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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1367: Klassenkampf oder kapitalistischer Normalzustand?


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 2 - Februar 2010
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Welcher Weg aus der Krise:
Klassenkampf oder kapitalistischer Normalzustand?


Warum treibt die Krise die Arbeiter nicht auf die Barrikaden? Haben die Recht, die sagen, die Arbeiterklasse hat sich in Individuen aufgelöst? Oder passiert gerade etwas ganz anderes?


Grenzenloses Profitstreben und Konkurrenzkampf untereinander haben die Kapitalisten dieser Welt in die Krise gestürzt. Das Kapital besann sich schnell auf das gemeinsame Klasseninteresse und reagierte entschlossen und undogmatisch: Kreditfinanzierte Staatsausgaben und Notenbankkredite zu Ramschpreisen, zuvor als unverantwortliche Manipulation des privaten Geschäftslebens gegeißelt, wurden für einen kurzen Moment als notwendige Maßnahmen zur Kriseneindämmung gefordert. Inzwischen stehen die Weichen wieder auf kapitalistischem Alltag: Im Namen von Inflationsbekämpfung und Wettbewerbsfähigkeit werden wieder Staatshaushalte und Belegschaften abgebaut, Löhne gesenkt.

Zu vergleichbarem Klassenhandeln konnten sich jene, die die Krise nicht verursacht haben, ihre Folgen aber ausbaden sollen, nicht durchringen. Demonstrationen und Diskussionsveranstaltungen haben keine durchsetzungsfähige Arbeiterbewegung ausgelöst. Die real existierende Arbeiterklasse misstraut nicht nur den Appellen, Gewerkschafts- und Parteiführungen zu vertrauen, sondern auch den Aufrufen zu spontaner Massenaktion.

Vor allem aber misstraut sie sich selbst. Dafür gibt es Gründe: An die Tage, als Klasse und Bewegung noch in einem Atemzug genannt werden konnten, können sich nur noch die ganz Alten erinnern. Die Vorstellungen, die im kollektiven Gedächtnis an die Jüngeren weitergegeben bzw. durch Schule und Medien geschaffen wurden, umfassen eine Mischung aus wenig attraktivem Parteisoldatentum und vergeblichem Heroismus.

In der Vergangenheit entstanden Arbeiter- und andere soziale Bewegungen, wenn der Wunsch nach sozialen und politischen Veränderungen mit Organisationsformen einhergingen, in denen praktische Fortschritte und langfristige Visionen wenigstens in Ansätzen erkennbar waren. Krisen haben die Entstehung solcher Bewegungen mitunter gefördert, manchmal aber auch verzögert oder bereits bestehenden Bewegungen sogar ein Ende bereitet.

Die Große Depression des 19. Jahrhunderts bspw., von Wirtschaftshistorikern zumeist auf die Jahre 1873-96 datiert, führte zunächst zu Passivität unter den Arbeitern. Erst zu Beginn der 1890er Jahre, als sich die Depression ihrem Ende zuneigte, kam es zu einem Aufschwung von Arbeiterparteien, Gewerkschaften und vermehrter Streikaktivität. Die Große Depression des 20. Jahrhunderts (1929-41) führte erst Mitte der 30er Jahre zu Massenstreiks in den USA und Volksfrontregierungen in Frankreich und Spanien. Sie führte aber auch zur Naziherrschaft in Deutschland und zu einem Aufschwung faschistischer Bewegungen in vielen anderen Ländern.

Dagegen ging der Stagflationskrise der 70er und frühen 80er Jahre (1974 bis 1982) eine Welle von Arbeitskämpfen voraus, die in der Hochkonjunktur der späten 60er Jahre begonnen hatte und sich mit Ach und Krach bis Mitte der 80er hinzog.

