge unterzeichnen wollten und zudem den Polen die Schuld zuwiesen, gab Stalin grünes Licht für Plan B. Die junge sowjetische Diplomatie hatte das Kalkül des Westens durchschaut und seine Pläne zum Scheitern gebracht. Daher sein Haß auf diesen Vertrag.

Ein Tag nach Unterzeichnung des Vertrages wurden die westlichen Hauptstädte übrigens von einem deutschen Botschaftssekretär über seinen gesamten Inhalt informiert. Keiner hielt es für nötig, die Polen darüber zu unterrichten ...

Dr. Bernhard Majorow


Lech Wyszczelski: Tajna gra mocarstw. Wiosna - lato 1939 (Das geheime Spiel der Großmächte Frühling-Sommer 1939). Warszawa 2014. 210 S.

Holger Michael: Die Legende vom Hitler-Stalin-Pakt. Berlin 2008. 158 S.

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Wie Ernst Busch seinen Henkern entkam

Der 22. November 1943 war ein naßkalter, wolkenverhangener Tag in Berlin. In der Haftanstalt Moabit legte sich der Untersuchungshäftling mit der Gefangenennummer 6447-43 früh schlafen. Das gegen 19.20 Uhr einsetzende Jaulen des Luftalarms nahm er schon nicht mehr wahr, so tief schlief er. Aus Richtung Westen waren mehr als 700 Lancaster- und Halifax-Bomber der Royal Air Force im Anflug auf das Stadtgebiet und entluden ihre tödliche Fracht von über 2000 Tonnen. Mehrere Sprengbomben trafen auch die Haftanstalt. Die Gefangenen hatten während der Luftangriffe in ihren Zellen zu verharren. Der wegen des Vorwurfs des Hochverrats angeklagte Ernst Busch wurde im Schlaf vom Bombardement überrascht, getroffen, schwer verletzt, zunächst für tot gehalten, durch den Gefängnisarzt dann aber notversorgt. Er notierte: "Ich schlief gerade, als ich eine kleine amerikanische Bombe auf den Kopf kriegte, und lag schon unten im Keller bei den Toten. Einer von unseren Kumpels hat mich herausgefischt, und ein Gefangenenarzt hat mich wieder zusammengenäht ..."

Nach vier Monaten im Lazarett stand der Angeklagte dann am 15. März 1944 vor seinen Richtern. An diesem Tag sollte die Entscheidung fallen. Ein zuvor angesetzter Termin war abgebrochen worden, da Beweismittel fehlten: die Tonträger mit dem hochverräterischen Liedgut konnten nicht herbeigeschafft werden. Den Vorsitz des ersten Strafsenats des Kammergerichts führte Dr. Arthur Rogge, der zusammen mit seinen Beisitzern Dr. Jank und Halledt für Hochverratsverfahren und sogenannte Rundfunkverbrechen zuständig war. 69 Todesurteile verhängte das Kammergericht in den Jahren 1943 bis Kriegsende wegen politischer Delikte. Das Gericht hatte 1936 durch das Reichsjustizministerium die Ersatzzuständigkeit für die Aburteilung politischer Straftaten zugesprochen bekommen.

Nur deshalb blieb dem Angeklagten ein Verfahren vor Freislers Volksgerichtshof erspart. Die Anklagen in solchen Verfahren verfaßte stets Generalstaatsanwalt Kurt-Walter Hanssen, vormals persönlicher Adjutant des Reichsministers Martin Bormann. Hanssen trat in den Hauptverhandlungen nie selbst auf, dazu bediente er sich willfähriger Staatsanwälte.

In der Anklageschrift vom 24. August 1943 hieß es: "Den Schauspieler Friedrich Wilhelm Ernst Busch, geboren am 22. Januar 1900 zu Kiel, zuletzt aufenthältlich in Frankreich, staatenlos, klage ich an, durch Gesangsvorträge im dortigen Rundfunk und seine Teilnahme an der Herstellung von Schallplatten des Moskauer Grammophon-Platten-Trusts für den Kommunismus geworben zu haben."

Werben für den Kommunismus war Hochverrat. Durch Lieder, deren Melodien für jeden eingängig waren. Durch Texte, die das Richtige sagten und die Richtigen trafen. Durch die Darbietung, die mitriß. Wer kannte damals nicht das Einheitsfrontlied oder das Solidaritätslied? Für das Verbreiten kommunistischen Gedankenguts durch Schriften, Tonträger und Radiosendungen sah der seit 2. Mai 1934 geltende § 83 StGB Zuchthaus von mindestens zwei Jahren bis Todesstrafe vor. Dem Angeklagten Busch war der Ernst seiner Lage sicher bewußt.

Bereits am 9. März 1933 hatte die SA anläßlich einer Razzia in der Künstlerkolonie Berlin-Wilmersdorf versucht, seiner habhaft zu werden. Er konnte rechtzeitig fliehen. Die kommenden zehn Jahre trieben ihn kreuz und quer durch Europa. Von den Niederlanden nach Belgien und Frankreich, sodann in die Sowjetunion, nach Spanien und 1938 wieder nach Belgien zurück. Zum Beginn des Westfeldzugs der Wehrmacht wurde er am 10. Mai 1940 in Antwerpen von den belgischen Behörden festgenommen und in südfranzösische Internierungslager überstellt. In St. Cyprien und Camp de Gurs hielt er sich mehr als zwei Jahre auf, bis ihm Ende 1942 die Flucht gelang. Er schlug sich bis zur Schweizer Grenze durch, wo er am 15. Januar 1943 im Städtchen Annecy französischen Vichy-Gendarmen in die Hände fiel.

Auf Geheiß der Gestapo wurde Ernst Busch via Paris in die JVA Berlin-Moabit verbracht. Durch sein über Jahrzehnte währendes entschiedenes und offenes Eintreten für die Belange der Unterdrückten und Ausgebeuteten hatte er den blanken Haß der Faschisten auf sich gezogen. Mit Gnade durfte er nicht rechnen. Er suchte nach Auswegen.

Ernst Busch und Gustaf Gründgens kannten sich seit ihrer gemeinsamen Zeit beim Stadttheater Kiel 1921. Gründgens, der im kulturellen Leben Nazi-Deutschlands an exponierter Stelle wirkte und sich 1943 als Frontfreiwilliger gemeldet hat, erhielt einen aus der Haft geschmuggelten Kassiber. Ernst Busch bat ihn darin um Hilfe. Der politische Graben zwischen Busch und Gründgens konnte tiefer nicht sein, der alten Freundschaft jedoch stand er nicht entgegen. Gründgens zögerte nicht, schrieb ans Kammergericht und verwandte sich für Busch. Zusätzlich beauftragte er zwei Berliner Rechtsanwälte zu dessen Verteidigung. Busch bemerkte: "Diese Rechtsanwälte kamen auf eine juristische Idee, die mir tatsächlich das Leben gerettet hat. Sie machten nämlich geltend, daß ich bereits am 27.4.1937 von den Nazis ausgebürgert und daher seit diesem Zeitpunkt als staatenlos anzusehen sei."

In der Tat war Ernst Busch im April 1937 aus der Staatsbürgerschaft entlassen worden. Grund waren seine zahlreichen Auslandsaufenthalte und der Umstand, daß er allerorten für den Kampf gegen den Faschismus warb. Die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts 1934 gab dem faschistischen Staat die Möglichkeit, mißliebige Personen zu Staatenlosen zu erklären. Ein Staatenloser konnte streng genommen keinen Hochverrat begehen, denn er war weder Deutscher im Sinne des § 3 Abs. 1 StGB, noch hatte er als Staatenloser einen Staat, den er hätte verraten können.

Tatsächlich entging Ernst Busch zwar der Todesstrafe, wurde aber zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte in ihrem Plädoyer noch sieben Jahre beantragt. Die Urteilsgründe zeigen, daß man dem zentralen Einwand der Verteidigung die Spitze nahm. Der Strafsenat verurteilte Ernst Busch letztlich nur wegen Handlungen, die zum einen zeitlich vor der Ausbürgerung lagen und andererseits nach dem 2. Mai 1934, als der verschärfte § 83 StGB in Kraft trat, vorgenommen wurden. Deshalb beschränkte sich der "Tatzeitraum" auf seinen Moskauer Aufenthalt 1936 bis Februar 1937.

Von Gesetzes wegen hätte gleichwohl die Möglichkeit bestanden, Busch auch wegen des mehrfachen Auftritts im Moskauer Rundfunk zum Tode zu verurteilen. Allerdings war die Staatsanwaltschaft mit weiteren Problemen konfrontiert.

Busch erklärte: "Vor dem Strang rettete mich allein die Tatsache, daß dem Staatsanwalt für meinen Termin am 15. März 1944 sowohl die Zeugen als auch das Material gegen mich (Schallplatten und Liederbücher) vielleicht durch dasselbe Bombardeo, verlorengingen."

Beweismittel und Belastungszeugen waren nicht (mehr) verfügbar. Der einzig gehörte Zeuge Otto Glaeser, Intendant der "Kunstbühne der Gesellschaft für Volksbildung", der für Busch von 1926 bis 1933 als Manager tätig war, versuchte in seiner Zeugenaussage Busch als herausragende Schauspielerpersönlichkeit ins positive Licht zu setzen.

"Ich ließ Glaeser und mehrere ehemaligen Freunde als Entlastungszeugen laden, aber nur Glaeser hatte den Mut, vor dem Kammergericht zu erscheinen ...", erinnerte sich Busch.

Die Beweisnot mag also nicht ganz unerheblich zum einigermaßen günstigen Verlauf des Verfahrens für ihn beigetragen haben. Das Urteil wurde noch am Tage seines Ausspruchs rechtskräftig. Busch trat die Strafhaft in der JVA Brandenburg an. Unter Anrechnung der U-Haft standen noch 22 Monate zur Vollstreckung. Bis zum Tag der Befreiung der Häftlinge durch vorrückende Sowjetsoldaten am 27. April 1945 war Busch dem Arbeitskommando bei der Knopffabrik Motz zugeteilt. Er stanzte Uniformknöpfe.

Sie haben Gesetzbücher und Verordnungen
Sie haben Gefängnisse und Festungen
(Ihre Fürsorgeanstalten zählen wir nicht!)
Sie haben Gefängniswärter und Richter
Die viel Geld bekommen und zu allem bereit sind.
Ja, wozu denn?
Glauben sie denn, daß sie uns damit kleinkriegen?
Eh sie verschwinden, und das wird bald sein,
Werden sie gemerkt haben, daß ihnen das alles nichts mehr nützt.

(Aus: Bertolt Brecht, Die Mutter, 1931)

Dr. Ralf Hohmann, Baden-Baden

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Vor 45 Jahren: Agrarreform im Alentejo

Die Lösung der Agrarfrage nahm in Portugal Ende 1974, Anfang 1975 durch die ersten von Arbeitern durchgeführten Besetzungen großer Güter und die Agrarreformgesetze des Sommers 1975 revolutionäre Formen an. Den Landarbeitern und den mit ihnen verbundenen sozialen, politischen und militärischen Kräften gelang es, eine radikale Bodenreform als Voraussetzung sozialer Revolution in einer kurzen Periode, in der revolutionäre, auf eine Änderung der sozialen Ordnung zielende Kräfte dominierten, gesetzlich zu verankern.

Unmittelbares Ziel war es, die in weiten Teilen des Landes existierenden Latifundien zu beseitigen, die Böden zu nutzen und damit Arbeit für alle und soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Waren auch kleinere und mittlere Landwirte und Pächter ebenso wie Maschinenverleiher an Besetzungen und Kooperativgründungen hier und da beteiligt, so wurden die neuen Einheiten doch in der Hauptsache von Landarbeitern gebildet.

Herausragendes Merkmal der neuen Produktionseinheiten war, daß die Landarbeiter die besetzten Güter nicht unter sich aufgeteilt, sondern sich zu kollektiver Bewirtschaftung entschlossen hatten und unabhängig von staatlicher Einmischung eigene autonome Betriebsleitungen wählten.

Ein weiteres Charakteristikum war die Zahlung fester Löhne für die Kooperanten. Es gab keine Gewinnverteilung und in den meisten Fällen auch keine private Parzellennutzung.

Obwohl die Kollektivgüter auf vom Staat enteigneten Böden wirtschafteten, unterschieden sie sich von Staatsgütern durch die demokratische Wahl ihrer Leitungen, die über soziale, ökonomische, technische und administrative Angelegenheiten selbst entschieden und dabei die konkrete Situation der jeweiligen Kooperative berücksichtigen konnten. Sie stellten damit eine neue, gewissermaßen spezifisch portugiesische landwirtschaftliche Betriebsorganisation dar.

Seit 1954 hatten die Landarbeiter unter der Losung "Den Boden denjenigen, die ihn bearbeiten" gekämpft. Die kommunistische Partei (PCP), die nach 1974 die einzige Partei war, die auf eine bis in die 1. Republik zurückreichende Geschichte verweisen konnte, hatte im Alentejo vom Mai 1947 bis in die 60er Jahre ihre illegale Zeitung "O Camponês" (Der Bauer) und andere Publikationen verbreitet. Sie benutzte erstmals 1947 den Begriff Agrarreform, worunter sie zunächst die Aufteilung der Latifundien an Landarbeiter, Kleinbauern und Kleinpächter verstand.

Die Suche nach einer minimalen Beschäftigungsgarantie war der unmit telbare Grund für die ersten Besetzungen; Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung waren die großen Beschleuniger der Bewegung. Die PCP war der hauptsächliche Förderer der nach der Revolution neu entstandenen Landarbeitergewerkschaften. Sie identifizierte sich mit der Agrarreform und den Kollektiveinheiten, und ein großer Teil der Arbeiter identifizierte sich mit ihr. Ihr Beitrag zum Agrarreformprozeß war grundlegend. Selbst ein Ergebnis des Drucks der Massen, die einen Militärputsch in eine Revolution verwandelt hatten, sollte die auch aus Besetzungen resultierende Agrarreform doch zugleich den Fortgang dieses revolutionären Prozesses sichern, indem sie den besitzenden Klassen einen wesentlichen Teil ihrer ökonomischen Macht und teilweise auch die politische Macht im Staat nahm.

Was kennzeichnete die Besitzverhältnisse auf dem Land vor der Revolution?

Von den 810.000 im kontinentalen vorrevolutionären Portugal gezählten Landwirtschaftsbetrieben verfügten 9200 Betriebe (1,1 % der Gesamtzahl) über zusammen 2,5 Millionen Hektar bei einer Gesamtfläche von fünf Millionen Hektar. Auf 480.000 Betriebe (59 %) entfielen dagegen nur 7 % der Gesamtfläche. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es sich hier nur um die Betriebsstruktur, nicht aber um die Eigentumsstruktur handelte. Großer Grundbesitz teilte sich besonders im Norden oft in kleine Pachtbetriebe auf. Im Norden und im Zentrum waren 87 % der Gesamtzahl der Betriebe angesiedelt. Sie verteilten sich damit auf nur 34 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche, folglich befanden sich 13 % der Betriebe in den südlichen Distrikten und vereinnahmten eine weitaus größere Fläche. Hier wirtschafteten 96 % aller über 500 ha großen Betriebe. Während das Land vor allem im Norden trotz des ebenfalls durchaus vorhandenen Großgrundbesitzes stark parzelliert war, war der Süden insbesondere durch die extrem ungleiche Aufteilung des Bodens, vor allem in der Provinz Alentejo, geprägt. Der Polarisierung der Besitzverhältnisse entsprach eine Sozialstruktur, in der die Industrie- und Landarbeiter mit achtzig Prozent die größte Gruppe darstellten, gefolgt von den selbständigen Bauern (13 %), den städtischen Mittelschichten (5 %) und den "patrões" (2 %).

In den südlichen Distrikten Beja, Évora, Portalegre, Setúbal, Santarém und Castelo Branco besaßen die tausend über 500 ha großen Betriebe so viel Boden wie die restlichen 166.000 Betriebseinheiten zusammen. Die Latifundienregion umfaßte etwa 52 % der kultivierbaren und 45 % der kultivierten Fläche des Landes; sie erbrachte aber nur 29 % des nationalen Agrarprodukts und nur 19 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). In dieser dünnbesiedelten Region (36 Einwohner/qkm gegenüber 93 Einw./qkm im Landesdurchschnitt) lebten ca. 1,3 Millionen Menschen, d. h. rund 16 % der Landesbewohner.

Das Gewicht der Region war in einigen Bereichen der Landwirtschaftsproduktion erheblich: Sie erreichte bei Reis einen Anteil von 79 %, bei Kork 94 %, bei Hafer und Gerste 71 %, bei Weizen 68 % und bei Olivenöl 61 %. Die oft absentistischen Großgrundbesitzer betrieben aber nur auf einem Teil ihrer Güter landwirtschaftliche Produktion. Gearbeitet wurde gewöhnlich im Frühling, Anfang Sommer und an einigen Wintertagen. Die im Latifundium gezahlten Löhne gehörten zu den niedrigsten Einkommen der portugiesischen Landwirtschaft. Lohnerhöhungen und der Kampf um Arbeitsplätze hatten daher immer im Mittelpunkt der Klassenauseinandersetzungen gestanden.

Die Erhöhung landwirtschaftlicher Produktion und Produktivität im Rahmen einer auf Importsubstitution gerichteten Wirtschaftsstrategie war eine der von der Streitkräftebewegung (MFA) nach der Revolution verfolgten volkswirtschaftlichen Zielsetzungen. Auf diesen Aspekt wies das vom Ministerrat angenommene Enteignungsgesetz (decreto-lei, No 406-A/75 vom 29. Juli 1975) hin. Es beschränkte sich ausdrücklich darauf, die Normen für die Enteignung bestimmter, teilweise bereits besetzter Böden zu bestimmen. Weder bei der Festlegung des künftigen juristischen Bodenstatuts noch bei der Herausbildung neuer Organisations- und Produktionsformen sollte staatlicherseits vorgegriffen werden. Damit fand der Partizipationsgedanke in der Agrarreform Berücksichtigung.

Ein Punktesystem wurde entwickelt, das die Böden entsprechend der Fruchtbarkeit, Bepflanzung und durchgeführten Verbesserungen und auf Grundlage des kataster-amtlichen Nettoertrags bewertete. Enteignet nach Gesetz wurden Flächen, die zusammengenommen mehr als 50.000 Bodenwertpunkte erreichten, also mehr als 50 ha mittleren Bewässerungslandes umfaßten oder die - unabhängig von der Punktzahl - größer als 700 ha waren. Enteignet wurde auch, wenn die Besitzer sich hatten Vergehen zuschulden kommen lassen, die bereits in einem Gesetz (decretolei 660/74) vom 25. November 1974 definiert worden waren, oder wenn Eigentum nicht den Mindestforderungen an die Bodennutzung (Art. l) entsprochen hatte.

Die Enteignungen konnten nur nach Erlaß jeweiliger Einzelverordnungen Rechtskraft erlangen. Die ersten Enteignungen wurden Mitte September 1975 offiziell angeordnet. Im Unterschied dazu sah das Nationalisierungsgesetz "decreto-lei" 407-A/75 vom 30. Juli 1975 keine einzelnen Enteignungsakte vor, sondern erklärte die in den vor allem in den 60er Jahren mit staatlichen Mitteln bewässerten Gebieten des Alentejo und Ribatejo liegenden Flächen über 50.000 Punkte mit sofortiger Wirkung für nationalisiert. Insgesamt fielen unter dieses Gesetz 210.000 ha Bewässerungsland. Unter den von Nationalisierung betroffenen Betrieben befanden sich auch verschiedene agroindustrielle Großbetriebe.

