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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1360: Haiti - Unter dem Deckmantel der Hilfe kommt die militärische Besatzung


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 2 - Februar 2010
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

HAITI
Unter dem Deckmantel der Hilfe kommt die militärische Besatzung

Von Angela Klein


Tagelang kam die Hilfe nicht an: wegen der verstopften Straßen, der mangelnden Infrastruktur, des Zusammenbruchs einer eh höchst fragilen öffentlichen Ordnung. Aber auch weil die US-Armee, die ab Donnerstag nacht den Flughafen besetzte, erst darauf bedacht waren, die militärische Kontrolle über die Hauptstadt zu übernehmen, bevor sie daran ging, Flugzeuge mit Hilfsgütern zu entladen. Französischen, italienischen, brasilianischen Transportmaschinen, sogar den Ärzten ohne Grenzen, verwehrten die US-Truppen die Landeerlaubnis in Port-au-Prince. Frankreich hat wegen der Einnahme des Flughafens offiziell bei der US-Botschaft in Paris protestiert und von der UNO eine Klärung des Sachverhalts verlangt. Die Staatschefs von Nikaragua und Venzuela haben von einer militärischen Besetzung Haitis im Windschatten der Katastrophe gesprochen.

Vier wertvolle Tage gingen auf diese Weise verloren, vier Tage ohne Wasser und Nahrung. Aber wehe, es macht sich ein Hungernder über einen eingestürzten Supermarkt her: Gewalt! Aufruhr! Bewaffnete Banden! Im Dunkeln der Nacht! Die ganze Kloake rassistischer Vorurteile gegen Haitianer kam wieder hoch: Voodoo, Sex & Crime. "Das Land hat eine beeindruckende Geschichte der politischen Gewalt", schrieb ein Korrespondent der BBC für internationale Entwicklung. Im US-Fernsehen. Auch deutsche Massenmedien betonten mehr die Gefahr, die von jugendlichen Banden und möglichem Aufruhr ausgehe, statt zu zeigen, wie Haitianer sich selbst versuchen zu helfen.

Für die Gerüchte fanden sich nur wenig Belege: Ein Fall wurde beschrieben, wo bewaffnete Jugendliche Menschen bedrohten, die sich aus einem eingestürzten Supermarkt bedienten und ihnen die Ware abnehmen wollten. Unweit davon saß ein GI im Auto - und schlief. Soviel zur Mission der nach Haiti entsandten US-Soldaten, Supermärkte zu bewachen!

Der Regionalkoordinator der Welthungerhilfe, Michael Kühn, vermittelte ein ganz anderes Bild: "Die Sicherheitslage ist erstaunlich ruhig, Plünderungen kommen nur sehr vereinzelt vor. Die Menschen sind immer noch traumatisiert. Trotzdem wollen die Haitianer mit anpacken und tun alles, um sich und andere aus dem Elend zu befreien."

Sollten die Gewaltfantasien den Zweck haben, die internationale Öffentlichkeit psychologisch auf die Ankunft der US-Soldaten vorzubereiten? Und was tun 20.000 GIs in Haiti? Eigeninitiative von unten wollen die USA am wenigsten. Keine selbstorganisierte Struktur sollte das Machtvakuum füllen, das mit dem Einsturz der Regierung samt ihres Palastes verbunden war. Die gesamte US-Operation wird vom USSOUTHCOM geleitet, dem Kommando, das für alle militärischen US-Operationen in Zentral- und Südamerika verantwortlich ist.

Damit es nicht nach Besetzung aussieht, wurden auch die Schleusen der Hilfe geöffnet: Allein die Welthungerhilfe verteilt jeden Tag 2 Millionen Essensrationen, eine beeindruckende Leistung. Doch so richtig uneigennützig oder gar gepaart mit einem Umdenken in Bezug auf die Verschuldungs- und Privatisierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte scheint diese Hilfe, wenigstens von offizieller amerikanischer Seite, nicht.

Wie humanitär ist die Erklärung der US-Regierung, "illegal" eingereiste Haitianer würden vorerst nicht ausgewiesen, aber es dürften auf keinen Fall welche in die USA einreisen - wer es doch versucht, kommt nach Guantánamo!? Kanada, Frankreich, Großbritannien haben ähnliche "Angebote" gemacht. Ist es nicht beschämend, dass es das arme Senegal ist, das die Haitianer einlädt zu kommen? Sie würden auf jeden Fall Wohnung und Nahrung finden, kämen viele von ihnen, würde ihnen sogar ein eigenes Territorium zur Verfügung gestellt. Der Senegal ist fast doppelt so dicht besiedelt wie die USA und seine Einwohner im Durchschnitt 50mal so arm. Auf welcher Seite steht die Menschlichkeit?

