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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1795: 3 Jahre Arabische Revolution - Die Islamisten, Gewinner oder Verlierer?


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 1 - Januar 2014
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

3 Jahre Arabische Revolution[*]
Die Islamisten: Gewinner oder Verlierer?

von Bernard Schmid



Haben islamistische Parteien und Bewegungen von den Umbrüchen der vergangenen drei Jahre in den arabischsprachigen Ländern profitiert? Auf diese Frage muss man mit der Gegenfrage antworten: Welche Islamisten sind gemeint?


Das Spektrum des politischen Islam ist weit aufgefächert. Es umfasst Kräfte, die eine "sozialarbeiterische" Tätigkeit mit einem mehr oder minder eifrigen Missionsdrang verbinden; bewaffnet agierende Organisationen; eher wirtschaftsliberal ausgerichtete Parteien, die eine klassische, wahlorientierte Politik betreiben und mit einer (relativ autoritären) Variante der europäischen Christdemokratie vergleichbar sind; oder auch pietistische Anhänger des "Vorbilds der guten Tat und des moralisch korrekten Lebens". Politisch decken sie ein Spektrum ab, das nach europäischen Begriffen von "Mitte-Rechts"-Positionen bis hinzu autoritären Konzepten reichen, die man der Einfachheit halber rechts-extrem nennen könnte.

Allen ist jedoch gemeinsam, dass sie erstens mit dem Anspruch auftreten, mit ihrer Ideologie aus dem eigenen kulturellen Fundus zu schöpfen und nicht von importierten Ideen der früheren Kolonialmächte wie Marxismus, Liberalismus oder Materialismus inspiriert zu sein. Zum zweiten eint sie, dass sie von den alten Regimen mal blutig verfolgt, mal toleriert und eingedämmt wurden, sich jedoch stets als Widersacher, Gegner und oftmals Opfer dieser autoritären Regime profilieren konnten. Zum dritten wiesen sie (u. a. aus den genannten Ursachen) eine reale gesellschaftliche Verankerung auf, als die alten Regime in Tunesien und Ägypten Anfang 2011 zusammenbrachen.


Der Märtyrerbonus

Einen vierten Grund für ihre relativ starke Verankerung und Popularität bildet die Tatsache, dass bis dahin eine ausgeprägte plurale, öffentliche Debatte über den politischen Islam kaum stattfinden konnte: Sie wurde durch autoritäre Regime, faktische Ein-Partei-Staaten, die Ordnung des Schulwesens und andere Faktoren be- und mitunter verhindert.

Das hat die Islamisten gestärkt, die gleichzeitig vom "Märtyrerbonus" als Oppositionelle oder Verfolgte profitieren konnten: Sie traten mit der Behauptung auf, ihre Ideologie benötige keine Erklärung, weil ja ohnehin "alles im Koran steht". Diese Behauptung trifft natürlich nicht zu - Politik und Strategie der Parteien im 21. Jahrhundert ergeben sich eben nicht aus der Lektüre des Koran, und untereinander waren sich diese Bewegungen und Organisationen ja auch keineswegs einig. Scheinbar klang die Begründung aber stimmig und appellierte an einen vermeintlichen common sens.


An der Regierung

Dies sind die Ausgangsbedingungen, unter denen islamistische Parteien und Bewegungen in die neue Periode des politischen Pluralismus eingetreten sind. Unter diesen Bedingungen verwundert es nicht, dass sie aus den ersten tatsächlich freien und pluralistischen Wahlen als Gewinner hervorgehen konnten.