In den von Landbesetzungen und Enteignungen betroffenen Gebieten vor allem des Alentejo und Ribatejo hatten sich in Form der landwirtschaftlichen Kooperativen (CA) und kollektiven Produktionseinheiten (UCP) jene neuen Betriebsformen und Strukturen herausgebildet, die sich 1976 konsolidierten und die größtenteils staatlich anerkannt wurden. Zwischen Oktober 1975 und Juli 1976 wurden nach Ausarbeitung der Betriebsstatuten 473 dieser Produktionseinheiten durch Bekanntgabe im "Diário do Governo" legalisiert.

Ziel war nicht ein Maximum an Gewinn, sondern ein Maximum an Beschäftigung, wobei der Anteil permanenter Arbeitskräfte erweitert und der der Gelegenheitsarbeit gesenkt werden sollte. Tatsächlich erhöhten die neuen Betriebseinheiten die Produktion, sicherten und schufen Arbeitsplätze und verbesserten die Lebensbedingungen. Bis zum Abschluß der Konsolidierung der neuen Betriebe sollten die UCPs den alten Kulturtyp beibehalten, um dann mit der Rekonversion der Kulturen, der Erhöhung der Hektarerträge und der Beschäftigtenzahlen zu beginnen.

Vom Staat erwartete man Investitionen für Industrie und wissenschaftliche Forschung, vor allem aber auch direkte Investitionen für die Verbesserung der ländlichen Infrastruktur.

Bei der Umsetzung der Reform, die von Beginn an zum Schutz der Interessen der Kleinbauern innner- und außerhalb der Region des Großgrundbesitzes aufrief, zeigte sich jedoch, daß im Süden diese Bauern weitgehend übergangen wurden. Ihnen waren kaum Böden zugeteilt worden, und es gab offenbar auch Anlaß, vor übertriebener Eile in der Angleichung kleiner und mittlerer Bauern an das Landproletariat durch mehr oder weniger erzwungene Eingliederung in Kollektiveinheiten und vor Gewaltanwendung zu warnen. Der Generalsekretär der PCP Álvaro Cunhal erklärte, daß es nur wenige Fälle gab, in denen echte Bauernkooperativen auf enteignetem Land gegründet worden waren. Daß den Bauern nicht mehr Land zugeteilt wurde, marginalisierte die Kleineigentümer im Reformprozeß und weckte Ressentiments; es schuf Unzufriedenheit, die einen Teil dieser Klasse in ein Bündnis mit den in der Konföderation portugiesischer Landwirte (CAP)) organisierten Latifundisten und Großbauern trieb. Das für die Agrarreform und den revolutionären Prozeß als wichtig erkannte Klassenbündnis zwischen Kleineigentümern und Landarbeitern kam so nicht zustande, da an der Basis das "Grundproblem dieser Regionen: die Verwirklichung des Bündnisses im eigenen Sozialfeld, in dem man sich betätigte", nicht gelöst wurde.

Um so schwerer wog, daß es am Rande der Landbesetzungen 1975 auch zur Besetzung einiger kleiner Höfe gekommen war. Obwohl insgesamt nicht mehr als eine periphere Erscheinung, war der angerichtete politische und psychologische Schaden doch beträchtlich. Diese Feststellung gilt vielleicht noch mehr für die Kleinbauernmassen des Nordens, deren Lebensverhältnisse sich durch die Revolution nur wenig verändert hatten und die nun mit dem Beispiel "expropriierter Bauern" erschreckt wurden. Die Gegenrevolution begründete u. a. damit, den Reformprozeß stärkerer staatlicher Kontrolle zu unterwerfen und ihn zu disziplinieren.

Mit den die revolutionäre Dynamik schwächenden Ereignissen des November 1975 errangen die gegenrevolutionären Kräfte auf der politischen Ebene einen Sieg; ihnen drohte aber eine Fortsetzung des revolutionären Prozesses, der sich auf der Grundlage der umgestalteten ökonomischen Machtverhältnisse und der teilweisen Übertragung ökonomischer Macht auf die unmittelbaren Produzenten neu entfalten konnte. Diese Tatsache mußte die Veränderung und Revision der neugeschaffenen Besitzstrukturen seitens der Rechten in den Mittelpunkt des Interesses rücken, während die Linke umgekehrt mit dem neugeschaffenen nationalisierten Sektor und der Agrarreform die Zukunft der Revolution zu verteidigen suchte.

1976 war es Ziel der Rechten, den revolutionären Prozeß zu zügeln und ein sich der Kontrolle von Regierung und Staat entziehendes paralleles Machtzentrum, das zudem den Kommunisten zum Aufbau von Gegenmacht verhalf, zu beseitigen.

Dementsprechend übertrug eine Parteienplattform genannte Vereinbarung dem Staat die alleinige Kompetenz bei der Durchführung der Agrarreform, die sich bis dahin praktisch ohne Kontrolle und Einrahmung von seiten der staatlichen Organe entwickelt hatte. Anstelle eines freien Verfügungsrechts erhielten die neuen Produktionseinheiten das Recht auf Bodennutzung ("uso da terra").

Die im November 1976 beginnende Amtszeit des Soziologen António Barreto als Agrarminister in der 1. Konstitutionellen Regierung unter Mário Soares signalisierte den Beginn der nicht nur legislativen Gegenrevolution. In einer Fernsehansprache nach seiner Amtsübernahme versicherte der neue Minister - einst selbst Mitglied der PCP, nun "Anhänger der freien Marktwirtschaft" -, die Bodenumverteilung in "Freiheit und Gerechtigkeit" fortführen zu wollen.

Zum Kernstück der legislativen Wendepolitik wurde im Sommer 1977 das nach dem Landwirtschaftsminister benannte "lei-Barreto", dessen offizielle Bezeichnung "Gesetz der Allgemeinen Grundlagen der Agrarreform" (lei 77/77) lautete und das die Agrarreformgesetze des Sommers 1975 ablöste.

Das Barreto-Gesetz stellte für mehr als elf Jahre die Basis dar, auf der bürgerliche und sozialistische Regierungen die Auseinandersetzung mit der Agrarreform führten. Es enthielt alle Mechanismen, die notwendig waren, den Kollektivsektor am Ende vollständig zu beseitigen.

Martin Leo
Portugal

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WISSENSCHAFTLICHE WELTANSCHAUUNG
Das NKFD - ein Beispiel breitester Bündnispolitik
Beitrag des Deutschlandsenders vom 12. Oktober 1975

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Pogrom 1938. Das Gesicht in der Menge ...

Das Pogrom fand in etwa 2000 Ortschaften statt, also überall in Deutschland, auch im kleinsten Kaff. Beauftragt und begangen von den staatlichen Autoritäten und den von ihnen Beauftragten, vielerorts begafft von aufgehetzten Zuschauern, "ganz normalen" Bürgern.

Die Auftraggeber des Pogroms garnierten es mit der verniedlichenden Sprachregelung "Kristallnacht". Mit dem Wort wurde suggeriert: Es ist nicht wirklich was geschehen ... nur ein paar Fenster sind zu Bruch gegangen. Eine Bagatelle also. Aber: Es ging unendlich viel mehr zu Bruch als Glas.

Das deutsche Pogrom war ein Großmanöver, wenn auch nicht eins der Militärs. Zivilisten statt Soldaten. Ein Stimmungstest, ein Testlauf der Mordmaschinerie. Er gelang überraschend gut. Hätten die Deutschen sich 1938 gegen das gewehrt, was den Juden - immerhin ihren Landsleuten und Mitbürgern - angetan wurde, dann wäre es vielleicht zur Shoah nicht gekommen. Es begann mit verbrannten Synagogen. Es endete mit Öfen und verbrannten Menschen. Das Pogrom von 1938 ebnete den Weg nach Auschwitz und zum Holocaust. Für den Holocaust war das Pogrom von 1938 die Initialzündung. Von da an war das Große Grauen akzeptabel.

Mein erster Besuch in Auschwitz im Jahr 1966 dauerte zwei Wochen. Die anderen Lager hatte ich zuvor aufgesucht. Ein älterer Herr aus Frankreich, vormals Häftling, führte mich durchs "Kanada" genannte Effektenlager der Nazi-Schergen: Taschen, Haare, Zähne, Brillen, Koffer, Bürsten, Kämme, Schuhe, Wäsche ... bergeweise.

So ist also Auschwitz - als das 1938 noch nicht formulierte Endziel des Pogroms - auch ein Grund für dieses Buch. Das Wort Auschwitz steht als pars pro toto für eine ganze Begriffswelt sowie für die anderen Lager, für Treblinka und Majdanek, für Chelmno und Groß Rosen. Für den nicht vorstellbaren Mord an 15 Millionen Menschen zwischen Berlin und Moskau. Für die Vernichtung des Judentums und der galizischen Kultur. Für die Mordanstalten, die wie Turbinen effizient für Durchsatz sorgten. Auschwitz: der Tiefpunkt der Geschichte, der Inbegriff des Bösen. Eiskalt, höllenheiß.

Der lange Marsch nach 1968

1955 sah ich in der Maison de France Alain Resnais' Film "Nuit et Brouillard" ("Nacht und Nebel", Musik: Hanns Eisler, Text: Paul Celan). Er zeigt die Häftlinge von Auschwitz, wie sie englische Kriegsberichter in Bergen-Belsen vorfanden. Ein zutiefst verstörender Film. Entsetzliche Bilder. Auf mich wirkten sie geradezu vernichtend. Er überstieg meine Fassungskraft. Ich hatte mir zuviel zugemutet. Im Alter von fünfzehn kann keiner das maßstablose Grauen seelisch verarbeiten. Kenntnis des Geschehens von Auschwitz war damals kaum verbreitet, man sprach nicht davon, nicht privat und öffentlich schon gar nicht. Auschwitz war tabu. Meine Mutter allerdings sprach gar nicht selten von Auschwitz - aber so, als stünde Auschwitz uns erst noch bevor. Das Verhängnis hing über uns wie eine schwarze Wolke: Eines Tages würde sie über uns kommen und uns restlos verbrennen.

Nach Resnais' Film vermutete ich in jedem erwachsenen Deutschen einen Täter. Einen derer, die in Auschwitz an der Rampe standen, die den halb Vernichteten die letzte Habe nahmen und sie zur Entlausung führten. Jeder Deutsche konnte einer dieser unbestraften Massenmörder sein und darauf warten, erneut loszuschlagen. Letztlich führte dies zu dem Eindruck, daß ich in einem Land voll unbestrafter Schwerverbrecher aufwuchs. Was man peu à peu erfuhr, schien dies durchaus zu bestätigen. Ist man jung, genügt der Eindruck. Man fragt nicht nach Hintergründen.

Mein Eindruck war, die Mörder liefen alle unbehelligt umher. Wolfgang Staudte drehte damals seinen Film "Die Mörder sind unter uns". Das Leben der Mörder, die er meinte: es war ausgesprochen komfortabel. Gutes Leben, gute Versorgung, hohe Ämter und Pensionen. Ungeniert trugen sie ihr völlig ungetrübtes Gewissen zur Schau. Sie redeten sich stets heraus.

Bei der Justiz stießen sie auf ungemein viel Verständnis und Entgegenkommen. Man bot ihnen die Ausrede des "Befehlsnotstands". Demzufolge waren die Täter in einer Notlage, nicht etwa ihre Opfer. Für die Opfer hatten deutsche Richter kein Verständnis. Was sie berichteten, galt als übertrieben, unbeweisbar oder erfunden. Das überraschte nicht: Die (west-)deutsche Nachkriegsjustiz bestand aus den Rechtsbrechern des "Dritten Reichs". Die Täter wurden fast nie verurteilt. Wollte man die Gesamtdauer der dann doch verhängten Haftstrafen durch die Zahl der Angeklagten teilen: Es wären allenfalls Minuten. Pro Mord zwei Minuten Haft. Die ohnehin halbherzigen Versuche zur Bestrafung gingen in zu vielen Fällen fehl. Meine Generation erfüllte dies mit tiefer Bitterkeit und Wut. Es belegte, daß man im Westen - nicht aber in der DDR - Gnade vor Recht ergehen ließ. Oder anders: daß man klammheimlich einverstanden war. In den Sechzigern brachen endgültig die Dämme, die die Tätergeneration zu ihrem Schutz errichtet hatte. Dies und nichts anderes initiierte die Ereignisse der Sechziger, die man als "68" etikettiert. Ihr Auslöser war der Zorn der frühen Nachkriegsjahre. Der Höhepunkt von 1968 war die bravouröse Mannestat von Beate Klarsfeld. Die mutige Beate tat schlicht und einfach das, wozu den Kindern der Täter immer noch der Mut fehlte: dem Repräsentanten der Deutschen (nicht dem Herrn K.) in effigie eine reinzuhauen. Ganz einfach, und doch so schwierig. Und so wirksam ...

Erinnerung: An was, wozu?

Mein Anlaß für dieses Buch liegt in der aktuellen Gegenwart, in Beobachtungen auf der Jubelfeier zum 25. Jahrestag des Falls der Mauer. Feierlichst am Brandenburger Tor begangen, unter Lichtdomen à la Speer. Die Eventmanager ließen sich was einfallen. Sie soufflierten einen Jubelschrei: "Wir sind das glücklichste Volk der Erde!" Alle brüllten. Ich war vermutlich nicht der einzige, dem die reziproke Analogie zu denken gab. Überglücklich? Jetzt vielleicht. Doch hat eben dieses Volk nicht ein anderes zum allerunglücklichsten Volk der Erde gemacht? ...

Wie anders war das alles an dem Tag in Charlottenburg: Auf allen Stolpersteinen brannten still die Kerzen. Man hielt betreten inne, man verstummte. Das war die Macht der leisen Töne. Schweigen taten auch die deutschen Massenmedien. Aber anders: Sie verschwiegen, daß der Tag des Mauerfalls auch der Tag des Pogroms von 1938 war.

Wieso muß man sich, bald ein Jahrhundert später, noch immer mit jenen scheußlichen Verbrechen befassen? Es gibt viele Antworten, ich gebe eine: Ich wohne in Charlottenburg, dort bin ich geboren. In der Pestalozzistraße, acht Minuten von uns entfernt, befindet sich die Synagoge. Man entdeckt sie, wenn man mit den Blicken nach ihr sucht. 1938 wurde auch sie angezündet.

Die Feuerwehr, beim Pogrom nur allzuoft der fachmännische Brandstifter: Hier tat sie einmal, was sie zu tun hat - sie löschte dieses Feuer. Nicht etwa, um die Synagoge, sondern umliegende Häuser zu schützen. 1947 wieder eingeweiht, wird die Synagoge heute von Polizei, von Stacheldraht und einer Mauer geschützt. Hier ist die Mauer nicht gefallen. Dieser Anblick läßt mich daran denken, daß in Deutschland etwas immer noch nicht stimmt. Leider kann man immer noch nicht damit rechnen, daß sich die Gründe für das Gedenken mit dem wachsenden Zeitabstand vermindern oder gar verschwinden. Nein: Sie vermehren sich derzeit. Trotz überzeugender Beweise gibt es weiter die Behauptung einer "Auschwitzlüge". Eine "Pogromlüge" wird nach der Lektüre dieses Buches nicht mehr möglich sein. Die schwarze Wolke schwebt noch heute über uns.

Gekürzt aus M. Ruetz / A. Köppe: Pogrom 1938.
Das Gesicht in der Menge.
Bilddokumente und Augenzeugenberichte zum 9. Nov. 1938.
Nimbus-Verlag, Wädenswil 2018, 144 S., 29,80 €

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"Manche junge Menschen sahen keine Perspektive"

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Die "Amazonien-Synode" und die "Theologie der Erde"

"Zur Wahrheit gehört nicht nur das Resultat, sondern auch der Weg. Die Untersuchung der Wahrheit muß selbst wahr sein, die wahre Untersuchung ist die entfaltete Wahrheit, deren auseinandergestreute Glieder sich im Resultat zusammenfassen."
K. Marx (MEW, Bd. 1, S. 7)

Vom 6. bis 27. Oktober fand in Rom die von Papst Franziskus einberufene "Amazonien-Synode" statt. Es sollten Antworten der römisch-katholischen Kirche auf die riesigen gesellschaftlichen und ökologischen Probleme von Amazonien gefunden werden. Diskussionsgrundlage war das von ausgewählten Theologen erarbeitete Arbeitspapier "Amazonien.

Neue Wege für die Kirche und für eine ganzheitliche Ökologie", das sich in drei Teile gliedert: "Die Stimme Amazoniens / Ganzheitliche Ökologie. Der Schrei der Erde und der Armen / Eine prophetische Kirche in Amazonien: Herausforderungen und Hoffnungen". (Instrumentum Laboris, 2019) An der Synode nahmen alle Bischöfe der Amazonasregion und weitere Bischöfe aus der ganzen Welt mit ihren Beratern teil. Berichterstatter der Synode war der brasilianische Kardinal Cláudio Hummes aus dem Franziskanerorden. Vom Ansatz her war diese Synode eine Partikularsynode, aber weil Papst Franziskus sich als Internationalist des menschlichen Miteinanders über die Dialektik von Reich und Arm betätigt, war die Synode ökumenisch und der römisch-katholischen Gesamtkirche verpflichtet.

Amazonien umfaßt etwa 7,5 Millionen Quadratkilometer der nördlichen Hälfte von Südamerika. Zu den etwa 22 Millionen Menschen in der Region Amazonien, das sich über neun Länder (Brasilien, Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Guayana, Peru, Surinam, Venezuela und Französisch Guayana) erstreckt, gehören annähernd drei Millionen Indigene. Allein im brasilianischen Teil von Amazonien leben etwa 150 verschiedene indigene Völker. Amazonien ist schon lange nicht mehr von einer "Chinesischen Mauer" umgeben. 1946 schrieb Max Frisch (1911-1991), der Globus sei "ausgemessen ein für alle Mal, eine Kugel, die handlich auf dem Schreibtisch steht: ohne die Räume der Hoffnung". (Frisch, 1946) Amazonien ist "ausgemessen", das riesige Waldgebiet mit seiner Biodiversität und seinen mineralischen Schätzen ist zu einer "Maschine zum Geldschlagen" (Marx, 1847) geworden. Alles Leben von Amazonien wird mit seinen Einwohnern durch die der kapitalistischen Raubökonomie innewohnenden Gier und Gewalt geschändet.