Kuba hilft mit 400 Ärzten, ebensoviele Haitianer werden in Kuba zu Ärzten ausgebildet, Venezuela schickt Treibstoff - alles ohne Gegenleistung. Der IWF aber stellt seine 100-Millionen-Hilfe nur als zinslosen Kredit zur Verfügung, die Summe muss also zurückgezahlt werden. Wovon? Die Weltbank will den Schuldendienst 5 Jahre aussetzen und evtl. eine Teilschuld von 38 Mio. Dollar erlassen. Warum nicht alles? Warum wird die "Schuld" Haitis nicht sofort und bedingungslos gestrichen? Sie ist illegitim: Seit 200 Jahren zahlt Haiti dafür, dass es sich als erste Kolonie unabhängig gemacht und seine Sklaven freigelassen hat. Das war 1804 und hat das nachrevolutionäre Frankreich so erbost, dass es ihm eine Entschädigung in Höhe von umgerechnet 21 Mrd. Dollar (nach heutigem Wert) aufgebrummt hat. Das war die Grundlage für den Gang des von Kolumbus einst als blühendes Paradies gerühmten Landes in Schuldknechtschaft, Armut, Entwaldung und Zerstörung der Landwirtschaft. Muss Frankreich nicht wenigstens diese 21 Mrd. an Haiti zurückzahlen?

Die US-Hilfe kommt auf Gewehrläufen. Selbstverständlich folgt sie dem Hilferuf des haitianischen Regierungschefs. Der arme Preval kann gar nicht anders, erdrückt wie er wird von so brüderlicher Umarmung. Breshnew lässt grüßen. Sie kommt auf Gewehrläufen, weil die USA nicht dulden, dass sich an der Macht der zehn reichen Familien, am Einfluss der großen Konzerne und an der Kontrolle der USA über ihren Hinterhof etwas ändert.

Und weil das eine einzigartige Gelegenheit ist, zwischen Kuba und Venezuela, direkt gegenüber der Guantánamo-Base, einen neuen US-Militärstützpunkt zu errichten. Dafür muss Haiti ein armes, abhängiges Land bleiben.



KURZ & HAITI

In den letzten 28 Jahren wurde Haiti 65 mal von Naturkatastrophen heimgesucht. Dabei wurde immer wieder großzügige Hilfe versprochen.

- So 2004 nach dem Hurrikan Jeanne. Die Versprechen wurden nicht erfüllt; ein Großteil der Gelder floss in die Kassen großer Konzerne oder örtlicher Potentaten. Sie finanzierten damit Projekte, die ihren Interessen entgegenkamen, nicht den Interessen der Bevölkerungsmehrheit. 2006 wurde Haiti in die HIPIC-Initiative aufgenommen, die die Schulden der ärmsten Länder der Welt tilgen sollte. Dabei wurde mit der einen Hand ein Teil der Schuld gestrichen, zugleich bot die andere neue, zu bedienende Kredite an. Haitis Schulden sind dadurch gestiegen: 2006 betrugen sie 1,337 Mrd. US-Dollar, im Juni 2009 waren es 1,884 Mrd.

- Alle Schuldenpolitik der G8 oder G20 ist darauf ausgerichtet, die Schuld bezahlbar zu machen, nicht sie zu streichen. Die Daumenschraube soll bleiben, damit das Land weiter abhängig bleibt. Das war auch der Sinn der Entscheidung des Pariser Clubs 2009, Haiti 1,2 Mrd. Dollar seiner Außenschuld zu erlassen, damit die Restschuld "tragbar" werde.

- Rund 80% der Außenschuld Haitis wird zu gleichen Teilen von der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank gehalten. Sie drücken Haiti Strukturanpassungsprogramme auf, die vor allem seine Landwirtschaft, seine Infrastruktur und den Binnenmarkt zerstört haben. Der Reisanbau kollabierte, weil das Land sich für Reisimporte zu Dumpingpreisen aus den USA öffnen musste. Als 2008 internationale Anleger mit Nahrungsmitteln spekulierten und die Preise sprunghaft stiegen, brach eine Hungerrevolte aus. Großkonzerne greifen jetzt nach großen Grundstücken, um Kaffee- und Mangoplantagen für den Export zu errichten oder Erze abzubauen. Das Land, das einst 75% seines Zuckers und 35% seines Weizens nach Europa exportierte, hängt heute zu 54% von Nahrungsmittelimporten ab.

- Die öffentliche Verwaltung ist weitgehend privatisiert. Als einer der letzten Staatsbetriebe steht die Telekommunikationsgesellschaft Teleco zur Privatisierung an - daran ist seit langem auch die deutsche Bundesregierung interessiert. Opfer des von den Neoliberalen gepriesenen "Rückzugs des Staates" wurde auch die Bauaufsicht: Ihre Abwesenheit ermöglichte die Verwendung minderwertigen Materials bei einer Bauweise, die in einem Erdbebengebiet nicht zulässig ist: Betonplatten und Ziegelsteine. Die Häuser klappten zusammen wie Kartenhäuser und begruben viele unter sich.

- Plünderung braucht Diktatur. Die Diktatur des Clans Duvalier (1957-1986) wurde mit Hilfe der USA installiert. In diesen 30 Jahren stieg die Außenschuld Haitis um das 17,5fache. Als "Baby Doc" 1986 durch einen Volksaufstand gestürzt wurde, betrug die Außenschuld 750 Mio. Dollar. Mit 900 Mio. Dollar rettete sich Duvalier in die Schweiz; das geraubte Vermögen liegt dort auf Nummernkonten der UBS. Haiti klagt vor einem Schweizer Gericht auf Herausgabe des Vermögens; die UBS stellt dafür bisher unerfüllbare Bedingungen.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 2, 25. Jg., Februar 2010, Seite 2
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Februar 2010