Auch in Marokko, wo das monarchische Regime unter dem Druck der Revolten in den arabischen Ländern im Laufe des Jahres 2011 zu Reformen und Schritten der Öffnung gezwungen wurde, ging die islamistisch orientierte "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (PJD) aus vorgezogenen Neuwahlen am 25. November 2011 als Wahlsiegerin hervor. Allerdings fiel ihr Triumph sehr relativ aus: Mit 26% der Stimmen wurde sie stärkste Kraft, konnte jedoch nicht allein regieren. In der Folgezeit ging sie ein scheinbar widersprüchliches Bündnis ein: eine Regierungskoalition mit der bürgerlich-nationalistischen Partei Istiqlal ("Unabhängigkeit") und mit der exkommunistischen, heute linksliberalen "Partei für Fortschritt und Sozialismus" (PPS), die trotz ihres Namens dem Marxismus definitiv abgeschworen hat.

Auch die tunesische Partei En-Nahdha ("Wiedergeburt") regierte nach ihrem Wahlerfolg im Oktober 2011 zusammen mit zwei Koalitionspartnern, der sozialdemokratischen Partei Ettakatol und dem bürgerlich-nationalistischen "Kongress für die Republik" (CPR). Die Lage war aber eine andere als in Marokko: Mit 41% der Parlamentssitze und gut 35% der abgegebenen Stimmen war und ist En-Nahdha ein sehr dominanter Koalitionspartner. Die beiden mitregierenden Parteien wurden im Laufe der Monate tendenziell marginalisiert.

Nochmals anders lag der Fall in Ägypten. Dort brachte das Wahlergebnis Ende 2011 den Muslimbrüdern eine rein islamistische Parlamentsmehrheit (sie erhielten gut 40% der Stimmen, die ebenfalls islamistischen Salafisten 26%). Sie konnten jedoch nie wirklich regieren, weil die Justiz die Parlamentswahlen im Frühsommer 2012 mit einem Federstrich für ungültig erklärte. In der Folgezeit rang der gewählte Staatspräsident Mohammed Mursi mit dem Justiz- und Militärapparat immer wieder um seine Wiedereinsetzung.


Negative Bilanz

Konnten die islamistischen Parteien die rund zwei Jahre, die sie in den drei genannten Ländern Ägypten, Tunesien und Marokko in Regierungspositionen verbrachten, für ihre Zwecke nutzen, etwa, um die Gesellschaft in ihrem Sinne umzukrempeln? Die Antwort darauf lautet: Überwiegend nein. In allen drei Ländern mussten die islamistischen Regierungsparteien erhebliche Terrainverluste hinnehmen. In Marokko platzte die Koalition im Juli 2013: Die bürgerlich-nationalistische Partei Istiqlal, die älteste politische Kraft in Marokko, verließ das Kabinett. In den darauffolgenden Wochen wurde eine neue Koalition gebildet, doch die nächste Regierung konnte erst am 10. Oktober nach langwierigen und zähen Verhandlungen vereidigt werden. In ihr ist nunmehr die "Thronpartei" RNI ("Sammlung der Unabhängigen") die zweitstärkste Kraft. Das ist eine jener Honoratiorenparteien, die sich für die nach wie vor starken feudalen Interessen und für den Bestand der Monarchie einsetzt, während die islamistische Partei PJD zwar die marokkanische Monarchie nicht in Frage stellt, jedoch versucht, Reformen zugunsten der Mittelschicht zu erreichen. Seitdem ist die Koalition in erster Linie zu Stillstand und Stagnation verdammt.

In Tunesien wurde die bisherige Regierungsspitze unter dem islamistischen Premierminister Ali Laarayedh am 14. Dezember 2013 durch einen neuen Übergangs-Premier abgelöst, den parteilosen bisherige Industrieminister Medhi Jomaa. Die islamistisch geführte Regierung hätte im Rahmen des sog. "Nationalen Dialogs", dessen Garanten die Gewerkschaft UGTT, der Unternehmerverband UTICA und die Anwaltskammer bilden, schon am 5. Oktober zurücktreten sollen. Den ganzen Sommer 2013 hindurch hatte es - nach dem zweiten politischen Mord an einem profilierten Gegner der Islamisten, dem linksnationalistischen Politiker und Anwalt Mohamed Brahmi, am 25. Juli - breite Protestdemonstrationen gegeben. Der Druck von der Straße sollte durch den "Nationalen Dialog" aufgefangen werden.