Mörderische Vergangenheiten

Weltweit sind die Vergangenheiten der römisch-katholischen Kirche reale Ketten, die sie nur mühsam und immer wieder von Rückschlägen begleitet abstreifen kann. In Lateinamerika war die Kirche Komplize der Kolonisatoren, und "diese Komplizenschaft hat die prophetische Stimme des Evangeliums erstickt" (Instrumentum Laboris). Es gab in der lateinamerikanischen Kirche Ausnahmen von christlich denkenden Erneuerern und Nonkonformisten, viel zu wenige, aber es gab sie. Geistliche wie Alonso de Sandoval SJ (1576-1652) oder der als "Apostel der Sklaven" geltende Petrus Claver SJ (1580-1654) haben sich verbindlich auf die Seite der Sklaven und Indigenen gestellt. Als Prophet und Befreiungstheologe hat sich der Dominikaner und Bischof Bartolomé de Las Casas (1474-1566) für die Indianer eingesetzt. (Grigulewitsch, 1976) Die Schriften von Las Casas waren im Spanien des mörderischen Franco-Regimes, das von Papst Benedikt XVI. durch Seligsprechung von faschistischen Klerikern noch im nachhinein rehabilitiert worden ist, verboten. Die Zeitschrift "jesuiten weltweit" datiert in diesem Jahr ihren Aufruf zum Spenden und Helfen für den Amazonas am Todestag von Las Casas (17. Juli). Las Casas hat drei Jahrhunderte vor Karl Marx die Dialektik von Herren und Sklaven, von Reichtum und Armut analysiert. Er berichtet authentisch, wie 1512 der Kazike Hatuey vor seiner Verbrennung von einem Franziskanermönch gefragt wurde, ob er sich taufen lassen wolle, um in den "Himmel" zu kommen. Hatuey fragte zurück, ob denn dort Christen seien. Der Franziskaner bejahte, worauf Hatuey erwiderte, er wolle lieber in die "Hölle", weil er im "Himmel" nicht derart grausame Menschen, wie sie die Christen sind, begegnen wolle. In seinem Testament schreibt Las Casas: "Gott hat mich ohne mein Verdienst als seinen Diener auserwählen wollen, um einzutreten für diese vielen Völker und Menschen, die wir Indios nennen [...], um sie zu befreien vom grausamen Morden, das ihnen angetan wird." (Enrique Dussel, 1979) Die Spanier, seit Jahrhunderten kriegserfahren und mit ihren Waffen den Eingeborenen weit überlegen, verübten einen an unsäglichen Grausamkeiten nicht zu übertreffenden Völkermord.

Die historische Periode der Conquista, des Kolonialismus und des Feudalismus wurde seit Beginn des 19. Jahrhunderts abgelöst von der Periode der formal unabhängigen lateinamerikanischen Nationen. Noch Papst Pius VII. (1742-1823) hat in einer Enzyklika (1816) die Unabhängigkeitsbestrebungen der Völker Lateinamerikas verurteilt. Der einheimische Kapitalismus in Lateinamerika ist von den Interessen der offensiv imperialistischen Staaten, insbesondere der USA, geprägt. Der Boden der Entwicklungsländer ist in Lateinamerika wie in Afrika auf Kosten der kleinbäuerlichen Bevölkerung zu einem Investmentprojekt der Reichen geworden. Auch wenn die Dimensionen riesig sind, sind sie historisch vergleichbar mit jenen, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Abbau der Steinkohlevorkommen und der damit verbundenen Industrialisierung im verhältnismäßig großen Ruhrgebiet ergeben haben.

Die Thyssen & Krupp etc. haben ihren Reichtum ohne jede Rücksicht auf die Gesundheit von Generationen der einheimischen Bevölkerung angehäuft. Der in einem deutschen KZ umgekommene Österreicher Jura Soyfer hat in der "Arbeiter-Zeitung" 1932 über das Reich der "Deutschen Schlotbarone" geschrieben und darüber, "wie die katholischen Pfarrer in den rußgeschwärzten Kirchen dieses Reviers frommen Bergleuten und ihren Frauen predigen", aber "die Schöpfer der Welt zwischen Dortmund und Duisburg thronen nicht auf Wolken, sondern auf Aktienpaketen".

Die Empathie für die indigenen Völker ist verständlicherweise eine andere als jene für das als "Herrenvolk" mörderische Kriege führende deutsche Volk. Wenn Marx über die britische Herrschaft in Indien schreibt, daß der Verlust der alten Welt, ohne daß eine neue gewonnen worden wäre, "dem heutigen Elend des Hindu eine besondere Note von Melancholie" gibt, trifft das umgekehrt genauso auf die indigenen Menschen zu. (Marx, 1853) Erst die revolutionären ökonomischen und politischen Kämpfe der sich aufgrund der ökonomischen Existenzbedingungen mit ihren gemeinsamen Interessen konstituierenden Arbeiterklasse ermöglichten deren Überleben mit erkennbaren Perspektiven. Die Kirche ist in diesem Prozeß nicht nur abseits gestanden, sie war vielmehr Teil des ideologischen Herrschaftsapparats der bürgerlichen Gesellschaft.

Der Sieg der kubanischen Revolution mit Fidel Castro (1926-2016) bedeutete seit 1959 für die immens reiche katholische Kirche in ganz Lateinamerika eine riesige, aber fruchtbare Herausforderung. Kuba war Agrarland mit überwiegend bäuerlicher Bevölkerung. Die Agrarreform gehörte zu den ersten Gesetzen nach dem Sieg der Revolution. Ausländischer und kubanischer Großgrundbesitz über 400 ha wurde enteignet, die Entschädigung der Besitzer erfolgte mit einer Laufzeit von zwanzig Jahren gemäß der Steuererklärung. Rund 100.000 Landarbeiter bekamen ein Stück Land, von dem sie leben konnten. Die kubanische Revolution stützte sich auf die Kleinbauern. Auf resultierende Probleme hat schon Friedrich Engels (1820-1895), aber auch Mao Tse-tung (1893-1976) aufmerksam gemacht. Castro hat als Marxist, wie in seinen Gesprächen mit Frei Betto deutlich wird, große Achtung vor Gläubigen gehabt. Dem revolutionären Marxismus in Lateinamerika war Christenfeindlichkeit fremd. (Frei Betto / Fidel Castro 1986)

Die alte Kolonialkirche Kubas begann "in einer neuen Epoche des christlichen Glaubens" zu leben. (Casaldáliga, 1989) Das II. Vatikanische Konzil mit Papst Johannes XXIII. (1881-1963) und Paul VI. (1897-1978) hat auf diese Entwicklung fortschrittlich reagiert und die bisherigen vatikanischen Verurteilungen von gemeinschaftlichen Volksprozessen gelockert. Der "Katakombenpakt" (1965), unterschrieben von 57 Konzilsbischöfen, will, daß die Kirche als dienende Kirche die "Option für die Armen" wahrnimmt. (Arntz, 2015) Für Jon Sobrino SJ (*1938) wird in der sich daraus entwickelnden Theologie der Befreiung die Nachfolge von Jesus historisch konkret verwirklicht, "weil es nicht um irgendein Folgen geht, sondern darum, das Leben Jesu zugunsten der Opfer und gegen deren Henker neu hervorzubringen". (Sobrino SJ, 2008)

Die Dokumente von Medellín (1968) mit ihrem öffentlichen Schuldbekenntnis, die der Tradition der Hierarchie widersprechende Entwicklung des konservativen Erzbischofs Óscar Romero (1917-1980) hin zum "Propheten einer Kirche der Armen" (Maier SJ, 2015), als welcher er ermordet wurde, und das Treffen in Puebla (1979) mit der "Entscheidung für die Armen" sind ohne den revolutionären Einfluß aus Kuba nicht denkbar. 1983 eröffnete die brasilianische katholische Kirche mit Erzbischof Helder Câmara (1909-1999) eine Kampagne "Brüderlichkeit", die sich für die Unterdrückten und Entrechteten und gegen jede Form der Rassendiskriminierung einsetzte. Papst Johannes Paul II. (1920-2005) und sein deutscher Nachfolger Benedikt XVI. nahmen dagegen bei allen Widersprüchen Partei für die "Zivilisation des Reichtums". Beide drangsalierten im Bündnis mit dem Pentagon die sich in Lateinamerika festigende Theologie der Befreiung. Im Arbeitspapier gelten beide Päpste als Autoritäten, während die Theologen der Befreiung unterschlagen werden. Von diesen sind vor dreißig Jahren in El Salvador Ignacio Ellacuría SJ (1930-1989), Ignacio Martín-Baró SJ (1942-1989), Segundo Montes Mozo SJ (1933-1989), Amando López Quintana SJ (1936-1989), Juan Ramón Moreno Pardo SJ (1933-1989) und Joaquín López y López SJ (1918-1989) von US-Henkersknechten als "Kommunisten" ermordet worden (16. November 1989).

Renaissance der Theologie der Erde

Als ein Zweig der kaum noch existenten und von der europäischen "Theologie des Opportunismus" intellektuell akademisch abgetane Theologie der Befreiung ist die Theologie der Erde einzuschätzen. Sie ist in Lateinamerika seit den 80er Jahren auf der Suche nach Alternativen im Umfeld des damaligen Jesuitenprovinzials Jorge Mario Bergoglio SJ, seit 2013 Papst Franziskus, entwickelt worden. Der brasilianische Benediktiner Marcelo de Barros Souza (*1944) und der argentinische, seinen Provinzial eher herausfordernde Jesuit José Luis Caravias SJ (*1935), der im Chacogebiet eine Gewerkschaft der Holzfäller gegründet hat, haben diese Theologie der Erde im deutschen Sprachraum bekanntzumachen versucht. (de Barros Souza/Caravias 1990) Hans Küng (*1928), der in seinen Erinnerungen mit zurückhaltender Sympathie von der Befreiungstheologie und über seine Korrespondenz mit Gustavo Gutiérrez (*1928) schreibt, kennt die Theologie der Erde nicht. (Küng, 2014) Der für Christen verständliche Wunsch nach Spiritualität und innerlicher Brüderlichkeit wird in der Theologie der Erde verbunden mit der zum Handeln antreibenden Einsicht, daß Reichtum und Armut in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Für Barros OSB und Caravias SJ ist der Glaube also eine konkrete Sache, und sie erinnern an Che Guevara (1928-1967), der die Tapferkeit der Revolutionäre mit ihrer Zärtlichkeit verbindet und aufgerufen hat, mit Liebe zu kämpfen. Sie beschreiben die Konzentration von Agrarflächen durch riesige Monopole auf Kosten der mit Hilfe von Paramilitärs vertriebenen kleinbäuerlichen Landfamilien, die an den Randzonen der Großstädte ums nackte Überleben kämpfen. Ihre Theologie der Erde inspiriert Papst Franziskus bei seiner Forderung nach einer "ganzheitlichen Umkehr" hin zum Menschen als Teil der Natur. Es gelte "die persönliche und gesellschaftliche Komplizenschaft mit den Strukturen der Sünde zu erkennen", Informationen zu demaskieren, "die eine despotische Herrschaft über die Ortsansässigen ausüben und den Schmerzensschrei der Erde und der Armen ignorieren" (Instrumentum und Laudato Si).

Ganzheitliche Ökologie

"Instrumentum Laboris" greift viele komplexe Aspekte der Welt auf, wie Papst Franziskus das in seinen beiden Enzykliken "Evangelii Gaudium" (2013) und "Laudato Si" (2015) getan hat. Das Wirken eines Gottes wird ohne konkrete Erläuterung in Beziehung zu unserem Globus gesehen, "die Anwesenheit des Bösen" wird allerdings auf verschiedenen Ebenen identifiziert: "Kolonialismus (Herrschaft), ökonomistische Marktideologie, Konsumismus, Utilitarismus, Individualismus, Technokratie und Wegwerfkultur". Durchgehend wird der Begriff von "ganzheitlicher Ökologie" so verwendet, wie das Papst Franziskus in seiner Enzyklika "Laudato Si" (2015) getan hat.

Ökologie wird nicht vom Gemeinwohl abgetrennt, beides bedarf progressiver Lösungen, wofür sich das Arbeitspapier ausspricht. Der Berliner Marxist Herbert Hörz (*1933) sieht das genauso: "Es gilt antiökologisches Profitstreben anzuprangern und Gesellschaftskritik an der sozialen Ungerechtigkeit mit anschaulichen, realisierbaren und von vielen Menschen geforderten Idealen einer zukünftigen humanen Gesellschaft zu verbinden, damit Wissenschaft alle ihre Potenzen zum Wohle aller Glieder soziokultureller Einheiten entfalten kann." (Hörz, 2018)

Der in Vorarlberg aufgewachsene und nach seiner Ausbildung in Salzburg in der römischkatholischen "Kongregation der Missionare vom Kostbaren Blut" (CPPS) ab 1965 als Missionar in Brasilien wirkende Erwin Kräutler (*1939) hat an den Vorbereitungen zur Amazonas-Synode mitgewirkt. Kräutler hat im selben Jahr wie Ellacuría SJ in Österreich mit dem Studium der Theologie begonnen (1958/1959), Kräutler in Salzburg, Ellacuría SJ in Innsbruck.

Von 1981 bis 2015 war Kräutler der von Johannes Paul II. ausgewählte und ernannte Bischof der brasilianischen Amazonas-Region Xingu. Kräutler hat in seinem Zimmer sicher nicht das Porträt des kolumbianischen Priesterrevolutionärs Camilo Torres Restrepo (1929-1966) hängen. Sein Andachtsbild kann "Unsere Liebe Frau von Fàtima" sein, aber er hat sich für den Schutz der Eingeborenen persönlich exponiert und wurde von Schergen der herrschenden Klasse tätlich bedroht. Sein von ihm selbst dargestelltes Wirken macht deutlich, daß ihm als Bischof aber das Verständnis für die Theologie der Befreiung fehlt. Selbst die von Papst Franziskus eingeforderte Parteinahme für die Armen hat er nicht zu Ende gedacht. In der entscheidenden Klassenfrage bleibt Kräutler so wie Johannes Paul II. Antirevolutionär, Antikommunist und ein für unsere durchkapitalisierte Welt letztlich nützlicher Bischof.

Caravias SJ muß die Schlußfolgerung ziehen, "daß es in Lateinamerika keinen demokratischen Fortschritt gibt. Wir sind heute stärker unterdrückt als zur Zeit der Diktaturen, aber mit anderen Mitteln: Gewalt mit wenig auffälliger, aber um so wirksamerer Wut. Es ist keine Angst mehr, die uns lähmt, sondern die Entfremdung. Und die großen Eigentümer sind nicht mehr auf der nationalen Ebene, sondern auf der globalen." (Caravias SJ, 2019) Kräutler schreibt in seinem Buch "Habt Mut!" mit dem Bibelzitat "Wer das Schwert zieht, wird durch das Schwert umkommen" (Mt 26, 542) als "Lebensregel" fest: "Absolute Gewaltlosigkeit ist ein Grundauftrag nicht nur der Bibel, sondern jeder ernsthaft humanistischen Lebensführung." (Kräutler, 2016) Kräutler ist im Einvernehmen mit Kardinal Hummes OFM (*1934), der appelliert, sich nicht zu ergeben: "Wir müssen Unwillen zeigen, nicht gewaltsam, aber doch auf entschiedene und prophetische Weise." (Spadaro/Hummes 2019)

Mit Bibelpassagen läßt sich auch ein revolutionäres Gedankengut so begründen, wie das Gerrard Winstanley (1609-1676) getan hat. Der marxistische Rechtsphilosoph Hermann Klenner (*1926) hat immer wieder darauf aufmerksam gemacht, wie sich, wenn es konkret wird, die Gegensätze in Raum und Zeit stoßen. (z. B. Klenner, 2004) Ohne Bibelzitat läßt Kräutler die Armen auf seine Fata Morgana am Horizont schauen: "Sie [d. s. die Armen] allein haben keine Chance, sich zu wehren, wenn sie von ihren Gebieten vertrieben werden, weil man Soja anbauen will oder weil es um den Abbau von Bodenschätzen geht. Es braucht Menschen, die sie unterstützen. Ich bin überzeugt, daß es die indigenen Völker ohne die katholische Kirche und ohne den Bischöflichen Rat für die Indigenen Völker nicht mehr gäbe." Kräutler sieht es als Aufgabe der Katholischen Kirche an, den Indios bei ihren Vorsprachen beim Nationalkongreß "logistischen und juridischen Beistand zu leisten und sie mit unseren Rechtsanwälten und anderen Sachverständigen zu unterstützen". (Kräutler, 2016) Kräutler verlangt von den Enteigneten, sich in das herrschende Rechtssystem, das mit seinen Gesetzen die Enteignung und den damit einhergehenden Terrorismus ermöglicht, unterwürfig einzugliedern.

Dem Bauern Wang Lung läßt Pearl S. Buck (1892-1973) von einem Missionar das gezeichnete Bild des gekreuzigten Jesus erklären: "Der Tote da, das seid ihr", verkündet der junge Lehrer, "und der feiste Mörder, der auch dann noch auf euch einsticht, wenn ihr schon tot seid und nichts mehr davon spürt, das sind die Reichen und die Kapitalisten, die auf euch einstechen, selbst nach eurem Tod. Ihr seid arm und unterdrückt und zwar deshalb, weil die Reichen alles besitzen wollen." (Buck, 2014) Wegen dieser Parteinahme für die chinesische Revolution wurde Buck vom "Untersuchungsausschuß für unamerikanische Umtriebe" beschuldigt, das kommunistische Programm zu befolgen. Kräutler hilft dagegen (so ist jedenfalls der Eindruck aus seinen in Österreich verbreiteten Stellungnahmen) mit, entstehende Volksbewegungen in Amazonien zu entwaffnen und zu domestizieren, wenn er ihnen als alleinigen Ausweg empfiehlt, sich den über Amazonien herrschenden Rechtsverhältnissen zu unterwerfen. Rechtsverhältnisse sind Herrschaftsverhältnisse.

In Wendezeiten der Geschichte gilt es für die Theologen, sich zu entscheiden, ob einer Rechtsordnung, die Unrecht möglich macht, Folge zu leisten ist, oder ob eine Revolution zu Befreiung von Unrecht anzustreben ist. Ellacuría SJ spricht über die Notwendigkeit von Volksbewegungen, sich von den Strukturen der Gewalt gemeinsam und mit revolutionärbefreiender Gewalt zu befreien: "Wenn kein anderer Ausweg bleibt, wird diese revolutionäre Gewalt zum bewaffneten Kampf, ohne deswegen terroristischer Kampf sein zu müssen. Sie nimmt die Gestalt der Guerilla an, was dazu führt, daß Formen irregulären Krieges, aber darum noch nicht terroristische Kampfformen, eingeführt werden. Terrorismus ist nicht das, was die von vornherein als Terroristen Bezeichneten tun, sondern diejenigen sind Terroristen, die, in der objektiven Definition des Wortes, Terrorismus praktizieren." (Ellacuría, 1988) Natürlich respektiert Ellacuría SJ die Berufung jedes einzelnen, der zur Lösung der Probleme von Ungerechtigkeit und Gewalt eher friedliche Mittel anwenden will als gewaltsame Methoden, "so sehr diese unter Umständen auch ihre Berechtigung haben mögen". Denn auch der Christ komme nicht umhin, bestimmte Formen von Gewalt zu akzeptieren, "sofern es sich um eine nicht terroristische, befreiende Gewalt handelt, die vor allem auf die Befreiung von dem Tod bezogen ist, der über die Volksmehrheiten in der Dritten Welt hereinbricht". (Ellacuría, 1988) Ellacuría SJ mußte für sein Eintreten den "Preis der Gerechtigkeit" zahlen. (Jon Sobrino SJ, 2007) Er wurde mit fünf Mitbrüdern am 16. November 1989 in El Salvador im Auftrag der imperialistischen Kräfte der USA ermordet.