Der britische Bergarbeiterstreik 1984/85 markiert das Ende dieses Kampfzyklus in der westlichen Welt. Einige Länder des Südens, insbesondere Südafrika und Südkorea, erlebten in der zweiten Hälfte der 80er Jahre heftige Arbeiterkämpfe, die allerdings nichts mit Wirtschaftskrisen zu tun hatten, sondern den Kampf um die Demokratisierung dieser Länder begleiteten.

Lässt sich aus diesen wenigen Stichpunkten zu Krisen und Klassenkampf etwas lernen? Vielleicht sogar etwas, das zur Strategiedebatte arbeiterbewegter Linker beitragen könnte?

Liberale und libertäre Linke haben auf die erste Frage eine klare Antwort: Das Zeitalter der großen Maschinerie und der hierdurch "zusammengeschweißten" Arbeiterklasse habe mit der Industrialisierung Kontinentaleuropas und Nordamerikas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnen und sei rund 100 Jahre später von Individualisierung und Weltmarktintegration abgelöst worden. Die zweite Frage stelle sich nach der Auflösung der Arbeiterklasse in - je nach Sprechweise - Individuen, Wissensarbeiter oder Multituden nicht mehr.

Gegen diese Popsoziologie haben unbelehrbare Arbeiterbewegungsmarxisten eingewandt, dass es einen Weltmarkt auch zu Hochzeiten der Arbeiterbewegung gegeben hat, die Industrialisierung von Teilen des Südens zur Herausbildung neuer Arbeiterklassen geführt hat, und dass die Arbeitsverhältnisse im Norden, auch wenn sie nicht dem Bild manueller Fabrikarbeit entsprechen, weiterhin die Identifizierung von Arbeiterklassen erlauben.

Diese Einwände sind theoretisch richtig, aber praktisch bedeutungslos. Erst wenn Arbeiter sich als Teil einer Klasse und im Gegensatz zur Kapitalistenklasse begreifen und als solche handeln, lässt sich sinnvoll von Klassenkampf reden. Dass es dazu in den vergangenen Jahrzehnten nur sporadisch gekommen ist, kann als Hinweis auf die Antiquiertheit von Klassenexistenz und -kampf verstanden werden. Muss aber nicht. Das Auf und Ab von Kapitalakkumulation und Klassenkampf seit dem späten 19. Jahrhundert kann auch als Moment von Herausbildung, Zerfall und Neubildung von Arbeiterklassen verstanden werden.

Zunächst einmal ist daran zu erinnern, dass der Aufschwung der Arbeiterbewegung gegen Ende der Großen Depression des 19. Jahrhunderts eine bis in die Anfänge der Industrialisierung in Europa und Nordamerika zurückreichende Vorgeschichte hat. Eine Vielzahl kultureller, religiöser und an traditionelle Lebensweisen angelehnter Gemeinschaften wie auch lokaler Rebellionen waren der Nährboden, aus dem im Laufe von Jahrzehnten Arbeiterorganisationen und Arbeiterkultur erwachsen sind, die es den Arbeitern erlaubten, als Klasse zu handeln. Ohne diesen Nährboden wäre der Aufschwung der Arbeiterbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts nicht möglich gewesen.

Die Parteien, Gewerkschaften, Genossenschaften, Sport- und Kulturvereine, in denen diese Arbeiterbewegung organisiert waren, stellten nicht nur eine Gegenwelt zur bürgerlichen Gesellschaft dar, sie wurde auch als Keimform sozialistischer Zukunftsgesellschaften betrachtet. Dem lag die Idee zugrunde, dass Facharbeiter als produktive Arbeiter nicht nur Wert schaffen - was im Sozialismus keine Rolle mehr spielen sollte -, sondern auch besser als Kapitalisten oder Manager zur Organisation des Arbeitsprozesses qualifiziert wären, weshalb sie gut ohne diese auskommen könnten. Rätedemokratie oder eine mit den Kapitalisten kooperierende Wirtschaftsdemokratie war ihr Ziel. Gemessen an der großen Zahl von Landarbeitern, Handlangern in Industrie und Handwerk sowie Dienstboten in (klein-)bürgerlichen Haushalten, waren die Facharbeiter nur eine Minderheit. Sie konnten sich jedoch als nachahmenswerten Idealtyp darstellen.

