Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1858: Belgien - Spektakulärer Wahlerfolg der PTB-GO! (Interview mit Daniel Tanuro)


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 8 - August/September 2014 Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Belgien: Spektakulärer Wahlerfolg der PTB-GO!
Gewerkschaft sucht neuen politischen Partner

Interview mit Daniel Tanuro(*) von Manuel Kellner



Zu den Parlamentswahlen und Europawahlen am 25. Mai 2014 trat die radikale Linke in Belgien mit einer Liste PTB-GO! (Gauche d'Ouverture, Linke der Öffnung) an. Die Liste wurde von den Organisationen PTB/PVDA, LCR/SAP (Sektion der IV. Internationale), PC (Parti Communiste) sowie Einzelpersonen gebildet und von Teilen der Gewerkschaftsbewegung, namentlich dem sozialistisch-sozialdemokratischen Gewerkschaftsdachverband FGTB von Charleroi - mit über hunderttausend Mitgliedern der zweitgrößte Regionalverband -, unterstützt. Insgesamt haben bei den verschiedenen, gleichzeitig anstehenden Wahlen 250.000 Menschen für die Liste PTB-GO! gestimmt. Für die SoZ sprach darüber Manuel Kellner mit Daniel Tanuro.


SOZ: Die PTB-GO! hat bei den Europawahlen und gleichzeitigen belgischen Wahlen beachtliche Ergebnisse erzielt. Ist das ein Durchbruch im Vergleich zu früheren Wahlergebnissen von Kräften links der Sozialdemokratie (PS) und der Grünen?

Tanuro: Seit der neoliberalen Wende Anfang der 80er Jahre bewegten sich die Wahlergebnisse solcher Gruppen zwischen 0,5% und 2%. Bei den Europawahlen von 1994 erzielten die Gauches Unies (Vereinigten Linken) 1,7% und die PTB 1%. Bei den landesweiten Wahlen 2010 schafften die PTB 2,1% im französischsprachigen Teil und die Fronts des Gauches (Front der Linken) 1,2%. Einen Sprung nach vorn brachten die Kommunalwahlen vom Oktober 2012, wo die PTB 47 (vorher: 15) Ratssitze eroberte und in einigen großen Städten und in Gemeinden mit hohem Arbeiteranteil in Flandern und Wallonien wie auch in Brüssel einen den etablierten Parteien vergleichbaren Stimmenanteil erhielt.

Der Durchbruch erfolgte am 25. Mai dieses Jahres, als gleichzeitig die Kandidaten für das Europaparlament, das Parlament der belgischen Föderation und die Regionalparlamente gewählt wurden. PTB-Mitglieder auf der Liste der PTB-GO! haben je zwei Mandate im landesweiten Parlament und im wallonischen Parlament und vier Mandate im Brüsseler Parlament erobert. Im flämischen Teil des Landes erzielte die PTB alleine teilweise gute Ergebnisse - etwa 8% in Antwerpen - verfehlte aber knapp die Eroberung eines Mandats.


SOZ: Wie erklärst du diesen doch in ziemlich kurzer Zeit erfolgten wahlpolitischen Aufschwung, mit dem Kräfte der radikalen Linken nun auch in Belgien in Parlamenten vertreten sind?

Tanuro: Die Sozialdemokratie hat lange Zeit ihre traditionelle Wählerschaft behalten können, sie dann in Flandern aber an rechtsextreme, später nationalistische Kräfte verloren, bis dahin, dass viele Leute sie (oder die Grünen) nur noch als kleineres Übel gegen rechts wählten. In Wallonien, wo PS und Grüne die Mehrheit haben, stellt sich die PS ebenfalls als Schutzwall gegen rechts, aber auch gegen die Flamen dar.

Dieser seit 30 Jahren eingefahrene Mechanismus bekam in der belgischen Staatskrise 2010, als das Land über 500 Tage ohne Regierung war, erste Risse. Der sozialdemokratische Premierminister Elio Dupont, der in Flandern keine Mehrheit hatte, betrieb eine besonders rabiate neoliberale Politik: Marginalisierung des Einflusses der Gewerkschaften, zwei Jahre Lohnstopp, 11 Milliarden Euro "Einsparungen" zulasten der Erwerbslosen, der Sozialhilfeempfänger und der öffentlichen Dienste. Ein Teil der sozialdemokratischen Wählerbasis hat ihm das übelgenommen und deshalb links gewählt.

Die Kampagne der PTB-GO!, ihr gewinnender Ton, die konkreten Forderungen, die Vermittlung grundlegender Werte der sozialen Gerechtigkeit, der Steuergerechtigkeit, der Solidarität kamen gut an. Und im französischsprachigen Teil des Landes kam der Eindruck hinzu, das Wahlbündnis habe einen offenen Charakter und die Zerstrittenheit der radikalen Linken könne überwunden werden; auch die offene Unterstützung der Liste durch einen bedeutenden Teil der Gewerkschaftsbewegung spielte eine Rolle.