Urbane Probleme

Weil 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung Amazoniens in Städten wohnen, erörtert das Arbeitspapier die mit der Urbanisierung verknüpfte Armut und Gewalt in ihren verschiedenen Ausformungen wie Prostitution, Menschen- und Drogenhandel oder Zerfall der traditionellen Familien. Wenn von den sehr schnell gewachsenen Städten Amazoniens die Rede ist, so würde sich als Beispiel die am Rio Negro liegende Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Amazonas Manaus eignen, weil sich hier die barbarische Geschichte des Kapitalismus mit seinen bourgeoisen Kulissen und klassenübergreifenden Innovationen innerhalb von eineinhalb Jahrhunderten zweimal abbildet. Im 19. Jahrhundert war Manaus Zentrum des brasilianischen Kautschukmonopolanbaus und als solches innovatives Zentrum für Technik und Kultur. In der Mitte des 19. Jahrhunderts beobachtet Karl Marx, wie "das von Grund und Boden gewaltsam expropriierte, verjagte und zum Vagabunden gemachte Landvolk durch grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert" wurde. (Marx, 1867) Die Kautschukbarone wollten sich nicht nur ihre Zigarren mit Banknoten anzünden, sie wollten sich so wie in der Gegenwart die Profiteure des Elends wie die US-Milliardärs-Familie Sackler mit Stiftungen Ruhm und Nachruhm in der bürgerlichen Welt einhandeln. Diskret bleibt das dem Vatikan bekannte Bankhaus Julius Bär, das für die Milliardengewinne aus Amazonien wie aus dem Kongo oder anderen "Entwicklungsgebieten" diskrete Herberge ist. Mit Beendigung des Kautschukmonopols durch den in Asien möglich gewordenen Anbau stürzte Manaus Jahrzehnte ab. Heute ist die Stadt wegen der sich aus dem Raubbau der Amazonaswälder ergebenden Profitraten der Holzkonzerne wieder eine moderne Großstadt, deren Handelseliten von der Freihandelszone nochmals Profit machen. Manaus ist umringt von den wachsenden Favelas der Vertriebenen. Kapitalismus ändert sich im Grundsatz nicht, der Glaube an seine Transformation bleibt ein Irrglaube. 2001 wurde in Manaus in der renovierten, 1900 erbauten Oper "Die Dreigroschenoper" von Kurt Weill (1900-1950) und Bertolt Brecht (1898-1956) mit ihrer präzisen Darstellung der Doppelmoral von Geschäftemachern im gewöhnlichen Kapitalismus aufgeführt.

Öffnung des römischen Katholizismus für amazonisch-indigene Traditionen

Caravias SJ analysiert: "Wir wissen nicht genau, gegen wen wir kämpfen müssen; wir kämpfen mit blinden Augen. Die breiten Schichten sind zerstreut und verdünnt." (Caravias SJ, 2019) In den Armenvierteln von Lateinamerika gewinnen die auf Empfehlung von Nelson Rockefeller (1908-1979) von der US-Strategie ("Dokumente von Santa Fe") zur Bekämpfung der Theologie der Befreiung ermutigten und geförderten fundamentalistischen religiösen Organisationen rapide an Boden. "Instrumentum Laboris" spricht von der ungeheuren Manipulationskraft der imperialistischen Medien und von ihrer "kolonisierenden Invasion", die zu "Entwurzelung und Identitätsverlust" führt. Als konkretes Beispiel sei The Israel Project (TIP) angeführt, das die Berichterstattung über Israel und seine besetzten und annektierten palästinensischen Gebiete weltweit kontrolliert und propagandistisch lenkt. TIP hat einen eigenen "Kriegsraum" zur Überwachung von Medien und Kommunikation. (Birgit Althaler, 2019)

Die katholische Kirche will die amazonischindigene Spiritualität mit ihrer "Kosmovision" nicht diskriminieren oder sich wertend von dieser abheben, sie will mit ihr zusammengehen und den Klerikalismus hintanstellen. Das ist für die römisch-katholische Kirche gewiß eine mutige Veränderung und erinnert an den französischen Jesuiten Teilhard de Chardin (1881-1955), der auf Buddhisten und Konfuzianer als Lernender und nicht Bekehrender zugegangen ist. Papst Franziskus ist selbst für den Islam offen, der definitiv an einen anderen Gott glaubt als das Christentum und die Welt gestalten will. Papst Franziskus geht auf China zu und findet in den dort gepflegten konfuzianischen und kulturrevolutionären Tugenden Anknüpfungspunkte. Diese ökumenische Ausrichtung von Papst Franziskus fußt auf der 34. Generalkongregation des Jesuitenordens (1995), die darauf verwiesen hat, daß ein Gerechtigkeit wirkender Glaube notwendigerweise zu Zusammenarbeit führen muß. Allen Religionen bleibt als Gemeinsames die Ohnmacht des Menschen:

"Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes." (Marx, 1844)

Daß der Zugang zur Bildung der Schlüssel zur Weiterentwicklung ist, wird mit der Empfehlung für Ausbildungszentren festgehalten. Ob die Chancen der Kinder und Jugendlichen für ein gutes Leben erhöht werden, wenn in allen Bildungseinrichtungen die "panamazonische indigene Theologie" unterrichtet wird, sei dahingestellt. Daß die traditionelle indigene Medizin in das Gesundheitssystem aufgenommen werden soll, ist kein esoterischer, sondern ein durchaus fortschrittlicher Ansatz. Die Empirie der indigenen Medizin kann die moderne Medizin mit ihren überprüfbaren Faktenstudien bereichern, ihr mystischer Gehalt wird sich in der Praxis von selbst auflösen. In China hat sich gezeigt, daß die Rezeption der traditionellen, auf Empirie mit Kräutern und Mineralien beruhenden chinesischen Medizin für die moderne Medizin nur von Nutzen ist.

Resümee

Ein Wortführer der innerkirchlichen Kritik am Arbeitspapier für die "Amazonien-Synode" ist der frühere Präfekt der Glaubenskongregation Kardinal Gerhard Müller (*1947), der so wie der jahrelange Leiter des päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaft Kardinal Walter Brandmüller (*1929) schon vorab davor warnte, daß die "willkürlich einberufene" Synode an den Fundamenten der katholischen Kirche rütteln werde. (Müller 2019; Braumüller 2019) Die dort angeregte Zulassung von erprobten älteren Männern zu bislang allein den zölibatär lebenden Priestern vorbehaltenen liturgischen Riten, vor allem der Eucharistie, und der mögliche Zugang von Frauen zu diversen Weihen bis hin zu Diakoninnen wird als Provokation interpretiert. Das Zölibat, dessen Ursprung in der von Rücksichtnahme auf eine private Familie nicht gehemmte und revolutionäre Nachfolge von Jesus bis hin zum Märtyrertod liegt, wird als göttliche Gnadengabe anerkannt, aber eben nicht mehr als unbedingtes Merkmal des Priestertums der Katholischen Kirche herausgestellt. Kardinal Müller wirft Papst Franziskus und seinen Anhängern vor, tendenziell die an den "Heiligen Stuhl" in Rom gebundene christliche Kultur zu marginalisieren, ihr die Führungsrolle zu nehmen. Tatsächlich sieht sich Papst Franziskus nicht mehr als alleiniger Führer in der Nachfolge des Apostel Petrus, der alles kontrolliert und strikte Anweisungen erläßt. Er geht von den religiösen Bedürfnissen der Massen aus und nicht mehr von den Interessen einer Herrschaftskirche. Die päpstliche Autorität soll in Zukunft Visionen und Ziele vermitteln, deren Verwirklichung autonom und bei Achtung autonomer Gegebenheiten erfolgen soll. So oder so bleibt die Zukunft der Kirche offen.

Es ist sehr zu bedauern, daß offenkundig die ersten Erfahrungen der Menschheit beim Versuch des Aufbaus einer "Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" (Marx, 1848), völlig ignoriert werden. Die Konturen des sich in der Sowjetgesellschaft am Horizont abzeichnenden neuen Menschen werden nirgends interpretiert, weder gut noch schlecht. Tschingis Aitmatow (1928-2008) erzählt in seiner wunderbaren Geschichte "Dshamilja", wie die Nomaden der Steppen Kirgisiens in die sowjetische Epoche eingetreten sind. Mit den Bolschewiken lernten sie in den neuen Schulen und in der Praxis, das Alte hinter sich zu lassen und sich geschwisterlich dem Neuen zuzuwenden. Bewässungskanäle wurden in der Wüste angelegt oder Baumwoll-Sowchosen in der Steppe für das Neue eingerichtet - antiimperialistisch und antikapitalistisch, ohne Korruption, ohne Kinderarbeit, ohne Gewalt, ohne Versklavung. (Aitmatow, 1962) Unter den gegebenen Verhältnissen werden die indigenen Völker ihre alte Welt verlieren, ohne daß sie eine neue gewinnen.

Den traditionellen Glauben muß die römisch-katholische Kirche im Dialog offensiv überwinden. Es muß verstanden werden, daß es einen Preis kostet, Christ zu sein. Alten Wein in neue Schläuche zu gießen wird zu wenig sein. Einen eschatologischen Dialog kennen Marxisten nicht. Für Christen und Marxisten ist die Zielsetzung einer möglichst gerechten Gesellschaft, ohne Ausbeutung, ohne Armut und ohne Krieg in unserer konkreten Welt die gleiche. Es braucht also authentische Marxisten und authentische Nachfolger von Jesus.

Gerhard Oberkofler



Zitierte Literatur

Tschingis Aitmatow: Dshamilja. Erzählung.
Mit einem Vorwort von Louis Aragon.
Suhrkamp-Verlag 1975

Birgit Althaler: Eigentlich läuft es prima für Israel.
"Palästina-Info", Juni 2019, S. 7-9

Norbert Arntz: Der Katakombenpakt. Für eine dienende und arme Kirche.
Topostaschenbücher 2015

Marcelo de Barros Souza/José Luis Caravias: Theologie der Erde.
Bibliothek Theologie der Befreiung. Düsseldorf 1990

Frei Betto/Fidel Castro: Nachtgespräche mit Fidel.
Autobiographisches - Kuba - Sozialismus - Christentum - Theologie der Befreiung. Mit einem Vorwort von Bischof Pedro Casaldáliga.
Freiburg/Schweiz 1986

Kardinal Walter Brandmüller: Ehelosigkeit ist Dienst am Evangelium.
FAZ vom 23. Juli 2019

Pearl S. Buck: Die gute Erde.
Zitat nach der 4. Ausg. 2012, S. 116

José Luis Caravias SJ: Zwischen Repression und Hoffnung.
Interview. "Stimmen der Zeit" 7/2019, S. 545-551

Pedro Casaldáliga: Auf der Suche nach dem Reich Gottes.
Wien 1989, S. 137 f.

Enrique Dussel (1979): Die moderne Christenheit vor dem "anderen". Vom "rüden Indio" bis zum "guten Wilden".
"Concilium" 15 (1979), S. 649-655, hier S. 653

Friedrich Engels: Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland.
MEW 22 (1972), S. 483-505, S. 498 f.

Instrumentum Laboris. 2019.
https://www.vaticannews.va/de/kirche/news/2019-07/amazonassynode-uebersetzunginstrumentum-laboris.html

Ignacio Ellacuría SJ: Gewaltlose Friedensarbeit und befreiende Gewalt. Widerstandsrecht und Formen des Widerstands in der Dritten (Lateinamerika) und der Ersten Welt (Baskenland).
"Concilium" 24 (1988), S. 47-53

Max Frisch: Die Chinesische Mauer. Eine Farce.
Gesammelte Werke in zeitlicher Reihenfolge.
Suhrkamp-Verlag 1986, S. 139-227, S. 155 u. S. 184

Josef Romualdowitsch Grigulewitsch: Ketzer - Hexen - Inquisitoren (13. bis 20. Jahrhundert). Mit einem Vorwort von Hubert Mohr.
2. Band, Berlin 1976 (Sechstes Kapitel: Scheiterhaufen im kolonialen Amerika, S. 394-437)

Herbert Hörz: Ökologie, Klimawandel & Nachhaltigkeit.
Herausforderungen im Überlebenskampf der Menschheit.
Berlin 2018, S. 122

Hermann Klenner: Recht und Unrecht.
Bibliothek dialektischer Grundbegriffe. Bielefeld 2004, hier bes. S. 42-44

Erwin Kräutler in Zusammenarbeit mit Josef Bruckmoser: Habt Mut! Jetzt die Welt und die Kirche verändern.
Innsbruck-Wien 2. A. 2016, Zitate S. 77 und S. 49 f.

Hans Küng: Umstrittene Wahrheit. Erinnerungen.
München/Zürich 3. A. 2014

Martin Maier SJ: Oscar Romero. Prophet einer Kirche der Armen.
Freiburg/Basel/Wien 2015

Mao Tse-Tung (1968): Ausgewählte Werke.
Band I, Peking 1968, S. 96-101 (Die Agrarfrage)

Karl Marx (1843): Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion.
MEW 1, S. 3-25, Zitat S. 7

Karl Marx (1844): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie.
MEW 1, S. 378-391, Zitat S. 378

Karl Marx (1847): Das Elend der Philosophie.
MEW 4, S. 63-182, S. 170

Karl Marx/Friedrich Engels (1848): Das Kommunistische Manifest.
MEW 4, S. 459-493, hier S. 482

Karl Marx (1853): Die britische Herrschaft in Indien.
MEW 9, S. 127-133, S. 129

Karl Marx (1867): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie.
Erster Band. MEW 23, S. 765

Kardinal Gerhard Müller: Römische Begegnungen.
Freiburg/Basel/Wien 2019

Gerhard Oberkofler: Friedensbewegung und Befreiungstheologie.
Marxistische Fragmente zum Gedenken an den Friedenskämpfer Daniel Berrigan SJ (1921-2016).
trafo, Berlin 2016

Gerhard Oberkofler: Geben befreiungstheologische Positionen von Papst Franziskus zur Hoffnung Anlaß?
trafo, Berlin 2018

Jon Sobrino SJ: Der Preis der Gerechtigkeit. Briefe an einen ermordeten Freund.
Ignatianische Impulse. Würzburg 2007

Jon Sobrino SJ: Der Glaube an Jesus Christus.
Übersetzt von Ludger Weckel. Ostfildern 2008, S. 92

Antonio Spadaro SJ (2019): Unterwegs zur Synode über Amazonien.
Interview mit Kardinal Cláudio Hummes OFM.
"Stimmen der Zeit" 2019, S. 591-603, Zitat S. 596

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Reaktionen auf die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg
Zauberlehrlinge

Bereits am Abend der Wahlen in Sachsen und Brandenburg (am 1. September) hakten die deutschen Großmedien die Ergebnisse ab. "Spiegel online" titelte "Gewohnheits-Rechte" und behauptete: "Der Triumph der Rechten wird im Osten zur Normalität." "Faz.net" folgte am Montag mit der Frage, ob die AfD "auf dem Weg zur neuen Ostpartei" sei.

Der rassistische Reflex auf Ostdeutsche ist spätestens seit 1990 koloniale Pflicht. Wer Treuhand-Enteignung, Abwicklung Hunderttausender, eine zu Terrorurteilen neigende Straf- und Sozialjustiz, Strafrenten, Auswanderung von mehr als fünf Millionen und die Entvölkerung ganzer Landstriche, also eine komplette Konterrevolution, auch 30 Jahre nach deren Beginn zu einer "friedlichen Revolution" blähen muß, der hat mit den in Ostdeutschland Verbliebenen ein Problem. Da gilt die Devise, die können wirtschaftlich nichts und sind, weil Rot gleich Braun, durchs Herkommen Nazis. Ein Wahlergebnis der AfD wie bei den Landtagswahlen im März 2016 in Baden-Württemberg mit 15,1 Prozent fällt durchs Raster, 13,1 Prozent in Hessen im vergangenen Jahr werden nicht wahrgenommen.

Selbstverständlich sind Wahlergebnisse, bei denen die AfD um die 25 Prozent erreicht, von anderer Qualität. Die Ursachen im Osten dafür sind aber kaum andere als in der 120.000-Einwohner-Stadt Pforzheim, in der in manchen Stadtteilen bis zu 44 Prozent der AfD die Stimme geben. Das Spitzenpersonal stammt aus westdeutschen Regionen. Führungsfaschisten und Reaktionäre jeder Couleur waren und sind ein bundesdeutscher Exportartikel Richtung ganz Osteuropa, dem heutigen wirtschaftlichen Hinterhof der Bundesrepublik. Die Konterrevolutionäre von heute vermuten - offenbar zu Recht - im Osten immer noch ein beachtliches Stimmenpotential, das bislang vor allem von der Ost-CDU ausgeschöpft wurde. Schließlich erhielt am 18. März 1990 bei den Wahlen zur Volkskammer der DDR die damalige AfD, die "Allianz für Deutschland" unter Führung Helmut Kohls, mehr als 48 Prozent der Stimmen.

Enttäuschte Anhänger hat nicht nur die CDU, sondern haben alle Parteien, die den DDR-Anschluß 1990 als Ankunft in der besten aller möglichen Welten feiern, zur Genüge. Ende August veröffentlichten verschiedene Medien, daß mitten im angeblichen Beschäftigungswunder, das hierzulande stattfinden soll, mehr als vier Millionen in Vollzeit Arbeitende Niedriglöhne erhalten. Nur: In Ostdeutschland außer Berlin sind es nicht ungefähr 20 Prozent aller Beschäftigten wie im Bundesdurchschnitt, die damit abgespeist werden, sondern zumeist mehr als 35 Prozent. Es ist eine andere Welt.

Das erklärt nicht alles. Vor allem läßt sich feststellen: Fast 29 Jahre nach der Einverleibung der DDR unter Zustimmung großer Teile der Bevölkerung sind solche Differenzen zwischen West und Ost, die sich vergrößern, statt verkleinert zu werden, politisch gewollt. Die hektische Eile, mit der kurz vor den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg Dutzende Milliarden Euro für wirtschaftliche Strukturveränderungen angekündigt wurden, hat ein Vorbild: Kohls "blühende Landschaften" waren der Beginn einer der größten Ausplünderungsgeschichten einer Bevölkerung in der Geschichte. Meinte jedenfalls einmal der verstorbene SPD-Politiker Egon Bahr. Gegenüber Ostdeutschland wie gegenüber der AfD befindet sich die deutsche Bourgeoisie in der Rolle des Zauberlehrlings, dem die selbstgeschaffenen Mächte über den Kopf wachsen.

Der bemerkenswerteste Kommentar zum AfD-Ergebnis erschien so schon am Tag zuvor in der FAZ. Die "Zeitung für Deutschland" erläutert schon lange nicht mehr dem politischen Personal in Bonn beziehungsweise in Berlin, der Bundesregierung, die politischen Richtlinien, nennt aber von Zeit zu Zeit, was ist. Am 31. August erläuterte FAZ-Ko-Herausgeber Berthold Kohler in einem Kommentar zum 80. Jahrestag des Weltkriegsbeginns, Europa müsse "ein Kontinent der Vernunft, der Mäßigung und des Ausgleichs bleiben". Angesichts des neusten deutschen Triumphalismus auf dem Kontinent ist das bemerkenswert. Darum ging es dem Autor aber nicht, sondern um das Aufkommen solcher Parteien wie der AfD in EU-Europa, die dem klassischen Konservatismus fast überall Stimmen abjagen.

