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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1309: Vor 20 Jahren - Das Massaker vom Tiananmen


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8 - Juli/August 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Vor 20 Jahren: Das Massaker vom Tiananmen
Eine gescheitere Revolution?
Wer trug die Bewegung und was wollte sie?

Von Anton Pam


Die Bewegung des Tiananmen war eine erste Reaktion auf die "Reformpolitik", die China zurück zum Kapitalismus führen sollte. Am 6. Juni 1989 beendete die chinesische Armee die Besetzung des Platzes des Himmlischen Friedens (Tiananmen) in Peking mit einem Blutbad.


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Zum 20. Jahrestag des Massakers am Tiananmen verordnete die KPCh eisernes Schweigen. Viele junge Chinesen haben von dem Massaker noch nie etwas gehört. Oppositionsgruppen und Dissidenten im Ausland, die Gedenkfeiern organisieren, haben in China längst an Einfluss verloren. Für Aufsehen sorgen derzeit die in HongKong veröffentlichten Erinnerungen des damaligen Parteichefs Zhao Ziyang, der sich 1989 gegen die Verhängung des Kriegsrechts aussprach. Infolgedessen verlor er sein Amt und verbrachte 16 Jahre in Peking unter Hausarrest. Im seinem Buch The Prisoner of the State greift der 2005 verstorbene Zhao die Hardliner in der Partei an und fordert politische Reformen in Richtung einer parlamentarischen Demokratie. Waren das die Ziele, für die Studenten und Arbeiter damals demonstrierten?


Reformpolitik in der Krise

Die Krise von 1989 hatte ihre Wurzeln in den von der Reformpolitik enttäuschten Hoffnungen breiter Teile der Stadtbevölkerung. Die Industriereform führte nach 1985 zu Anfängen kapitalistischer Verhältnisse. Vor allem das duale Preissystem, wonach die Preise für Konsumgüter über den Markt, die für Industriegüter aber noch vom Staat geregelt wurden, begünstigte schlimme Formen der Korruption und des Machtmissbrauchs durch Kader im staatlichen Sektor. Die "Eiserne Reisschüssel", der lebenslang sichere Arbeitsplatz für die Kernbelegschaften der Staatsbetriebe, wurde durch die Reformen zunehmend in Frage gestellt. Auch die Lage der Studenten und Akademiker gab Anlass zur Sorge. Die Stipendien der Studierenden reichten immer weniger zum Leben. Die Löhne der Lehrer und Akademiker waren im Vergleich zu denen der Angestellten in der Privatwirtschaft sehr niedrig. "Mit dem Verkauf von Teeeiern verdient man mehr, als mit der Erforschung der Atombombe" - der Satz wurde zum geflügelten Wort. Darin drückte sich auch der Statusverlust der Intelligenz gegenüber den Privatunternehmern und Händlern aus.

Mitte der 80er Jahre formierte sich Widerstand gegen Korruption und politische Repression. 1986/87 kam es in Städten wie Shanghai, Wuhan und Peking zu Studentendemonstrationen mit einigen tausend Teilnehmern. 1988 stürzte die Reformpolitik in eine schwere Krise. Die Subventionierung der Staatsbetriebe belastete den Haushalt so stark, dass in einigen Gegenden der Staat den Bauern das Getreide nur noch in Schuldscheinen statt in Bargeld bezahlen konnte. Die rapide steigende Inflation und eine Korruption ungekannten Ausmaßes belasteten das Leben der Menschen in den Städten. Ende 1988 schnellte die Inflationsrate in den Städten auf 26%, was zum massiven Rückgang des Lebensstandards führte. Obwohl das Bruttosozialprodukt in diesem Jahr um 11% stieg, glaubten viele, dass sich eine kleine korrupte Elite auf Kosten der Allgemeinheit an diesem Wachstum bereichere. Im April 1989 kulminierte die Frustration in einer Legitimitätskrise der KP und es entstand die Bewegung vom Tiananmen.