SOZ: Die Bereitschaft der PTB, mit sehr viel kleineren Organisationen wie der LCR/SAP und der PC eine gemeinsame Liste zu bilden, wirkt erstaunlich. Hat das etwas mit der Initiative der FGTB von Charleroi zu tun?

Tanuro: Auf der 1. Mai-Kundgebung 2012 verurteilte die FGTB Charleroi öffentlich den neoliberalen Kurs der PS und rief zur Zusammenarbeit aller Kräfte auf, die bereit sind, eine antikapitalistische Alternative links von Sozialdemokratie und Grünen aufzubauen. Hier brach erstmals ein Teil der Gewerkschaftsbewegung mit dem "Nurgewerkschaftertum" und dem Lobbyismus und mischte sich in die Politik ein, verteidigte dabei aber zugleich die Unabhängigkeit der Gewerkschaften; zugleich fordert und praktiziert die FGTB Charleroi breite innergewerkschaftliche Demokratie.

Das blieb kein einmaliger "Ausrutscher", wie das manchmal bei Reden am 1. Mai der Fall ist. Die Führungsgremien der FGTB Charleroi haben zu dieser Frage zwei programmatische Dokumente diskutiert und verabschiedet und als Broschüren in mehreren 10.000 Exemplaren verbreitet. Die eine erklärt die Notwendigkeit eines politischen Verständnisses von Gewerkschaftsarbeit, die andere enthält ein antikapitalistisches Dringlichkeitsprogramm in zehn Punkten. Zusammen mit einer der christlichen Gewerkschaften hat die FGTB Charleroi dazu eine öffentliche Versammlung mit 400 Teilnehmenden aus sämtlichen Spektren der Linken organisiert. Außerdem hat sie alle Organisationen der radikalen Linken zu Beratungen eingeladen.

Alle radikal linken Kräfte waren dadurch herausgefordert. Ein paar linke Organisationen, die das ignoriert haben, sind bei den Wahlen - vorhersehbar - völlig gescheitert. Die LCR/SAP hat die Initiative der FGTB Charleroi von Anfang an enthusiastisch unterstützt. Wir wussten, dass die PTB angesichts ihrer Stärke eine entscheidende Rolle spielen musste und schlugen kein Organisationsbündnis vor, sondern eine Art Offene Liste. In der Praxis war die Durchführung für uns nicht ganz einfach, durchaus auch nicht für die PTB, obwohl sie bei weitem das größte Gewicht hatte. Aber im großen und ganzen ist die Sache gut gelaufen und ein erster Schritt zur Verwirklichung des Anliegens der FGTB Charleroi ist getan.


SOZ: Hatte die LCR/SAP die Möglichkeit, im Rahmen der gemeinsamen Wahlkampagne eigenes Material zu verteilen und eigene Akzente zu setzen? Was war euer spezifischer Beitrag?

Tanuro: Wir waren völlig frei, unsere eigene Kampagne mit unserem eigenen Programm durchzuführen und dazu aufzurufen, unsere eigenen Kandidaten zu wählen. Das haben wir überall gemacht, auch in Flandern, wo es keine PTB-GO!-Liste gab und wir Mitglieder auf den Listen der PTB aufstellen konnten.

Unser Profil war radikaler antikapitalistisch, feministisch, ökosozialistisch und internationalistisch als das der PTB, die zum Beispiel den feministischen Kampf unterbelichtet und dazu neigt, sich auf populäre Sofortforderungen zu beschränken. Wir haben Übergangsforderungen gestellt wie die 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, die entschädigungslose Enteignung und Vergesellschaftung der privaten Geschäftsbanken und Energiekonzerne und das Kopftuchverbot für muslimische Frauen bekämpft.

Gemessen an der geringen Zahl unserer Mitglieder konnten wir eine wichtige Rolle dabei spielen, dass die PTB-GO!-Liste zustande gekommen ist, und dass Persönlichkeiten mit Ausstrahlung und Gewerkschaftsaktive dafür gewonnen werden konnten, sie zu unterstützen. Auch zum wahlpolitischen Erfolg haben wir beigetragen, in einigen Wahlbezirken wie im Hainaut (Provinzhauptstadt: Mons) ist er uns zu verdanken. Höhepunkt unserer eigenen Kampagne war eine große öffentliche Veranstaltung in Brüssel mit Olivier Besancenot und dem Spitzenkandidaten der PTB für die Europawahlen sowie mit Kandidaten der PTB-GO!.


SOZ: Wie ist eure Bilanz?