Laut Kohler reife da ein Haß heran, der sich irgendwann entladen müsse. Die "Unkultur" sei "noch nicht auf das Niveau der frühen dreißiger Jahre gesunken". Doch wer sich frage, "wie die damaligen, zunächst schleichenden Fanatisierungsprozesse in Gang kommen konnten", dem liefere "die Verrohung und Entgrenzung des politischen Diskurses in der Gegenwart durchaus schon Anschauungsmaterial". Wer einmal eine Konterrevolution durchgesetzt hat und sich mit der AfD eine Truppe organisiert, die Sympathien für nazistische Totschläger öffentlich zelebriert, sollte über die Folgen nicht allzu erstaunt sein. Die Partei ist eine Speerspitze des BRD-Establishments.

Die FAZ hat selbst an ihrem Erfolg über Jahre tatkräftig mitgewirkt. Wenn Warnungen von dort kommen, sollten sie besonders ernst genommen werden. Die neuen Koalitionen in Sachsen und Brandenburg werden so weitermachen wie bisher, so wie sich beim Umgang des "Spiegels" mit Ostdeutschland nichts ändern wird. Auf Kriegsgegner und Antifaschisten kommen unruhige Zeiten zu, zumal nach der Selbstaufgabe der Partei Die Linke.

Arnold Schölzel

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Mahn- und Gedenkstätte "Die Mutter"

An der Bundesstraße 321 (Crivitzer Chaussee) zwischen Raben Steinfeld und Schwerin befindet sich auf Höhe des Störkanals die Gedenkstätte "Die Mutter". Als Mahnung für kommende Generationen und in Ehrfurcht vor den Opfern des Faschismus wurde sie 1975 eingeweiht und erinnert bis heute an den Todesmarsch der Häftlinge des KZs Sachsenhausen.

Als die Rote Armee im April 1945 immer näher rückte und schließlich nur noch wenige Kilometer vom KZ Sachsenhausen entfernt war, veranlaßte die SS in den Morgenstunden des 21. April die Räumung des Konzentrationslagers. 33.000 Häftlinge wurden in Richtung Nordwesten in Marsch gesetzt.

Sie mußten täglich zwischen 20 und 40 Kilometer zu Fuß zurücklegen. Viele von ihnen wurden unterwegs erschossen, andere starben bei naßkaltem Wetter an Entkräftung. Ein Teil von ihnen erreichte jedoch auf unterschiedlichen Wegen den Raum zwischen Schwerin und Parchim. In der Nähe von Raben Steinfeld trafen sie am 2. Mai 1945 auf Einheiten der Roten Armee. Für die etwa 18.000 Häftlinge des KZs Sachsenhausen, die bis dahin überlebt hatten, fand am Störkanal das Leiden ein Ende. Ein Gedenkstein, der Anfang der 50er Jahre hier aufgestellt wurde, erinnert daran. 25 Jahre später, am 8. September 1975, wurde an diesem historischen Ort die Gedenkstätte "Die Mutter" eingeweiht. Bildhauer Gerhard Thieme aus Berlin schuf die Bronzeplastik, die später um vier Relieftafeln ergänzt wurde. "Die Mutter" steht seitdem für das Leid der Mütter aller Nationen.

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Migration - Das Märchen von der Sogwirkung

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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GEDANKEN ZUR ZEIT

Wider den Schlaf der Vernunft

Aristoteles unterschied zwei wissenschaftliche Disziplinen: die Physik und die Metaphysik. Der Physik entspricht die Sphäre des realen, der Metaphysik die Sphäre des ideellen Seins. Gegenstand der Physik ist die Physis, Gegenstand der Metaphysik die Metaphysik. Der Begriff Physis umfaßt die Gesamtheit der Realien oder des real Existierenden, der Begriff Metaphysis die Gesamtheit der Ideen oder des als Idee (Vorstellung oder Gedanke) Existierenden.

Die Ideen existieren in unseren Köpfen und sind uns gegeben als Bilder, die als Vorstellungsbilder vor unserem geistigen Auge stehen oder die wir uns geistig vor Augen rufen können. Diese Bilder sind Erinnerungsbilder oder Visionen, Wunsch- oder Schreckensbilder, Traumbilder oder gar ganze virtuelle Welten, die wir - nach Maßgabe unserer Vorstellungskraft - ganz nach Belieben mit allen nur denkbaren Wesen bevölkern und allen nur denkbaren Gegenständen ausstatten können, wobei die in der Sphäre des realen Seins geltenden Naturgesetze aufgehoben sind.

Manche dieser Vorstellungen haben eine reale Entsprechung. Dies gilt z. B. für unsere Vorstellungen von lebenden, also real existierenden Personen oder unsere Vorstellungen von Naturkatastrophen. Diese Vorstellungen nennen wir Abbilder (im Gegensatz zu Trugbildern, Illusionen oder Hirngespinsten).

Daneben gibt es Vorstellungen von Gegenständen, die zunächst lediglich imaginiert sind, keine (oder noch keine) reale Entsprechung haben, die vorerst nur als Vorhaben, Plan, Entwurf existieren, aber irgendwann einmal ganz oder teilweise realisiert werden können.

Eigentlich problematisch (wenn auch zugleich lustig, erheiternd) sind aber jene Vorstellungen, die keine nachweisbare reale Entsprechung haben, gleichwohl aber von interessierter Seite als Abbilder von etwas real Existierendem ausgegeben werden wie zum Beispiel der Teufel, von dem Karol Wojtyla sagte, er sei "eine schreckliche Realität". Mit demselben empirisch unbegründeten Wahrheitsanspruch läßt sich natürlich die reale Existenz eines jeden beliebigen Monsters, des Ungeheuers von Loch Ness oder irgendeiner anderen Schimäre behaupten, weshalb es gut ist, daß unbewiesene positive Existenzaussagen grundsätzlich als falsch gelten.

Kein halbwegs aufgeklärter Zeitgenosse wird im Zoo nach dem Gehege für Einhörner, dem Käfig mit den Zentauern oder dem Nixenteich fragen. Aber Millionen Menschen glauben an die reale Existenz von Göttern, Geistern und Dämonen und lassen sich in ihrer Lebensweise und somit auch in ihrem Sozialverhalten von rational unbegründeten und oftmals vernunftwidrigen Vorstellungen leiten.

Der Titel eines Romans von Dieter Wellershoff lautet: "Der Himmel ist kein Ort". - Richtig! Der Himmel (im Gegensatz zum sichtbaren Firmament) ist kein raumzeitliches, real existierendes Gebilde. Er ist kein realer, sondern ein mythischer (also fiktiver) Ort, an dem sich (nach Ansicht gläubiger Christen) der dreieinige Gott (Vater, Sohn und Heiliger Geist) mit den himmlischen Heerscharen der Engel, der Mutter Gottes, den übrigen Heiligen der Kirche und den in den Himmel aufgenommenen Seelen der Verstorbenen aufhält. Daß bildhaft anschauliche Vorstellungen hiervon in menschlichen Hirnen existieren und daß diese Vorstellungen in unzähligen Gemälden und Schriften objektiviert sind, daran besteht kein Zweifel. Doch daß weltanschaulich-religiöse Hirngespinste keine reale Entsprechung haben, das darf bis zum Beweis des Gegenteils als wahr behauptet werden.

Und was die Metaphysik als Wissenschaft betrifft, so mag gelten: soweit diese Wissenschaft bestrebt ist, Abbilder von Trugbildern zu unterscheiden, Trugbilder zu entlarven und Urteile zu bestätigen oder zu widerlegen, ist sie im Sinne des kritischen Rationalismus ernst zu nehmen. Sobald sie aber Gott, Freiheit, Unsterblichkeit oder irgendeine andere Schimäre postuliert und die zu erkennende Wahrheit ihrem Wunschdenken unterwirft, dient sie nicht der Aufklärung, sondern kippt sie um in deren Gegenteil und wird zum Obskurantismus.

Theodor Weißenborn

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BUCHTIPS

Oliver Dürkop, Michael Gehler: In Verantwortung
Hans Modrow und der deutsche Umbruch 1989/90

Hans Modrow gehörte zu den zentralen Persönlichkeiten der Jahre 1989/90 und blickt anläßlich seines 90. Geburtstages im Gespräch mit Oliver Dürkop und Michael Gehler auf sein politisches Leben zurück.

Aufrichtig und offen beantwortet Modrow über 500 Fragen zu seiner Biographie, zur Geschichte der DDR, der Bonner und der Berliner Republik sowie zu Weggefährten und historischen Zäsuren. Dieses umfassende Zeitzeugengespräch ermöglicht es Leserinnen und Lesern, tief in die deutsch-deutsche Teilungs- und Transformationsgeschichte einzutauchen. Zentrale Daten der deutschen Zeitgeschichte wie die Gründung der DDR 1949, die Stalin-Note von 1952 oder der Mauerbau 1961 kommen ebenso zur Sprache. Der Schwerpunkt der Gespräche liegt aber auf den Ereignissen der Jahre 1989/90.

StudienVerlag, Innsbruck/Wien/Bozen 2019, 584 Seiten, 49,90 €


Mathias Bröckers: Freiheit für Julian Assange! Don't kill the messenger!
Mit einem Beitrag von Caitlin Johnstone

Er hat als Bote mehr schlechte Nachrichten überbracht, über Kriegsverbrechen, Korruption, politische Morde und Wahlbetrug in aller Welt, als alle großen Medien in aller Welt zusammengenommen und sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis in Isolationshaft.

Er hat mehr getan für die unverzichtbare Institution jeder freien Gesellschaft - die Pressefreiheit als vierte Säule der Demokratie und unabhängiger Kontrolleur der Mächtigen und Herrschenden - als jeder andere Journalist, doch der von allen freiheitlichen Verfassungen garantierte Schutz der Presse und die Rechte eines Journalisten werden ihm verweigert. Statt dessen wird Julian Assange als "Terrorist" verleumdet. Ehemalige Abgeordnete des US-Kongresses haben offen zu seiner Ermordung aufgerufen, die ehemalige Außenministerin Hillary Clinton stellte die Frage: "Können wir den Kerl nicht einfach drohnen?"

Matthias Bröckers hebt die immense Bedeutung von Wikileaks für den investigativen Journalismus hervor, er skizziert die Geschichte und wichtigsten Enthüllungen der Plattform sowie den seit Jahren anhaltenden Verfolgungsdruck gegen deren Gründer. Die australische Bloggerin Caitlin Johnstone widerlegt im zweiten Teil des Buches sämtliche Verleumdungen Julian Assanges - etwa die Behauptungen, er sei ein Vergewaltiger, ein russischer Agent oder Trump-Fan.

"Freiheit für Julian Assange!" ist ein wichtiges Werkzeug zur Verteidigung des Gefangenen und bietet reichlich Argumente und Material zum Organisieren internationaler Solidarität.

Westend-Verlag, Frankfurt am Main 2019, 128 Seiten, 8 Euro


Stephan Detjen / Maximilian Steinbeis: Die Zauberlehrlinge
Der Streit um die Flüchtlingspolitik und der Mythos vom Rechtsbruch

Ein Geist wurde aus der Flasche gelassen - zuerst in Deutschland, dann in Europa. Der Geist heißt Verfassungsbruch, der angeblich bei der Aufnahme von Migranten im Herbst 2015 begangen worden sein soll. Die renommierten Autoren und Juristen Maximilian Steinbeis und Stephan Detjen gehen der Frage nach, wem der Mythos nützt und wie er die Demokratie gefährdet. Der Vorwurf des Rechtsbruchs in der Flüchtlingspolitik gehört zu den wirkmächtigsten politischen Mythen unserer Zeit: Die These, daß Angela Merkel im Sommer 2015 Recht, Gesetz und Verfassung gebrochen und das Land einer "Herrschaft des Unrechts" unterworfen habe, hat eine Schneise der Radikalisierung durch das Parteiensystem gezogen, wie sie in der Geschichte der BRD kein Vorbild hat. Politiker, konservative Staatsrechtslehrer und Medien, die sich mit steilen Thesen profilieren wollten, haben die Rechtsbruch-Legende in die Welt gesetzt, genährt und verbreitet. Den Profit davon hatte am Ende die AfD: die nationalkonservative Protestbewegung, die der Vorwurf mobilisierte, ebnete der Partei einen Weg mitten ins bürgerliche Milieu. Horst Seehofer, Udo di Fabio, Hans Jürgen Papier und andere hatten Geister herbeigerufen, die sie schon bald nicht mehr zu kontrollieren vermochten. Wie konnte die These vom angeblichen Rechtsbruch, die sich bei näherer Betrachtung als juristisch höchst angreifbar erweist, eine solche Sprengkraft entfalten?

Klett-Cotta, Stuttgart 2019, 264 S., 18 €



Gerd Schumann: Das Morgen im Gestern
Erkundungen eines Wessis im Osten

Wie hat sich das Leben im Osten nach der Wende verändert? Wie sieht es in Ostdeutschland heute aus? Fragen wie diesen widmet sich Gerd Schumann in seinem Buch "Das Morgen im Gestern. Erkundungen eines Wessis im Osten". Aber kann dabei überhaupt etwas Interessantes herauskommen, wenn ausgerechnet ein Westler über den Osten schreibt? Und ob! Gerd Schumann, schon als junger Erwachsener DDRaffin, sagt, daß ihn für dieses Buch-Projekt seine eigenen Überzeugungen antrieben. So schnappt sich der bekennende Ost-Fan beispielsweise seinen Drahtesel und radelt damit einmal quer durch den Osten. Neben witzigen Anekdoten und Geschichten sind es Gespräche, die einen stimmungsvollen Einblick in das Leben nach der DDR gewähren. Ob es nun Begegnungen mit den Puhdys in luftiger Höhe über dem Berliner Alexanderplatz oder Plaudereien mit dem Nachbarn vom Campingplatz sind - Gerd Schumanns Erlebnisse und Beobachtungen lassen den Leser frische Ostluft schnuppern.

Das Neue Berlin, Berlin 2019, 272 S., 15 €

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Die untote DDR

Stirbt ein Mensch, finden Ärzte heute präzise Ursachen. Stirbt ein Staat, entbrennen politische Kämpfe um die Ausstellung des Totenscheins. Wie beim Staatsuntergang der DDR. Die Oberleitung am Rhein diktierte die Diagnose und übergab sie mit dem voreiligen Vermerk "Erledigt" ihrem Schnellhefter der Geschichte. Der Befund lautete auf systemisch bedingten Exitus. Das Staatswesen und die Wirtschaft systemisch ruiniert, die Menschen im uniformierten Alltag systemisch deformiert, dabei das Gesellschaftsmodell des Westens als einziges Rettungselixier ante portas gehalten. Folgt der Kurzschluß: Sozialismus war und wäre immer eine Mißgeburt mit absehbarer Todesfolge. Nie kann er demokratisch werden. Er ist ein Irrtum der Geschichte, denn er hat die "Verzwergung" der Menschen zur Voraussetzung. Schade, ihr Ossis, daß ihr da eure Zeit verplempert habt!

Fast wäre dieses ideologische Verdikt im Einheitstaumel durchgegangen. Aber was viele hinter der Ankündigung blühender Landschaften und der baldigen Erscheinung des echten, harten Geldes noch überhörten, kollidierte irgendwann doch mit den Erinnerungen an tatsächlich gelebtes Leben. Und zu manchem geerbten Frust über Adenauers "Soffjettzone" und Springers "Gänsefüßchen"-Arroganz trat nun Wut über die Mißachtung östlicher Lebensleistungen und Milieus. Treuhandskandale, Arbeitslosigkeit als Folge, die omnipotente Stasikeule beim Austausch der Eliten, ostgeminderte Löhne und Renten bei gut besoldeten Westkommandeuren auf den Ämtern und sonstigen Entscheidungsetagen, auch die blinde Zerstörung vertrauter Infrastrukturen (Nahverkehr, Polikliniken, Palast der Republik, Kinos, Theater, Jugendklubs ...) hatten die Entrüstung befeuert.

Eine gute Weile schlug das linkerseits zu Buche. Inzwischen aber leihen viele Enttäuschte ihre Empörung den ultrarechten Falschmünzern. Die AfD jongliert mit deren Erinnerungen, als hätte sie ein Copyright darauf. "Der Osten steht auf" zündeln westimportierte Führer, während der Zulauf in Rage zumeist das sich bräunende Wofür verkennt. Eine Abkehr bräuchte klare Geschichtsbilder, damit die Umbruchs-Miseren im Osten samt nachfolgendem radikalkapitalistischem Durchregieren als Quellen aktueller Politikverdrossenheit durchschaubar werden. Das erinnert uns daran, daß auch die Besinnung auf ein realistisches Bild von der DDR, auf Gewinn und Fehl in diesem ostdeutschen Wagnis, eine Frage linker Souveränität sein und bleiben muß. Vom Wieder-haben-Wollen in alter Fasson ist nicht die Rede. Von einer künftigen Republik aber, die solchem Namen jede Ehre macht, sollten Linke träumen. Gliederzittern vor den drei Buchstaben und der 70 davor wäre so geschichtsvergessen wie unpopulär. Denn die DDR ist auf bemerkenswert anregende, spannende Weise untot. Auf der politischen Landkarte gelöscht, lebt sie doch in vielen materiellen Zeugnissen und erinnerten Lebensmomenten der Leute weiter. Gesellschaftliche Errungenschaften und persönliches Glück darin reiben sich schmerzlich an Fehlern und Defiziten, die samt externen Ursachen die DDR zum Einsturz brachten. Gescheites Nachdenken darüber muß Teil unserer Erinnerungskultur sein. Um unserer selbst willen und für die Klugheit unserer Nachfolger.

Auferstanden aus Ruinen ...

Das Inferno von Dresden. Das zerstörte Magdeburg. Die Bombenlandschaft Berlins ... Meine Mutter war Trümmerfrau und fragte sich oft, wie man aus solchen Ruinen auferstehen konnte. Anton Ackermann, der mit der 1. Ukrainischen Front in Sachsen eintraf, schilderte ein unvorstellbares Chaos: "Zunächst mußte das nackte, primitivste Weiterleben der Menschen gesichert werden. Es hieß, den Eisenbahnverkehr in Gang zu bringen, die Überlandstraßen, die von den Trümmern der faschistischen Kriegsmaschinerie übersät waren, zu säubern, die wichtigsten Brücken wieder benutzbar zu machen, damit die Tausende von verwundeten, kranken, halbverhungerten Menschen in Unterkünfte gebracht und wieder Kohlen für die Kraftwerke, Getreide für die Mühlen befördert werden konnten." Also Anpacken im Wechselbad von Hoffnung und Verzweiflung. Mangel überall. Dabei die höchsten Reparationslasten. Im Osten aber auch die Verfolgung der Nazis und Kriegsverbrecher am konsequentesten: Angehörige der SS, Gestapo-Leute und andere braune Straftäter abgeurteilt, Nazi-Kader aus Regierungsbehörden, Polizei, Volksbildung und Chefetagen der Wirtschaft entfernt. Anfang 1947 waren das 300.000 Entlassene.