Wochen- und monatelang blieb jedoch ein Konsens zwischen den politischen Parteien und den genannten Vermittlergruppen aus, und auch nach dem endlich erfolgten Rücktritt des Premierministers von En-Nahdha sind sich die Parteien keineswegs wirklich einig geworden. Jomaa soll bis Ende Dezember 2013 (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe) eine Interimsregierung bilden, die den Weg zu Neuwahlen im Laufe des Jahres 2014 ebnet.


Absturz

Die dramatischste Niederlage mussten die Islamisten jedoch in Ägypten einstecken. Im Frühsommer 2013 hatte die Armeespitze beschlossen, die aufkeimende Massenprotestbewegung gegen die Mursi-Regierung - die sich aus unterschiedlichen Quellen, von enttäuschten Anhängern über säkular-nationalistische Kreise bis zur revolutionären Jugend von 2011, speiste - zunächst zu ermutigen und aktiv zu begleiten, sogar sie zu alimentieren und zu befeuern. Ab dem 30. Juni, dem ersten Jahrestag der Wahl Mursis, gab es eine echte Massenbewegung gegen den Präsidenten, doch waren es letztendlich die Militärs, die ihn am 3. Juli gefangennahmen.

Bei den ersten wirklich pluralistischen Wahlen hatten Muslimbrüder und Salafisten 2011 gemeinsam 67% der Parlamentssitze errungen. Ihre Stimmenzahl halbierte sich in absoluten Wählerstimmen bis zur Präsidentschaftswahl im Juni 2012, die Mursi erst in der Stichwahl und mit etwas weniger als 52% der abgegebenen Stimmen knapp gewann. Bis zum Referendum über Mursis Verfassungsentwurf im Dezember 2012, das die Muslimbrüder (bei erheblich gesunkener Wahlbeteiligung) formal ebenfalls gewannen, halbierte sich die für sie abgegebene absolute Zahl der Stimmen abermals.

Es hat also ganz real ein Ablösungsprozess von ihrer Politik "auf Massenebene" stattgefunden. Der blanke Hass, der heute mancherorts in der ägyptischen Gesellschaft gegen sie sichtbar wird, wurzelt zwar zum Teil in alten Vorbehalten - auch seitens der alten Eliten, die in den Islamisten schon immer "unzuverlässige Emporkömmlinge" erblickten -, aber eben zum Teil auch in der massiven Enttäuschung, die nun in wuterfüllte Abneigung umgeschlagen ist.

In allen drei Ländern ist die Regierungsbilanz der islamistischen Parteien also negativ: Auch viele ihrer bisherigen Anhänger mussten einsehen, dass auch die Islamisten, trotz "göttlicher Hilfe" über keinen Zauberstab zur Lösung der realen, weltlichen Probleme verfügen. Dies hat sie, um einen Begriff aus der deutschen politischen Diskussion der 1990er Jahre zu benutzen, in gewissem Sinne "entzaubert". Die brachiale Repression, die seit August 2013 in Ägypten herrscht, könnte jedoch dazu führen, dass die Muslimbrüder erneut als "Märtyrer" auftreten und die Erinnerung an die schlechte Regierungspartei, die sie zwischendurch in vielen Augen waren, verdrängen können.


[*] Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Die drei ersten der vier aufeinanderfolgenden Artikel von Bernard Schmid zu diesem Thema finden Sie im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → Infopool → Medien → Alternativ-Presse
SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1792: Die demokratischen Freiheiten
SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1793: Die Islamisten und der Westen
SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1794: Die Rolle Nordafrikas für die Migrationspolitik der EU

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 1, 29. Jg., Januar 2014, S. 16
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Januar 2014