Tanuro: Während der dreimonatigen Wahlkampagne war die LCR/SAP stärker in den Medien präsent als in den vorangegangenen zehn Jahren. Wir haben neue freundschaftliche Beziehungen mit PTB-Mitgliedern knüpfen können, aber wir wollen der PTB keine Mitglieder abwerben.

Nicht alle Linken waren mit unserer Orientierung auf ein Bündnis rund um die PTB einverstanden. Manche blieben skeptisch, andere waren richtig sauer. Da gibt es noch alte Wunden, deren Heilung einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Viele fanden unser Herangehen aber richtig. Eine führende Vertreterin der Gewerkschaftslinken hat sich auf unserer Webseite für die Möglichkeit bedankt, diesmal zugleich mit ihrem Herzen und ihrem Verstand wählen zu können. Das drückt ziemlich gut die Stimmung vieler Leute aus, die in der Wahlkampagne eng mit uns zusammengearbeitet haben.

Mit der realen Möglichkeit eines Wahlerfolgs konnten wir über die Ebene der Propaganda hinaus kommen und die Ebene des politischen und gesellschaftlichen Kampfes erreichen. Menschen, die wir vorher gar nicht kannten, haben danach kaum mit uns Kontakt aufgenommen; Dutzende, die mit uns zusammengearbeitet haben, wollen dies nun weiter tun, und einige konnten wir auch als Mitglieder gewinnen. Das Wichtigste ist aber die Vertiefung unserer Zusammenarbeit mit der Gewerkschaftslinken. Wir haben gezeigt, dass wir die Klasseninteressen der Lohnabhängigen und aller Unterdrückten über alles stellen, weshalb wir respektiert und geschätzt werden und man uns vertraut.

*) Daniel Tanuro ist führendes Mitglied der LCR/SAP und war andidat auf der Liste der PTB-GO!.


Kasten
 
WAS IST DIE PARTEI DER ARBEIT BELGIENS (PTB)?


Die PTB/PVDA (Parti du travail de Belgique/Partij van de Arbeid van België) ist aus einer sektiererischen und autoritär geführten maostalinistischen Organisation hervorgegangen, der TPO/AMADA (Alle Macht den Arbeitern), mit allem was dazu gehörte: Kampf gegen die Sowjetunion als "sozialimperialistischen Hauptfeind" und gegen Kuba als dessen "fünfte Kolonne", Rechtfertigung der Verbrechen des Stalin-Regimes, der Roten Khmer, von Kim Il-sung usw. Andererseits legte sie immer Wert auf "Massenarbeit", unter anderem baute sie "Volkskliniken" auf, in denen die Leute zum Kassentarif behandelt werden.
Anfang der 2000er, als die PTB trotz des Erfolgs einiger ihrer Kampagnen und ihrer beachtlichen sozialen Verankerung wahlpolitisch stagnierte, beschloss ihre Führung, das Profil zu ändern und die Partei weniger sektiererisch und "extremistisch" aufzustellen. Im ersten Anlauf klappte das nicht, die Liste "Resist" zusammen mit der Europäischen Arabischen Liga scheiterte bei den Wahlen 2003.
Nachdem der Gründer und langjährige Vorsitzende Ludo Martens schwer erkrankte, begann eine umfassende Diskussion, die auf einem Parteikongress 2008 eine wirkliche Neuorientierung brachte. Heute stehen bei der Arbeit der PTB sehr konkrete Sofortforderungen im Vordergrund, Offenheit in der Bündnispolitik, Unterstützung der Gewerkschaften - aber auch Verzicht auf Kritik an den Gewerkschaftsführungen, allzu große Zurückhaltung bei Themen, die als "unpopulär" betrachtet werden, wie Rassismus, sexuelle Orientierung und Identität, Einwanderung und Flüchtlinge - wenngleich die Partei dazu nicht schweigt und an entsprechenden Demos teilnimmt.
Heute hat die PTB einige tausend Mitglieder und einige hundert Kader, eine gute Medienpräsenz, eine solide Arbeit in Betrieben und Stadtvierteln und ein effizientes Büro für Untersuchungsarbeit. Für ihre Neuorientierung dürfte das Beispiel der Sozialistischen Partei (SP) der Niederlande eine Rolle gespielt haben. Obgleich sie sicherlich ziemlich hierarchisch organisiert ist, merkt man auch bei öffentlichen Versammlungen, dass es in der PTB lebendige kontroverse Diskussionen gibt. (D. T.)

*

Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 8/9, 29. Jg., Sept. 2014, Seite 17
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
Telefon: 0221/923 11 96, Telefax: 0221/923 11 97
E-Mail: redaktion@soz-verlag.de
Internet: www.sozonline.de
 
Die Soz erscheint monatlich und kostet 3,50 Euro.
SoZ-Probeabo: 3 Ausgaben für 10 Euro
Normalabo: 58 Euro
Sozialabo: 28 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2014