Die Bodenreform 1945 enteignete die Junker und Großgrundbesitzer entschädigungslos und vergab zwei Millionen Hektar Boden als Besitz an heimische Landarbeiter und Umsiedler. Mit der Industriereform im Folgejahr wurden Betriebe der Rüstungs- und Kriegsgewinnler übernommen. In Sachsen stimmten über drei Viertel der Wähler für solche Enteignungen. 1948 lag die Bruttoproduktion der SBZ bereits zu fast 40 Prozent bei volkseigenen Betrieben. Der Übergang zu einer 2-Jahres-Wirtschaftsplanung erwies sich für die SED als harte administrative Nuß und als schwierig im Umgang mit den Blockparteien. All das gehörte zum Erbe, als am 7. Oktober 1949 die DDR gegründet wurde. Die Sowjetunion hatte es mit der Schaffung eines neutralen, friedlichen, einheitlichen Deutschlands, das wohl nicht sozialistisch regiert sein würde, ernst gemeint. Aber als mit der Währungsreform in den Westzonen und der Gründung der BRD separatistische Fakten geschaffen wurden, war die Entstehung der DDR die Folge.

... und der Zukunft zugewandt

Keiner plagt sich gerne, wenn er nicht ein Ziel vor den Augen hat. Nach der antifaschistischdemokratischen Neuordnung hieß dieses Ziel für den entschiedensten Teil der Aufbaugeneration im Osten: Sozialismus. Die zukunftsbesessene Lebensweise dieser Altvorderen hatte trotz mancher dogmatischer Anhaftungen etwas Ansteckendes für mich. Ich war in der Familie unpolitisch erzogen worden, es hätte mit mir auch anders kommen können. Aber die DDR wurde mir Heimat. Und Heimat war für mich ideelles Andocken und Mittun dort, wo auf deutschem Boden Sozialismus geübt wurde. Der kleine protestantische Kirchgänger war Konvertit geworden, und solche sparen bekanntlich am wenigsten mit Begeisterung für das Neue. Sei's drum! Ich bekenne meine Liebe zur damals errungenen Heimat freimütig und begründe sie vor allem mit deren gesellschaftlichen Vorzügen: Antifaschismus als weit überwiegende Gesinnung und Staatsdoktrin, Brechung des Bildungsprivilegs, Vollbeschäftigung, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Nähe der Menschen zueinander, die Empathie förderte und Ellenbogen-Mentalitäten eindämmte, angemessene Daseinsvorsorge für jeden, Teilhabe an einem reichen kulturellen Leben, Beharrung auf Frieden und gerechte internationale Solidarität. Das Massaker von My Lai, die Lynchattacken Pinochets, die Blutspur der Apartheid - wo westliche Staatsräson verräterisch lange schwieg, da stand die DDR, erkennbar für alle Welt, immer an der Seite der Opfer. Den Stolz darauf lege ich niemals ab.

Um den Lebensjahren der DDR in all ihren ertragreichen wie fehlerhaften Entwicklungen nachzuspüren, ist hier nicht ausreichend Platz. Aber erwähnt soll sein, daß sich durch diese Zeit zwei dauerhafte Gefährdungen zogen. Feindlicher Druck, der die Liquidierung des Staates zum Ziel hatte. Der wurde erkannt und bekämpft. Aber eben auch inneres Versagen als ernste Gefahr, wo sich im Alltag volksferne Administration etablierte und abweichende Auffassungen zur Gesellschaftsentwicklung keine Chance auf öffentlichen Disput hatten. Das stand jener lebendigen sozialistischen Demokratie im Wege, die in der DDR-Gesellschaft immer drängender eingefordert wurde. Wer sah das? Wer stand auf der Bremse? Wer schwieg dazu? Wer rief nach Veränderung? Ein weites Feld für linke Geschichtsaufarbeitung. Zugleich gute Fragen vorm Spiegel!

Und dann hat es geknallt. Keine Schüsse - zum Glück! Das Land, das wir Heimat nannten, wurde einverleibt und der potentielle Kraftzuwachs des zusammengelegten Deutschlands von westlichen Alt-Siegermächten nicht ohne Sorge erwogen. Die damalige Führung der östlichen Befreier hatte eigene Existenznöte und meinte, Ballast abgeworfen zu haben. Ihr Do swidanija GDR! verkaufte sie billig und blind. Natürlich war die DDR ein sowjetisches Ziehkind, eingebunden in die Bipolarität der Welt und den kalten Krieg.

Mit Blessuren kam sie in einer Staatlichkeit an, die von Adenauers rigidem Scheidungsbegehren erzwungen war und nach langer westdeutscher Hallstein-Erpressung weltweit anerkannt wurde. Die DDR war weder geistig noch materiell arm, obwohl das westliche Deutschland dem Osten bis 1990 durch Reparationsverweigerung und Handelsboykotte, Abwerbung ostdeutscher Arbeitskräfte oder Warenimporte zu Dumpingpreisen mehr als zwei Billionen D-Mark an Wirtschaftskraft entzog. Immerhin saß die DDR bei Tarifverhandlungen im Westen als soziales Korrektiv stets mit am Tisch.

Konsum-"Segen" des Westens plus soziale Absicherung des Ostens war die fehlgeträumte Hoffnung vieler DDR-Bürger, als am 3. Oktober 1990 Becher-Hymne, Hammer, Sichel und Ährenkranz staatlich aussortiert waren. Wem - so wie mir - Heimat verlorenging, der stand nun vielleicht starr im Niemandsland und trauerte. Aber aus solcher Starre, die Trauer bequem machen kann, mußte man sich lösen. Das Leben ging schließlich weiter. Mit brachialen Umstürzen der Lebensweise. Die langersehnten Kauf- und Reiseofferten waren schnell überwuchert von ungewohnten Ängsten um Arbeit und sozialen Status. Untadelige Biographien strandeten in Nichtachtung. Wohl dem, der da noch Selbstachtung bewahrte und darauf beharrte, daß nicht nur der grüne Pfeil vom Sozialismus in der DDR übrigblieb. Sein Scheitern war kein finales Geschichtsurteil, sondern ein Appell, zu lernen. Ein würdiges Leben jenseits der Fesseln des Kapitalismus ist möglich. Für eine solche Zukunft, selbst wenn man sie nicht mehr erlebt, muß man sich rühren! Aber was tun im Hier und Heute?

Laß uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland!

Bechers Aufforderung also in gewandelter Zeit. Folgen wir ihr doch in linker Lesart! Zum Guten dienen kann nur heißen: zum Guten verändern. Was denn sonst angesichts des Staus innen- und außenpolitischer Mißstände, der ökologischen und sozialen Verwerfungen, die Deutschland von seiner flickschusternden Regierung serviert bekommt? Da braucht es eine stärkere, anziehendere Linke. Will aber die Linkspartei gesellschaftliches Umdenken wieder deutlicher mitbewirken, muß sie zu sich kommen und illusionslos ihre Lage analysieren. Ihr Selbstverständnis darf nicht auf einen bürgerlich-sozialdemokratischen Aktionsradius gedrängt werden, wo Rot zwar noch geflaggt ist, aber wahrhaft demokratischer Sozialismus utopisch wird. Aus Erfahrung und Fehlern lernend, muß Die Linke, ganz bei Marx, in den politischen und sozialen Kämpfen einem überzeugend volksnahen, unverkennbar links vibrierenden Programm folgen.

Beileibe nicht im Gleichschritt, wohl aber in geeinter Formation. Offen gesagt: Eitlen, manchmal schon ehrenrührigen Führungsstreit, der in die Medien geplappert wird und sich zum Vergnügen der Parteienkonkurrenz schnell vor die politische Agenda schiebt, braucht niemand an der Basis, der neue oder abhanden gekommene Links-Wähler mobilisieren will. Das Gefühl von Geschlossenheit ist eine Kraftquelle. Genau wie der Spaß am Linkssein, wenn das mal wieder ein Quentchen Fortschritt in der Gesellschaft errungen hat. Manche sagen, Die Linke sei auch organisatorisch erschöpft. Neue Quirligkeit im Politikstil, ansteckende Kampagnenformate mit Marx im Kopf und deshalb auch auf den Buttons, originelle urbane Präsenz plus verstärkte Kümmerarbeit bis hinein in die scheinbar abgehängten Ortschaften sollten diesem lähmenden Gefühl den Marsch blasen. Und weil Parlamentsarbeit der Partei Die Linke, manchmal sogar in Regierungsverantwortung, heute zum politischen Alltag gehört, ist Etabliertheit beim gesellschaftlich widersprechenden Publikum ein schnell vergebenes und ausgebuhtes Etikett. In zu großer Eingerichtetheit vermutet man kein Megafon mehr für harte, ungestüme Kritik an den Verhältnissen. Das erfordert Vorsicht. Klare Widerrede in linken Kernfragen, Verzicht auf irritierende Kompromisse, auch die Unterlassung irrlichternder Botschaften à la Selfie mit US-Statthalter Grenell begegnen am besten dem Verdacht, an gut dotierten staatstragenden Funktionen hafte selbst für Linke zuweilen ideologisch versöhnlerischer Kleister.

Im Café einer ostdeutschen Kleinstadt war ich jüngst in ein Gespräch verwickelt, das drei Bewohner mir Fremdem geradezu aufgezwungen hatten. Schön, sagten sie, daß mal wieder einer zuhört. Und dann schrien sie sogleich ihre Wut heraus über die Verödung der Stadt, die rasant weggebrochene Arbeit und eine betrügerische Treuhand, die zur Wende westliche Gaukler begünstigt und ihre eigenen Träume auf heimische Selbständigkeit zunichte gemacht hatte. Für diese drei AfD-Wähler war Wende eine Schimpfvokabel und das Wörtchen früher fast sakral. Ich mutete ihnen im Für und Wider meine linke Tonart zu. Und siehe da! Das war in Ordnung für sie. Sie hörten hin und stimmten manchem zu. Den Rest wollten sie mal sacken lassen.

Und da dachte ich wieder: Solche Einmischungen sind unsere Chance! Überall müssen wir sie suchen, ja organisieren. Das ist nicht alles, aber so fängt Zum-Guten-Verändern an. Was weiter oben drin ist, entscheidet sich hier unten zuerst. Hier stehen die Wahlurnen.

Dr. Hartmut König
Panketal

(Red. bearbeitet aus: "Mitteilungen" der Kommunistischen Plattform der Partei Die Linke, 10/2019)

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Bewahrenswertes DDR-Erbe: 50 Jahre "Telespargel"

Von welcher Himmelsrichtung aus man sich auch der gewesenen DDR- und heutigen deutschen Hauptstadt Berlin nähert, stets überragt die schlichte Schönheit des Fernsehturms als unauslöschbares Symbol aus hoffnungsvollen Zeiten die Stadtsilhouette. Der "Telespargel" hilft uns beim Blick auf die DDR, uns vor allem jener Schritte nach vorn zu erinnern, die vor uns noch niemand gegangen war.

Seinen Standort verdankt der Turm einer Anekdote zufolge einer Spontanentscheidung Walter Ulbrichts. Vor eine Auswahl von Modellen gestellt, geht er schnurstracks auf eines zu und sagt: "Nu, Genossen, da sieht man's ganz genau: Da gehört er hin." Also stellt man das neue Wahrzeichen der Hauptstadt der DDR direkt neben den S-Bahnhof Alexanderplatz. Mit der Einweihung startet Ulbricht auch das 2. Fernsehprogramm der DDR. Die Feier ist ein Signal des Fortschrit ts, wenige Tage vor dem 20. Jahrestag der Gründung der DDR.

Der Turm ist ein eindrucksvolles "Meisterstück für die Republik" und ein Symbol ihrer Leistungsfähigkeit. Walter Ulbricht bemerkte bei seiner Ansprache zur Einweihung: "Im gewissen Sinne symbolisiert der Turm die gewaltigen Leistungen unseres ganzen werktätigen Volkes beim Aufbau des Sozialismus. Ich möchte deshalb nicht nur den Bauschaffenden, Ingenieuren und Architekten, sondern allen Werktätigen der DDR für ihre großen Leistungen beim Aufbau des Sozialismus in dieser Stunde den herzlichen Dank aussprechen." ("Neues Deutschland", 4. Oktober 1969)

Seit diesem 3. Oktober erschien auch die Fernsehzeitung "FF dabei" in Farbe. In Farbe zeigt sich seither nicht nur das Fernsehen der DDR, sondern auch der Fernsehturm selbst. Ob am Tag im Sonnenschein glitzernd oder nachts beleuchtet und blinkend, ob pastellfarben oder Grau in Grau - der Fernsehturm thront über der Stadt und begleitet deren Bewohner und Gäste tagtäglich als erhabenes Wahrzeichen und hervorstechende Orientierungshilfe.

Obwohl das Urheberrecht um die Anteile der Gestaltung bis heute nicht vollständig geklärt ist, bleibt der Bau eine großartige architektonische Leistung. Er ist ein Beispiel für eine lebendige, sozialistische und erfahrbare Architektur der DDR. Seine klare und originäre Form machen ihn leicht wiedererkennbar. Fußumbauung, Kugel und Spitze lassen den technischen Zweck hinter die optische Anziehungskraft zurücktreten. Die Faltendachkonstruktion des Fußes - quer zur Aufwärtsbewegung des Schaftes - bietet einen aufgelockerten Ausgangspunkt für die vertikale und lineare Bewegung des Turmes. Der Stahlbetonschaft verjüngt sich zunächst schnell, dann langsamer, bevor er zylinderförmig bis zur zeitlosen Kugel verläuft. Seine Gradlinigkeit wird unterhalb der Kugel durch die beiden Evakuierungsbühnen effektvoll abgefangen. Die durch Edelstahlpyramiden facettierte Kugeloberfläche mit den zwei bronzefarbenen Fensterbändern der Aussichtsetage und des Telecafés verändert je nach Licht diamantgleich ihren Glanz. Bei Sonnenschein zeigt sich das berühmte Lichtkreuz. Es folgen Antennengerüst mit anschließender rotweißer Antenne, deren Spitze sich mit dem Flughindernisfeuer in 368 Metern Höhe befindet. Es ist somit bundesweit das höchste Bauwerk - und das als Bauwerk der DDR!

Als 1990 der Palast der Republik geschlossen und sein Abriß beschlossen wurde, mehrten sich Stimmen, die den Fernsehturm als Inbegriff der "totalitären DDR-Herrschaft" ebenfalls abreißen lassen wollten. Ganz in diesem Un-Geist merkte der Publizist Friedrich Dieckmann 1992 dazu Folgendes an: "Ich neige der Erhaltung des Palastes (der Republik) auch deshalb zu, weil es einen ungleich wichtigeren Abrißgegenstand im Inneren der Stadt gibt, das ist der Fernsehturm. (...) Dieses obszöne Gebilde, (...) ist eine architektonische Machtdemonstration von ungeschönter Direktheit, gleichsam das vertikale Korrelat zu der ebenerdigen Mauer. Dem defensiven Grenzbauwerk in seiner linearen Erstreckung trat die Aggressionsgeste dieser in einer Art Schlagbaum ausgehenden Turmnadel zur Seite, deren Sichtbeton vor allem auf West-Berlin berechnet war. Man sollte dort sehen, wer Berlin in der Hand hat."

Zum Glück ist der Turm vom geschichtssäubernden Abrißwahn verschont geblieben. Offensichtlich hat sich für sein Fortbestehen die Erkenntnis durchsetzen können, daß er sich als (Werbe-)Symbol für Wirtschaft und Kultur Gesamtberlins eignet.

Von der DDR-Staatsführung am 3. Oktober 1969 als Sinnbild des aufstrebenden Staates eröffnet, sei der Turm heute ein Symbol für das wiedervereinigte Deutschland mitten in der Hauptstadt, teilten die Deutsche Funkturm GmbH als Eigentümerin sowie die TV-Turm-Alexanderplatz-Gastronomiegesellschaft für den Besucherbereich mit.

Der Bau gilt als technische Meisterleistung. Den 146 Meter hohen Funkturm in Westberlin besuchen pro Jahr rund 60.000 Gäste. Darüber kann der Fernsehturm nur lächeln. Mehr als zwölf Millionen sind Jahr für Jahr in der Kuppel zu Gast. Oben gibt es Kaffee und Köstlichkeiten, dazu Fernsicht bis weit ins Umland.

Eine persönliche Erinnerung verknüpft sich mit der Eröffnung des Fernsehturmes, nämlich das FDJ-Treffen "Junger Sozialisten" zum 20. Jahrestag der DDR. Zur Verpflegung erhielten die Teilnehmer eine mit Lebensmitteln gefüllte Tragetasche, die das Logo der Großveranstaltung trug. Darauf der Fernsehturm mit seiner Kugel und dem Staatsemblem der DDR. Mehrere Gruppen "Junger Sozialisten" wurden zu einem Besuch auf den gerade eröffneten Fernsehturm eingeladen. Im Kreise begeisterter junger Leute war das ein großartiges bleibendes Erlebnis - und ich war dabei!

Heinz Pocher
Strausberg

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Vom "Max" in Unterwellenborn

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Der schwarze Kanal

Am 21. März 1960 startete der "Deutsche Fernsehfunk", ab 1972 unter dem Namen "Fernsehen der DDR", das politische Magazin "Der schwarze Kanal". Die Sendung wurde bis zum 30. Oktober 1989 nach dem bei vielen Zuschauern dies- und jenseits der Mauer beliebten "Montagsfilm" des DDR-Fernsehens ausgestrahlt. Die Länge betrug zwischen 20 und 30 Minuten. Das Programm bestand vor allem aus Ausschnitten aus westdeutschen TV-Magazinen, die vom Moderator kommentiert wurden. Geprägt wurde "Der schwarze Kanal" durch den Journalisten Karl-Eduard von Schnitzler (1918-2001). Er moderierte mehr als 1300 von 1519 Sendungen. Als Urlaubsvertretung und im Krankheitsfall traten die Journalisten Götz Förster (viermal), Heinz Grote (144mal), Günter Herlt (26mal), Ulrich Makosch (19mal), Volker Ott (zweimal) und Albert Reisz (zweimal) an.

Von Schnitzler, wegen der Sendung in RIAS und SFB als "Sudel-Ede" bezeichnet, wurde in einer großbürgerlichen Berliner Familie geboren und beging schon früh "Klassenverrat". 1932 trat er der SPD-nahen Sozialistischen Arbeiterjugend bei, 1941 wurde er wegen antinazistischer Agitation in das "Strafbataillon 999" gesteckt. Nachdem er 1944 wegen der Kontaktaufnahme zur französischen Résistance verhaftet worden war, floh er aus der Untersuchungshaft und schloß sich dem französischen Widerstand an. Im Juni 1944 kam er in britische Kriegsgefangenschaft und wurde noch im selben Jahr Mitarbeiter der BBC-Deutschlandabteilung. Seit 1945 war er zunächst in Hamburg, dann in Köln beim "Nordwestdeutschen Rundfunk", dem Sender für die Britische Besatzungszone, tätig. Weil er "kommunistische Propaganda" in seine Beiträge habe einfließen lassen, wurde er zum 31. Dezember 1947 entlassen und ging in die Sowjetische Besatzungszone. Dort wurde von Schnitzler Kommentator beim "Berliner Rundfunk" und beim "Deutschlandsender", ab 1952 Leiter der Kommentatorengruppe des DDR-Rundfunks und schließlich Chefkommentator des DDR-Fernsehens.