Vom Eliteprotest zur Massenbewegung

Konkreter Auslöser der Bewegung in Peking war der Tod des früheren Parteichefs Hu Yaobang: Er hatte sich 1987 auf die Seite der protestierenden Studenten gestellt und war dafür abgesetzt worden. Am 17. April 1989 zogen ca. 2000 Studenten der Top-Elitehochschule Peking-Universität auf den Platz des Himmlischen Friedens, um die Rehabilitierung von Hu zu fordern. Drei Tage später führte ein Zusammenstoß zwischen Studenten und Polizei zur Radikalisierung der Bewegung: Der Platz wurde besetzt und es gründeten sich unabhängige Studentenverbände. Am 19. April entstand auch die unabhängige "Autonome Arbeiterföderation", die bis zum Massaker 20000 registrierte Mitglieder in Peking gewinnen konnte.

Das Zentralorgan der KPCh, die Volkszeitung verurteilte die Bewegung als konterrevolutionären "Aufruhr"; Proteste dagegen und ein Hungerstreik auf dem Platz führten dazu, dass sich Hunderttausende der Bewegung der Studierenden anschlossen. Verhandlungen zwischen Regierung und Studentenvertretern scheiterten mehrfach. Besonders die drohenden Repressalien führten zur Solidarisierung der Arbeiter und der Stadtbevölkerung mit den Studierenden.

Am 17. Mai gingen über eine Million Pekinger Bürger auf die Straße. Als zwei Tage später das Kriegsrecht verhängt wurde, ignorierten es Hunderttausende einfach. Die Menschen blockierten die Straßen, sodass die Armee, die noch keinen Schießbefehl bekommen hatte, nicht ins Zentrum vordringen konnte. Studierende und Jugendliche aus ganz China kamen nach Peking, um den Platz zu verteidigen. In vielen Provinzhauptstädten brachen Unruhen gegen den Ausnahmezustand aus.

Erst zwei Wochen später beschloss die Regierung das Blutbad. Über zweitausend Menschen wurden auf den Straßen Pekings getötet, der Platz des Himmlischen Friedens am 4. Juni geräumt. Die meisten Toten gab es jedoch nicht auf dem Platz selbst, sondern auf den großen Zufahrtsstraßen. Durch eine landesweite Repressionswelle gelang es der KP, die "Ordnung" wiederherzustellen und die Bewegung zu zerschlagen.


Widerstand der Arbeiter

Die Arbeiterproteste unterschieden sich ihrem Charakter nach von den Studentenprotesten. Die Gründung der "Autonomen Arbeiterföderation" - der ersten unabhängigen Gewerkschaft - erfolgte spontan, ihre Gründer lernten sich erst auf dem Platz selbst kennen. Im Gegensatz zu den Studierenden, die überwiegend auf der Seite von Zhao Ziyang standen, versuchten die Arbeiter nicht, in die Fraktionskämpfe in der Partei einzugreifen. Ihre Rhetorik war mehr vom egalitären und antibürokratischen Vokabular der Kulturrevolution geprägt als von westlichen Demokratiediskursen. Ihre Reden und Flugblätter stellen konkrete soziale und politische Probleme in den Vordergrund, ein moralischer Zugang war ihnen fremd. Im Mittelpunkt ihrer Sorgen standen die negativen sozialen Folgen der Reformpolitik: die Preissteigerungen und die Privilegien der Parteibürokraten.

Han Dongfang war damals einer der Gründer der Autonomen Arbeiterföderation. Im Film The gates of heavenly peace (Cameron Hinton, Richard Gordon, USA 1995) berichtet er, dass sie in den Betrieben nicht verankert war, die Basis der Organisation war der Tiananmen-Platz. Dort waren das Quartier und die Lautsprecher der Föderation aufgestellt. Aus Angst vor einer proletarischen Beteiligung an der Bewegung verbot die Stadtregierung von Peking zwischen dem 25. April und 5. Mai allen Arbeitern, ihren Arbeitsplatz zu verlassen. Zwar nahmen auch Tausende Arbeiter aus den Staatsbetrieben an der Bewegung teil, es gelang jedoch nicht, mächtige Streiks in den Betrieben von Peking zu organisieren. Das lag nicht zuletzt daran, dass sich die Studentenvertreter lange gegen die Idee des Generalstreiks wandten und sich "ihre" Bewegung nicht aus der Hand nehmen lassen wollten. In vielen chinesischen Städten wie Wuhan und Shanghai fanden trotzdem Streiks statt.