Nach drei Jahrzehnten Weltkriege, Revolutionen und Wirtschaftskrise setzte sich mit dem Sozialstaat eine gegenüber den ursprünglichen Konzeptionen von Bernstein bis Hilferding abgespeckte Version von Wirtschaftsdemokratie durch. In dieser waren, grob gesprochen, Investitionsentscheidungen dem Kapital und die Arbeitsverwaltung den Vertretern von Sozialdemokratie und Gewerkschaften vorbehalten.

Der Vorteil dieser Arbeitsteilung für die Kapitalisten bestand darin, dass Facharbeiter zunehmend durch Maschinen und unqualifizierte Arbeiter ersetzt werden konnten. Welche Folgen dies für die Verhandlungsmacht der organisierten Arbeiterschaft und, infolge der Kopplung von Sozialleistungen an die Lohnentwicklung, für die Lohnabhängigen insgesamt haben würde, war bei dem hohen Wirtschaftswachstum und den vertikal integrierten Konzernen der Nachkriegszeit noch kaum absehbar. Wachstum hielt die Nachfrage nach Arbeitskraft aufrecht, und in den integrierten Konzernen konnten Industriegewerkschaften über die gesamte Lohnskala hinweg Lohnerhöhungen durchsetzen.

Wirtschaftskrisen und die Wiederkehr offener Arbeitslosigkeit in den 70er Jahren machten jedoch schlagartig deutlich, in welch hohem Maße die Kapitalisten mittlerweile auf ihre Facharbeiter verzichten und unqualifizierte Arbeitskraft bedarfsgerecht beschaffen konnten. Die auf besonderen Qualifikationen beruhende Macht der Arbeiter im Produktionsprozess ist seither durch weitere Rationalisierungswellen, durch die Erschließung einer globalen Reservearmee und die Auslagerung einzelner Fertigungsschritte noch mehr ausgehöhlt worden. Dieser Rückgang der "Produktionsmacht" wurde von einem Rückbau des Sozialstaats und einer damit einhergehenden Abnahme der "Marktmacht" der Arbeiter begleitet.

Als Klasse sind die Arbeiter in die Fabriken der Großkonzerne und in die Sozialsstaatsverwaltung marschiert. Dort lernten sie jedoch nicht das Handwerk der Arbeiterselbstverwaltung, sondern wurden zu anpassungsfähigen Produktionsfaktoren umerzogen. Wiederkehrende Wirtschaftskrisen lehrten sie die Anpassung an wechselnde Marktlagen. Die um das Ideal der Facharbeit gebildete Arbeiterklasse wurde tatsächlich vom neoliberalen Kapitalismus seit den 80er Jahren weitgehend aufgelöst, oder vielmehr: gezielt desorientiert und desorganisiert.

Die Arbeiter der Welt sind wieder ungefähr dort angelangt, wo ihre Vorfahren Mitte des 19. Jahrhunderts waren: in einer Phase verschiedenster, aber selten in Klassenbegriffen ausgedrückter Gemeinschaften, lokaler Kämpfe, umgeben von der Einheitsideologie des Kapitals und einer Kakophonie oppositioneller Ideen. Einen Vorteil haben sie jedoch gegenüber den Altvorderen: Hier und da haben sich die Erfahrungen von über einem Jahrhundert Arbeiterbewegung erhalten, ein ideeller Rohstoff, der zur Herausbildung neuer Bewegungen beitragen kann.

Dass diese sich grundlegend von früheren Formen der Arbeiterorganisation und -kultur unterscheidet, kann man, bei allem notwendigen Respekt für Mut, Einsatz und Kreativität vorangegangener Generationen, angesichts erlittener Niederlagen und Fehlentwicklungen nur hoffen.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 2, 25. Jg., Februar 2010, Seite 15
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2010