Die Stoßrichtung des "Schwarzen Kanals" formulierte der Journalist in der ersten Sendung so: "Der schwarze Kanal, den wir meinen, meine lieben Damen und Herren, führt Unflat und Abwässer; aber statt auf Rieselfelder zu fließen, wie es eigentlich sein müßte, ergießt er sich Tag für Tag in Hunderttausende westdeutsche und Westberliner Haushalte. Es ist der Kanal, auf welchem das westdeutsche Fernsehen sein Programm ausstrahlt: Der schwarze Kanal. Und ihm werden wir uns von heute an jeden Montag zu dieser Stunde widmen, als Kläranlage gewissermaßen." Im Vorspann der Sendung lief unter anderem ein berühmt gewordener kurzer Trickfilm mit verzerrter Melodie des Deutschlandliedes, der BRD-Nationalhymne. Dazu landete der Bundesadler, mit einem schwarz-weiß-roten Brustband, den Flaggenfarben von Kaiserreich und faschistischer Diktatur, auf einem Fernsehantennenwald, hüpfte hin und her und stürzte schließlich kopfüber ab.

In den 60er und 70er Jahren hatte "Der schwarze Kanal" Zuschaueranteile zwischen 14 und 25 Prozent. Ende der 70er Jahre erreichte er selten zweistellige Quoten, in den 80er Jahren sanken sie auf durchschnittlich fünf Prozent.

Das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA) hat die Manuskripte des "Schwarzen Kanals" digitalisiert (http://sk.dra.de). Zur Begründung heißt es dort u. a.: "Es gab und gibt wohl kaum eine andere deutsche Fernsehsendung, die über einen Zeitraum von 30 Jahren derart im Interesse der Öffentlichkeit stand".

Langjährige regelmäßige Leser des "Rot-Fuchs" wissen, daß "Kled" - wie er von seinen Freunden liebevoll genannt wurde - uns von Beginn an (1998) bis zu seinem Tod (2001) freundschaftlich verbunden war und in Dutzenden Beiträgen seinen "Schwarzen Kanal" in anderer Form im "RotFuchs" fortsetzte.

In der Tradition Karl-Eduard von Schnitzlers kommentiert die "junge Welt" seit 2004 unter dem Titel "Schwarzer Kanal" die bürgerliche Presse. Kurz vor dem 70. Jahrestag der DDR wird "Der schwarze Kanal" nun auch wieder als bewegtes Bild gesendet. Auf daß der Bundesadler bald abstürzt.

Arnold Schölzel

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Dagoberta und Mirella

Vor fast 100 Jahren wurde meine frühkindliche Erziehung neben meiner Großmutter zwei katholischen Schwestern übertragen, die aus einem pfälzischen Zisterzienserinnenkloster in der Nähe von Bergzabern kamen. Sie wurden in den Nachkriegs- und Revolutionsjahren in die Arbeiterstadt Ludwigshafen am Rhein delegiert, die damals noch aus den Kriegswunden blutete und an vielen sozialen Gebrechen litt. Sie hatten den Auftrag, den katholischen Glauben so früh wie möglich in die Köpfe der Vorschulkinder hineinzuprojizieren.

Ich bin ein Beispiel dafür, daß ihnen dies mit großer Nachhaltigkeit gelungen war. Sie legten den Grundstock zu meiner ehrlichen Gläubigkeit, die später noch durch entsprechende Umstände vertieft und fest verankert wurde. Jahre tiefgreifender Ereignisse bedurfte es, mich durch einen langen und schmerzhaften Prozeß davon zu lösen.

Die Schwestern Dagoberta und Mirella waren es. Erstere, kräftig und zupackend, war für die irdischen Belange zuständig. Mirella, groß, schlank und für mich die Inkarnation von fast überirdischer Schönheit und Reinheit, war für die geistig-religiöse Infiltration wie von ihrem Schöpfer modelliert.

Während ich ein ziemlich wilder Bursche war, mutierte ich unter ihrem Einfluß zu einem zarten, fügsamen Lämmchen.

Die Nonne Mirella war meine erste große Liebe. Unter ihrer Leitung spielte ich meine frühesten Theaterrollen in Stücken über die heilige Genovefa und den gemarterten heiligen Franziskus. Ich sagte fromme Gedichte auf, deren Inhalt ich noch gar nicht kapierte, und sang mit ihrer Klavierbegleitung alle Marienlieder, deren wir habhaft werden konnten. Dieses innige Verhältnis dauerte, bis ich eines Tages aus meiner übergroßen Liebe heraus ihr die Brille klaute und versteckte. Ohne ihre Augengläser stand die schöne Nonne im Finstern.

Durch die große Aufregung und meine daraus folgende Angst vergaß ich, wo ich sie verborgen hatte. Als wir sie nach zwei Tagen gemeinsamen Suchens im Stroh des Kaninchenstalles fanden, war eines der Gläser zerbrochen. Mirella war so erbost und wütend, daß sie mir - was man ihren zarten Armen gar nicht zutraute -, eine donnerte, daß mir Tage danach noch die Ohren schmerzten.

Sie war darüber genauso erschrocken wie ich, kniete sofort nieder, zog mich nach und meinte, wir müßten gleich beten - ich wegen des Diebstahls, sie wegen ihrer Unbeherrschtheit -, damit diese Sünden vergeben würden. Drei Vaterunser und dreimal das Mariengebet waren die Sühne. Als Zugabe noch die lange Litanei des Glaubensbekenntnisses.

Dann zog sie mich hoch, befahl mir, darüber zu schweigen, da unser beider Sünden nun vergeben und vergessen seien. Dies war mir eine Lehre, daß man sich alles leisten konnte, wenn man hinterher nur betet und bereut.

Gleich zur Probe klaute ich ein paar Tage später meiner Tante Maria ein Markstück aus ihrem Geldbeutel, was damals viel Geld war. Mein einziger Kinderdiebstahl. Wahrscheinlich ist er durch mein Gebet und die Reue nie entdeckt worden.

Ich habe Mirella nie vergessen und lange geliebt.

Es war die erste nachhaltige Erfahrung über eine ethische Kategorie. Nämlich, daß die Moral zwei Seiten hat: hohe Sittlichkeit und niedere Heuchelei.

Es sollten lange düstere und traurige Zeiten folgen. Religion spielte dabei oft eine unheilvolle Rolle, über die noch zu berichten wäre.

Rudi Kurz

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Freie Wahl? Alles klar?

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Währungsunion - am Anfang oder am Ende?

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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LESERBRIEFE

Wenn man solchen Leuten wie Frau Anna Kaminsky, ihres Zeichens Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Deutungshoheit über das Leben der meisten Bürger in der DDR überläßt, braucht man sich nicht zu wundern, wenn sich immer mehr von den etablierten Parteien abwenden. Es spricht für sich, wenn Frau Kaminsky auf die Frage, was es in der DDR an Gutem gab, aber auch gar nichts einfiel.
Wenn ich mir die Wahlen und ihre Auswertung in Brandenburg und Sachsen ansehe, muß ich feststellen, daß die "Volksparteien" den Menschen schlicht nicht zuhören. Es war eben nicht die "SED-Planwirtschaft", sondern vor allem die Treuhand, die zur Deindustrialisierung im Osten geführt hat. Das war politischer Wille und im Interesse des westlichen Kapitals. Diese Herangehensweise hat dazu geführt, daß die Menschen aus den Dörfern und Städten im Osten abgewandert sind. Damit verschwanden Gaststätten, Verkaufsstellen, Landärzte und Nahverkehr.
Zu den guten Seiten der DDR ist auf alle Fälle zu zählen, daß sie sich nie an Kriegseinsätzen beteiligt hat, daß sie keine Zweiklassenmedizin hatte, daß alle in ein Rentensystem eingezahlt haben und es keinen Mietwucher gab.

Ralf Kaestner, Bützow


Der staatlich verordnete Mainstream will, daß wir ihm folgen, selbst nicht mehr nachdenken und hinterfragen. Diese für mich traurige Erkenntnis habe ich einmal mehr nach einem diesjährigen Urlaub in Binz gewonnen. Es ist unglaublich, wenn man es nicht selbst erlebt hätte, wie die Geschichte um Prora verfälscht wird. Ob es das sogenannte offizielle Dokumentationszentrum ist oder diverse historische örtliche Publikationen, selbst harmlose Straßenschilder werden genutzt, um ahnungslose Bürger schamlos zu belügen. Ein Erholungsheim der NVA hat es für die Geschichtsfälscher nie gegeben, dafür präsentiert man bunte Plakate über das scheinbare Wohlbefinden der Bürger durch die von den Nazis verordnete Bewegung "Kraft durch Freude" im faschistischen Deutschland, die hier in Prora eine entsprechende Erholungsunterkunft plante.
Es ist nicht zu verstehen, daß solche Verherrlichung des Hitler-Regimes in dem wunderschönen Ostseebad Binz und dem neu gestalteten Komplex "Koloß von Rügen" ohne jeden Protest hingenommen wird. Womit ich mich auch an den "RotFuchs" und eine dort arbeitende Regionalgruppe wenden möchte. Ich meinerseits habe meinen Urlaub in Binz genutzt, um nach mehreren Anläufen in einem persönlichen Gespräch mit dem Bürgermeister meine Einwände gegen diese Art der historischen Darstellung von Prora vorzutragen. Wir, die wir noch alles persönlich erlebt haben, sollten, soweit es unsere Kräfte zulassen, gegen Geschichtsverdrehung und -fälschung wirksam werden. Das sind wir unseren Kindern und Enkeln schuldig.

Harry Schröder, Oberstleutnant a. D. der NVA, Berlin


Anläßlich der Ermordung Ernst Thälmanns vor 75 Jahren fanden sich am 18. August Mitglieder des Verbandes zur Pflege der Traditionen der NVA und Grenztruppen der DDR e. V., ISOR, der VVN/BdA und andere Linke - allesamt "RotFuchs"-Leser - an der Mauer der JVA ein. Das Gefängnis war der letzte Aufenthaltsort Thälmanns, vom 11. August 1943 bis zu seiner Überführung ins KZ Buchenwald und seiner heimtückischen Ermordung. Zu DDR-Zeiten gab es in Bautzen eine Schule, eine Straße, ein überlebensgroßes Denkmal und mehrere Gedenkstätten. Heute nur noch die, an der wir uns treffen (die auch zeitweilig verschwunden war, aber durch "RotFuchs"-Aktivisten wieder entstand). Es existiert noch die Doppelzelle 11/12 im Gefängnis, in der Thälmann eingesperrt war, eine Stele mit eingraviertem Namen vor dem Eingang der JVA und eine Gedenktafel an der ehemaligen Thälmannstraße (heute Polizeigebäude). Alles andere verschwand.
In den Medien wurde mitgeteilt, daß der Oberbürgermeister, der auch mit unseren Stimmen gewählt wurde, für die SPD kandidiert. Unsere Unterstützung hat er auch deshalb, weil er persönlich seit Beginn seiner Amtszeit den 8. Mai am sowjetischen Ehrenmal mit beeindruckenden Worten als Tag der Befreiung würdigt.

Helge Tietze, Bautzen


Zu Sergej Lawrow: Der 2. Weltkrieg und die Verdrehungen des Westens, RF 260, S. 3
Der russische Außenminister Sergej Lawrow betreibt eine kluge Verhandlungsführung. Sein im "RotFuchs" veröffentlichter Beitrag findet meine volle Zustimmung.

Dr. Kurt Laser, Berlin


Den Artikel von Sergej Lawrow im September-Heft des RF kann ich sehr begrüßen. Nach meiner Überzeugung besitzen nur Rußland und China die richtigen Überlegungen zur Überwindung der jetzigen katastrophalen Lage auf der Erde. Die NATO und die USA scheinen jeden Sinn für Realitäten verloren zu haben, den man zu Kennedys und Brandts Zeiten noch unterstellen konnte. Trump und die Kräfte hinter ihm sind im Begriff, alles auf eine Karte zu setzen und in einem Weltkrieg den Weg zur Sicherung ihres globalen Herrschaftsanspruchs zu sehen. Nach 1945 wollte keiner mehr eine Waffe in die Hand nehmen, doch die Generation, die dafür stand, gibt es zum großen Teil nicht mehr. Meine Hoffnung setze ich in die Jugend, denn es ist höchste Zeit, diesen Wahnsinn zu stoppen, ehe es zu spät ist.

Gerd Schulz, Waldau


Zu Horst Nörenberg: Wie vor 80 Jahren der 2. Weltkrieg begann (RF 260, S. 5)
Oberst a. D. Nörenberg gibt eine militärisch sehr sachliche und kenntnisreiche Darstellung dieser Ereignisse. Bis auf vier Gesichtspunkte, die freilich mehr ins Politische reichen.
"Sowjetische Truppen besetzten die vereinbarten Gebiete in Polen." Mit wem "vereinbart"? War es nicht vielmehr so, daß Stalin beim Überfall auf Polen die sowjetischen Gebiete in der West-Ukraine und West-Belorußland zurückholte, die durch den Brest-Litowsker Zwangsvertrag 1920 dem Mitinterventen Polen zugeschlagen worden waren?
Und ist mit "vereinbart" etwa der deutschsowjetische Nichtangriffspakt gemeint, der in der Geschichtslügnerei "Hitler-Stalin-Pakt" genannt wird? Man erinnere sich, und das gehört auch zur militärischen Sachlichkeit: Stalin hatte bei der heraufziehenden Gefahr des Überfalls auf Polen dreimal den West-"Alliierten" dringend vorgeschlagen, einen Nichtangriffs- und Beistandspakt mit Polen abzuschließen. Das wurde dreimal abgelehnt, aus den auch hier genannten Gründen.
"Ein weiterer Beweis für die zu erwartende Konfrontation mit Nazi-Deutschland war der sowjetisch-finnische Krieg ..." Diesen "Krieg" hat Stalin gemacht, und wer das als "Beweis für die zu erwartende Konfrontation" ... ansieht, der nähert sich ziemlich der nächsten heutigen infamen Geschichtslüge, daß Stalin genauso schuld am zweiten Weltkrieg ist wie Hitler.
"Am 1. September 1939 ... begann der Waffengang zur Umsetzung der Pläne Hitlers und seiner Generale, für welche die Wehrmacht seit 1933 vorbereitet wurde." Das waren zuerst die Pläne der größten deutschen Konzerne und Banken zur Neuaufteilung der Welt! Hitler war dazu nur das Instrument, das dafür 1933 an die Macht geputscht wurde. Es waren dieselben Klassenkräfte, die der jetzigen BRD, nach Beseitigung der DDR, zu 18 Kriegen verhalfen, zu "humanen Kriegen" natürlich. Und weit weg von Kleindeutschland, natürlich. Und die natürlich nichts mit dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt zu tun haben.
"Als die Hitler-Faschisten Polen überfielen, bemühte sich die Sowjetunion verstärkt um die Verbesserung der Sicherheit ihrer Grenzen." Das traf aber leider nur für die Gebiete um Leningrad herum zu. Ansonsten hatte Stalin, entgegen der Warnungen führender Militärs, dem "Nichtangriffspakt" zuviel Gewicht und Bedeutung beigemessen und die militärische Vorbereitung auf einen "bevorstehenden" Überfall nicht in der nötigen Weise vorangetrieben. Das war einer der großen Fehler, die Stalin gemacht hat. Sonst wäre es den Faschisten sicher nicht gelungen, in knapp zwei Jahren 2000 km bis an die Wolga vorzustoßen. Und hätte den Westmächten, die genauso eine Neuaufteilung, aber nach ihren Wünschen, wollten, weniger Gelegenheit gegeben, ihre vertragsbrüchig verspätete Normandie-Landung als ausschlaggebenden Sieg darzustellen.
Wir haben es nötig, nicht nur dieser Geschichtslüge entgegenzutreten. Sehr nötig.

Gerhard Naumann, Berlin


Zu Hans Schoenefeldt: China: Die mißlungene Generalprobe, RF 260, S. 15
Zu den Bewertungen der Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz von 1989 möchte ich einen Gedanken hinzufügen, den Prof. Dr. Zbigniew Wiktor in seinem Buch "China auf dem Weg der sozialistischen Modernisierung", Torun 2008, geäußert hat: "In Anbetracht der historischen Erfahrungen der letzten rund zehn Jahre kann mit Sicherheit festgestellt werden, daß das wichtigste historische Ereignis des Jahres 1989 nicht der Zusammenbruch der UdSSR und der sozialistischen Länder Europas war, sondern die Rettung Chinas vor diesem Niedergang und seine weitere sozialistische Entwicklung."

Jörg Eisenträger, Sulz a. N.


Hervorragend der Leserbrief von Wilfried Steinfath in der Juli/August-Ausgabe des RF. Schade, daß er nur den Lesern des "RotFuchs" zugänglich ist.
Was die Annexion der Krim betrifft, fehlt noch der sogenannte I-Punkt, nämlich der Hinweis auf das Sezessionsrecht. Das wird von den westlichen Politikern und den Medien bewußt verschwiegen, weil sonst die Politik der Konfrontation und der Sanktionen gegen Rußland nicht mehr zu rechtfertigen wäre. Ich darf ergänzend hinzufügen: "Das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes hat laut UNO-Resolution 2625 vom 24.10.1970 (!) auf jeden Fall Vorrang gegenüber Souveränitätsansprüchen von Staaten. Kein völkerrechtlicher Vertrag und keine innerstaatliche Verfassung kann das Selbstbestimmungsrecht verbieten."
Meines Erachtens hat Dr. Kurt Laser vor einiger Zeit schon mal darauf hingewiesen. Die in den Medien immer wieder verbreitete Lüge von der Annexion der Krim wird so oft wiederholt, daß die selbige von vielen als Wahrheit empfunden wird.

Ralph Dietze, Freital


Es heißt oft, Geschichte wiederholt sich nicht. Der jüngste Putschversuch in Venezuela - unter Anleitung der USA - scheint dies zu widerlegen.
In der kleinen Kärntner Tageszeitung "Volkswille" vom 31.12.1948 ist nachzulesen, wie die USA in Venezuela einen Militärputsch erfolgreich durchführten. Hier die kurze Meldung:
USA inszenieren "Revolution" in Südamerika Prag (TASS). Telepreß veröffentlichte einen Artikel des bekannten amerikanischen Kommentators Johannes Steel, in dem der vor kurzem erfolgte Militärputsch in Venezuela als "eines der skandalösesten Ereignisse in Südamerika" bezeichnet wird.
Venezuela hat die Verwirklichung demokratischer Formen in Angriff genommen, und die ... Regierung Gallegos war das Ergebnis der ersten demokratischen Wahlen in der Geschichte des Landes, schreibt Steel. Der Grund für den Erfolg der Militärabenteurer, die Gallegos stürzten, ist in Washington zu suchen, wo die Stabschefs ihre eigene Ansicht darüber haben, welche Regierungen in Südamerika vom militärischen Standpunkt der Vereinigten Staaten aus Vertrauen verdienen. Die Zweigstellen der großen amerikanischen Erdölgesellschaften Standard Oil of New Jersey und Golf Oil Corporation sind stark an der Erdölindustrie von Venezuela interessiert. Diese Gesellschaften, betont Steel, waren empört, als Gallegos ihre Profite mit einer ... 50prozentigen Steuer belegte.
Dagegen erklärte der Wirtschaftsminister der Militärjunta unmittelbar nach dem Umsturz, die neue Regierung sei den Erdölgesellschaften freundschaftlich gesinnt und gäbe ... ihnen die Garantie, daß sich die großen Kapitalinvestitionen der Amerikaner in "völliger ... Sicherheit" befinden. Steel hebt besonders hervor, daß nicht nur in Venezuela, sondern ... auch in Peru, wo gleichfalls eine auf demokratischem Wege gewählte Regierung gestürzt ... wurde, in den letzten anderthalb Jahren große amerikanische Waffenlieferungen eintrafen. Die gegenwärtige amerikanische Politik, schreibt Steel abschließend, beruht auf dem ... Prinzip, Militärcliquen zum Kampf gegen das Volk zu bewaffnen.