In den Flugblättern der Föderation wurden nicht nur Arbeiterinteressen formuliert, sondern auch die Einheit von "Arbeitern, Studenten und Kaufleuten" beschworen. Die KPCh hatte diese Einheit im Kampf gegen den japanischen Imperialismus im Zweiten Weltkrieg propagiert. Auch die Arbeiter waren nicht frei von Vorurteilen. Die unabhängige Gewerkschaft machte die Zugehörigkeit zu einem Staatsbetrieb in Peking zur Aufnahmebedingung und schloss damit die Wanderarbeiter indirekt aus. Die Kämpfe vom Tiananmen waren gespalten entlang der Hierarchien, die die KP geschaffen hatte. Die Föderation legte sogar Mitgliederlisten an und versuchte mehrfach, ihre Organisation offiziell anzumelden. Diese Fakten sind wichtig, da die Regierung später fälschlicherweise behauptete, nur Wanderarbeiter und Rowdys von außerhalb hätten die Bewegung unterstützt, nicht aber die Kernbelegschaften der Staatsbetriebe.

Jackie Sheehan (Chinese Workers: A New History, London 1998) weist darauf hin, dass besonders der Widerstand in den Tagen nach dem Massaker von den Arbeitern getragen wurde. Nachdem sich am frühen Morgen des 4. Juni die Nachricht vom Blutbad verbreitete, flammten in einer Reihe von Städten neue Arbeiterproteste auf, die ganze Industriezonen kurzzeitig zum Stillstand brachten. Außerdem sank die industrielle Produktion von Mai bis Juni. Erst nach Monaten gelang es der chinesischen Regierung, durch Verhaftungen und Repression die Betriebe wieder unter Kontrolle zu bringen. Nach der Zerschlagung der Autonomen Arbeiterföderation hat sich bis heute keine neue überregionale und unabhängige Gewerkschaft gebildet.


Nichtstaatliche Gemeinschaft

Zu sehr idealisieren sollte man die Bewegung von 1989 allerdings nicht. Die Studenten als traten als Vertreter einer Elite auf und wandten sich als moralisches Gewissen Chinas im Namen des Volkes an die Regierung. Schon auf dem Platz brachen heftige Fraktionskämpfe unter ihnen aus. Die Studenten versuchten erst gar nicht, sich mit der entstehenden Arbeiterbewegung zu verbünden, und lehnten einen Aufruf zum Generalstreik lange ab. Dass es der Regierung nicht gelang, Teile der Bewegung durch Kompromisse einzubinden, lag nicht zuletzt an der Spaltung in der Parteiführung selbst.

Im Unterschied zu den heutigen Protesten, die in der Regel lokal begrenzt sind, wandten sich 1989 jedoch Millionen Menschen aus unterschiedlichen Klassen gegen die bewaffnete Staatsmacht, indem sie den verhängten Ausnahmezustand einfach ignorierten. Während der Besetzung des Tiananmen im Herzen der Hauptstadt entstand für sechs Wochen eine neue Form von nichtstaatlicher Gemeinschaft. Das Gedenken an die Bewegung von Tiananmen birgt daher trotz alledem utopisches Potenzial, das über die tagespolitischen Einzelkämpfe in China und anderswo hinausgeht.


Der Autor Anton Pam ist Redaktionsmitglied der Grundrisse.
www.grundrisse.net


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8, 24.Jg., Juli/Aug. 2009, Seite 18
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2009