Johann Weber, Niederbayern


Vor kurzem fand in Hamburg ein Abend mit DDR-Zeitzeugen, zu dem vor allem Jugendliche aus verschiedenen Gruppen und Interessierte, die durch die Werbung in der UZ und der "jungen Welt" zu der Veranstaltung gekommen waren, statt. Offensichtlich ist, daß es ein erstaunliches und wachsendes Interesse am Thema DDR und Sozialismus gibt. Die offene Debatte dazu war durch die Vielgestaltigkeit der Lebensläufe der anwesenden Zeitzeugen anregend und interessant. Für die Beteiligten aus Hamburg war dieses Zusammenkommen wichtig, da es Gelegenheit bot, mit ähnlich Denkenden, Menschen ähnlicher Lebenserfahrung und positiver Beziehung zur DDR zusammenzukommen und sprechen zu können. Meine Vermutung ist, daß aus der Entwicklung der Linkspartei Chancen entstehen, die leider in einer angemessenen Weise viel zu wenig durch Angebote und aktives Aufeinander-Zugehen genutzt werden.
Besonders die klare, gebildete, den Zuhörern zugewandte, immer wieder neu anregende Art und Weise von Arnold Schölzel weckte bei den meisten Teilnehmern das Bedürfnis nach Vertiefung und Weiterführung der Diskussion. Natürlich haben wir über die spezielle Hamburger Lage der vier MASCHs in der Großregion, die geringe Zusammenarbeit, den fehlenden Erfahrungsaustausch, die gestörte Kommunikation und Probleme in der Jugendarbeit gesprochen. Aber es entwickeln sich auch Bildungsgruppen in der Linkspartei, rund um Marx21, im Bildungsverein Altona und in anderen Strukturen, die sich austauschen und zusammenarbeiten.
Ich denke, daß die neuen "sozialen" Medien nicht alles sind, sondern ein Weniger mehr sein kann, besonders das persönliche Auftreten eine gewinnende, vertrauensvolle Umgebung zu schaffen, um vor allem die Jüngeren zu erreichen. Ich bin mit Dankbarkeit für diese Erfahrungen nach Hause gefahren.

Ulrich Fritsche, Hamburg


Während meiner zwei Aufenthalte in Kuba habe ich Land und vor allem Leute schätzen und lieben gelernt. Das für mich sprichwörtlich so ausgeprägte Selbstbewußtsein der Menschen aller Generationen und deren menschlichen Einstellungen und Ziele haben mich kolossal beeindruckt. Im Vorfeld des Brückenfestes - ein jährlich am 1. Mai von der Linkspartei und den Gewerkschaften initiiertes Volksfest - hat es mich dann gepackt. Ich wollte mehr tun! Gemeinsam mit CubaSí gestalteten wir einen Stand, an dem sich Besucher informieren und in eine "Interessenten"-Liste eintragen konnten. Seite Mitte Mai treffen wir uns nun regelmäßig einmal im Monat, um uns über aktuelle Fragen und Probleme des Landes auszutauschen und gemeinsam Ideen für eine effektive Solidarität mit Kuba zu entwickeln. Das ist ganz besonders nach der extremen Verschärfung der Blockade durch die USA von zunehmender Bedeutung. Fundierte Argumentationsfähigkeit in der Auseinandersetzung mit Informationen der "Mainstream-Medien" ist dabei ebenso wichtig.
Daß wir unsere Gesprächsrunden in entsprechendem Ambiente durchführen, ist selbstverständlich: Wir treffen uns an jedem 2. Mittwoch im Monat um 19 Uhr immer in der "Havanna-Bar", die von dem aus Santa Clara stammenden Kubaner Osmin Ventura geführt wird.
Übrigens: Wir sind kein "Geheim-Club" - Interessenten sind immer willkommen!

Wolfgang Frotscher, Frankfurt (Oder)


Sich an Professor Dr. Helmut Matthes zu erinnern, bedeutet, DDR-Geschichte Revue passieren zu lassen. Der Lebensweg des letzten Direktors des Instituts für Internationale Beziehungen in Potsdam, der sich auch als Wirtschaftswissenschaftler und Hochschullehrer hohes Ansehen erworben hatte, war besonders mit dem Engagement der DDR in Afrika verbunden. Nachdem am 21. Dezember 1972 volle diplomatische Beziehungen zu Tansania hergestellt waren, wurde Helmut Matthes der erste Botschafter der DDR in Daressalam. Wenn sich Matthes an diese Zeit erinnerte, brachte er es in typischer Weise auf den Punkt: "In meinem Garten saßen sie alle." Kaum ein Politiker des südlichen Afrikas, der nicht mit dem engagierten Botschafter zusammentraf: Machel, Neto, Dadoo, Mugabe, Nzo und auch der junge Mbeki. Über Tansania lief die Unterstützung für die Befreiungsbewegungen in den Nachbarländern, über Tansania lief ein großer Teil der Unterstützung für die mosambikanische Unabhängigkeitsbewegung, die FRELIMO. 1983 bis 1988 schloß sich für Matthes folgerichtig eine Berufung zum Botschafter in Mosambik an. Das waren sehr bewegten Jahre in der Geschichte Mosambiks und in der Geschichte der Beziehungen zwischen der DDR und dem befreundeten afrikanischen Land. 1984 die Ermordung einer Gruppe von Landwirtschaftsspezialisten der DDR in Lichinga, die ihm besonders nahegegangen war. Es war ihm wichtig zu verhindern, daß es weitere Todesopfer unter den mehr als 1000 Kooperanten der DDR in Mosambik gibt. Er war Zeuge der Unterzeichnung des Vertrages von Nkomati, erlebte den Tod Samora Machels, die Wahl Joaquim Chissanos, den er gut kannte, zum Präsidenten der Republik und der FRELIMO. Und Matthes mußte erkennen, daß den Möglichkeiten der DDR auch in Afrika Grenzen gesetzt waren. Er kehrte 1989 an das Institut für Internationale Beziehungen in Potsdam zurück, war dessen Direktor bis zur Auflösung 1991. Seine wissenschaftlichen Interessen waren vielfältig, als Wirtschaftswissenschaftler hat er sich im offiziellen Ruhestand besonders mit dem Ende der DDR und den Ursachen für ihr Scheitern auseinandergesetzt. Am 7. Juli 2019 ist Helmut Matthes gestorben.

Matthias Voss, Potsdam


Es ist eine Volksweisheit: Die Kleinen fängt man, die Großen läßt man laufen ... Aber sind denn laut Grundgesetz nicht alle Bürger vor dem Gesetz gleich? Auf dem Papier vielleicht, in der Praxis leider nicht.
Nehmen wir den Fall Scheuer. Der Verkehrsminister hat offensichtlich schnell kapiert, daß eine politische Karriere sehr von Vorteil ist. Als Minister kann er im schlimmsten Fall sein Amt verlieren, sein Vermögen wird das nicht tangieren. Kürzlich wurde bekannt, daß Minister Scheuer dem Steuerzahler eine halbe Milliarde Euro an Strafzahlungen für voreilig geschlossene Verträge mit privaten Mautbetreibern beschert hat. Der Haushaltssprecher der Grünen verwies darauf, daß er die Zahlen bewußt so manipuliert habe, daß private Anbieter den Zuschlag bekamen. Ein angeblich billigeres Modell sei nicht berücksichtigt worden. Das ist schwerer Betrug am Steuerzahler. Wo ist hier die Justiz des Rechtsstaates? Bei der Unterschlagung eines Pfandbons im Supermarkt wäre sie längst in der Spur, für hochrangige Politiker ist sie offensichtlich nicht zuständig.
Irgendwie muß nun das Volk beruhigt werden, weshalb man den Minister vor den Verkehrsausschuß zitiert. Die Opposition im Bundestag fordert einen Untersuchungsausschuß. Was wird es bringen? Ewige Debatten und Schuldzuweisungen, aber kein greifbares Ergebnis.

Wilfried Steinfath, Berlin


Wahlzeiten bringen es auf den Punkt: die unglaublich platten Sprüche auf sämtlichen Plakaten, etwas umformuliert, inhaltlich meist unverändert und am Ende der Regierungszeit fast nichts davon realisiert. Bildungsnotstand allerorten, Lehrermangel, Pflegenotstand, Fachkräftemangel, überlastete Straßen mit Endlosbaustellen, fehlende Radwege, total vernachlässigtes Schienennetz in Auto-Deutschland, keine Renten- und Lohnanpassung im Osten auf 100 %. Was noch da ist in der Region, wird, wenn es sich nicht rechnet, abgeschafft. Zuletzt wurde das RAW platt gemacht und die Windradbude in Trampe, ein Reparaturwerk und ein Hersteller von ökologischen Windkraftanlagen. Immer mehr Menschen werden unzufrieden und deswegen zu Protestwählern oder Wahlverweigerern. Wie eine Seuche breiten sich rechtes Gedankengut, übertriebener Nationalstolz und Rassenhaß aus, typische Ausgeburten der kapitalistischen Unordnung. Das neue Polizeigesetz im Land Brandenburg, beschlossen durch die derzeit Regierenden SPD und Die Linke, ist Maulkorb und Fußfessel zugleich, gerichtet gegen alle politischen Gegner, auch gegen die gefährlichen Kommunisten, die bei der Ausübung ihrer demokratischen Bürgerrechte schon auf Grund irgendeines Verdachtes in den Knast gesteckt werden können. Das ist unglaublich, aber wahr. Auch Truppen- und Militärtransporte der NATO durch das Land Brandenburg in Richtung russische Grenze wurden durch dieses rosa Regierungsbündnis genehmigt - von zwei Parteien, die sich angeblich für die Belange des "kleinen Mannes" einsetzen. Tatsache ist jedoch, daß sie in erster Linie immer die Interessen der Konzerne, der Banken und des Militärs vertreten. Die Kunst ihres Regierens besteht vor allem darin, den Ball flach zu halten, das Wahlvolk immer wieder so gefühlvoll zu verschaukeln, daß es nicht ernsthaft aufmuckt. Falls doch, wird kurzer Prozeß gemacht, siehe Stuttgart 21, der G20-Gipfel in Hamburg oder die Proteste der Umweltaktivisten. So läuft das hier, egal wer den Kochlöffel schwingt, egal wie die Oberköche sich nennen. Sie alle sind Pfleger am Krankenbett des krebskranken Kapitalismus und - der Krebs ist bösartig. Die braune Soße köchelt und köchelt genau aus dem Grund und nicht nur hier und nicht nur in Europa, sondern überall auf dieser vom Kapitalismus vergewaltigten Erde. Ich würde mir wünschen, auf den Plakaten der Partei Die Linke würde stehen: Unser Ziel heißt Sozialismus und Weltfrieden. Dann wären sie für mich glaubwürdig und ohne Bauchschmerzen wählbar.
Es ist beschämend, daß nur wenige Menschen am 1. September den Weltfriedenstag nutzen, um öffentlich den Weltfrieden zu fordern. Aber egal, wir machen erst mal weiter so. Es wird schon nicht so schlimm werden. "Fridays for Future" wird als Kinderkram abgetan, und unsere Möchte-gern-an-die-Fleischtöpfe-Akrobaten versprechen genau wie Merkel, völlig verantwortungslos, weiterhin Wachstum und Wohlstand. An die wichtigste Stellschraube, an das Grundübel, traut sich keine "Volkspartei" heran. So geht der ostdeutsche Michel ganz selbstbewußt an die Urne und wählt. Er geht wählen, ohne das Wahlprogramm seiner "Erlöser" gelesen zu haben und schon gar nicht deren Parteiprogramm. Man wählt, wenn überhaupt, nach Gefühl. Ein lesendes und nachdenkendes Volk, das wäre die Lösung! Aber nein, Wahlomat und Plakatwerbung - das paßt und reicht. Und die Wahlsieger, die lachen sich mal wieder ins Fäustchen.

Eckhard Laurich, Eberswalde


Mit zunehmender zeitlicher Distanz zu den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg schwindet ein wenig der Groll über die schlechten Ergebnisse der Linkspartei. Was ist zu tun? Pessimismus und Besserwisserei werden uns nicht weiterhelfen.
Wir sollten uns unbedingt Zeit für eine gründliche Analyse der Wahlergebnisse nehmen und daraus, gepaart mit Herz sowie Sachverstand, programmatische und praktische Schlußfolgerungen ableiten. Schnellschüsse und emotional vorgetragene Forderungen, an wen auch immer, sollten unterbleiben. Dafür müssen gut aus- und abgewogene Vorschläge für politische Zielsetzungen auf der Grundlage des Parteiprogramms eingebracht werden. Friedenspolitische, soziale und solidarische Schwerpunkte sind dabei in den Mittelpunkt zu stellen sowie öffentlichkeitswirksam umzusetzen. Mit der Diskussion über die Vorschläge in den Gremien müssen vor allem möglichst viele außerparlamentarische Aktionen einhergehen.
Der Landtagswahl in Thüringen sollte unsere ganze Aufmerksamkeit sowie tatkräftige Unterstützung gelten - und dies bundesweit. Besinnen wir uns auf unsere gemeinsamen Ziele im Kampf um politische Veränderungen, bündeln wir unsere Kräfte und ringen um beste Wahlergebnisse in Thüringen. Das wäre eine erste richtungsweise und ermutigende Antwort auf das vergangene Wahldesaster!

Raimon Brete, Chemnitz


Sachsen hat gewählt und dabei alle apokalyptischen Vorausahnungen weit übertroffen: fast 60 % der Stimmen reaktionär-faschistoid (davon fast 60 % CDU; mehr als 25 % AfD).
Das Denken für sich in Anspruch nehmende Menschen begründen das so: So kann's nicht weitergehen! Die da oben brauchen einen Denkzettel! Ich wähle AfD aus Protest, deshalb bin ich noch lange kein Nazi!
Aber die so denken, waren doch alle einmal DDR-Bürger! Der Jugend könnte man das evtl. noch verzeihen angesichts des "Geschichtsunterrichts", dem sie seit der Konterrevolution ausgesetzt waren und sind. Vielleicht hätten die AfD-Protestler nicht "denken", sondern lieber nachdenken sollen. Dann wäre ihnen sicher aufgefallen, daß Teile der CDU schon lange vor der Landtagswahl mit der AfD als möglichem Mehrheitsbeschaffer liebäugelten. Doch das sahen sie nicht, und so haben sie den Scheuerhader mit dem Putzlappen schlagen wollen. CDU und AfD hat's gefreut.
Ein wirklich durchdachter Protest, der auch glaubhaft gewesen wäre, hätte die CDU im Quadrat springen lassen: die Wahl der Linken! Ob allerdings die Partei Die Linke dieses Votum zum Wohle der Wähler in entsprechendes Handel hätte umsetzen können oder wollen, steht auf einem anderen Blatt.

Siegfried Wunderlich, Plauen


Eure Zeitschrift finde ich prima! Vor allem für Jüngere bietet sie interessante Informationen zu nicht persönlich erlebten Zeiten und Zusammenhängen. Darüber hinaus ist sie eine der wenigen, wenn nicht überhaupt die einzige, in der relativ umfangreich Leserzuschriften veröffentlicht werden. Was mir dennoch etwas zu kurz kommt, ist das Streitbare zu aktuellen Themen, bei denen Leser um Ideen und Standpunkte "rangeln".

Pete Kromer, E-Mail


Die RF-Regional-Gruppe Saale-Orla hatte zum Treffen in der Kreisstadt Saalfeld eingeladen. Am Donnerstag, dem 19.9., gab es keinen Vortrag, es war zu einem Stammtisch mit offenem Gespräch zur bevorstehenden Landtagswahl eingeladen. Das hat eine recht große Runde sehr interessiert. Genossen, Freunde und RotFüchse wurden von Günter Wechsung begrüßt. Die Sorge um den Frieden in der Welt und unsere gefährliche Außenpolitik sind es, die mich zu den interessanten Vorträgen und Gesprächsrunden der RotFüchse geführt haben. Das ist auch immer Thema in jeder Veranstaltung.
Diesmal war es die Wahl. Was verkünden die ganzen Plakate? Was wird aus der Linken, die sich, wie auch andere Parteien in den eigenen Reihen, nicht einigen kann? Wie kann man so mit der so geachteten Sarah Wagenknecht umgehen? Wie kommt der Weltkindertag gerade in Thüringen auf den 20. September - kurz vor der Wahl? Ist doch in unseren Bundesländern der 1. Juni als Internationaler Kindertag über Jahrzehnte gefeiert worden.
Auf verschiedene Artikel aus dem letzten "RotFuchs" wurde verwiesen. Frieden, Frieden und immer wieder Frieden, das ist das Wichtigste. So soll auch die Abstimmung bei den Wahlen erfolgen. Kriegstreiber dürfen keine Stimme bekommen. Das ist es, was mir auch an den Rotfüchsen und der Zeitschrift gefällt. Ganz meine Meinung - auch die vieler Leserbriefschreiber aus unserer "Ostthüringer Zeitung". Abrüsten statt aufrüsten! ... Militärschlag gegen Syrien völkerrechtswidrig ... Für friedliche Beziehungen zu Rußland - der Vergangenheit und der Zukunft wegen. Immer wenn ich den "RotFuchs" lese, sehe ich, daß doch viele meiner Meinung sind und auch dafür kämpfen. Das finde ich positiv. Das Lied von Gisela Steineckert "Der einfache Frieden" von 1981 tauchte auch im "RotFuchs" auf. Unser Maxhüttenchor aus Unterwellenborn hat es im Programm.
Ich mache weiter Werbung, damit in der nächsten Veranstaltung noch mehr Gleichgesinnte sich austauschen können. Mein "RotFuchs" hat auch mehrere Leser im Ort.
Ich danke Ihnen für die wichtige Aufklärung.

Annerose Kramer, Schweinbach


Der im Februar 1998 gegründete "RotFuchs" ist eine von Parteien unabhängige kommunistisch-sozialistische Zeitschrift.

HERAUSGEBER: "RotFuchs"-Förderverein e. V.
Postfach 02 12 19, 10123 Berlin


Das Impressum für die obenstehende Ausgabe ist zu finden unter:
www.rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2019/RF-262-11-19.pdf

*

Quelle:
RotFuchs Nr. 262, 22. Jahrgang, November 2019
Internet: www.rotfuchs.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2019

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