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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2156: Welcome United - Für eine Gesellschaft der Vielen


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6 · Juni 2017
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Welcome United - Für eine Gesellschaft der Vielen
Ein anderer Aufruf zur Bundestagswahl

von Violetta Bock


Unter dem Slogan "We'll come United - für das Recht auf soziale Rechte" ruft eine Vielzahl von antirassistischen, Flüchtlingsunterstützungsinitiativen und Geflüchtetenselbstorganisationen zu einer großen Mobilisierung vor der Bundestagswahl auf.

Einiges ist geschehen in den zwei Jahren seit dem (Spät-)Sommer der Migration - damals, als die europäischen Grenzen durchlässig wurden und Hunderttausende Geflüchtete dieses Zeitfenster nutzten, um u. a. nach Deutschland zu flüchten. Viele hundert Kilometer Grenzzaun sind seitdem quer durch Europa gezogen worden, Tausende sind seitdem im Mittelmeer ertrunken, und in Deutschland jagte eine massive Verschärfung des Asylrechts die nächste. Ein Europa der offenen Binnengrenzen ist fast wieder genauso eine Utopie wie vor der Unterzeichnung des Schengener Abkommens.

Doch ist dies in Hinblick auf die migrationspolitischen Umbrüche längst nicht das einzige, was sich in diesen knapp zwei Jahren verändert hat: Seit 2015 hat sich in Deutschland eine zivilgesellschaftliche Kraft formiert, die Unglaubliches leistet und deren alltagspolitische Energie einen utopischen Überschuss produziert, der in Zeiten erstarkender (neu)rechter Bewegungen gar nicht genug wertgeschätzt werden kann. Die Flüchtlingsunterstützerinnen und -unterstützer sind längst nicht mehr mit den Kleiderkammern beschäftigt, sondern schaffen auf lokaler Ebene ein politisches Gemeinwesen und erproben Formen nachbarschaftlicher Solidarität und Teilhabechancen. Sie formen die Vision einer "Gesellschaft der Vielen", einer Migrationsgesellschaft, die dies zu sein bejaht, dafür Verantwortung übernimmt und die damit verbundenen Konflikte produktiv bearbeitet. Wurden die neu gegründeten Willkommensinitiativen von deutschen Linken zu Beginn, oft nicht ganz zu Unrecht, als "rein karitativ" und "paternalistisch" gebrandmarkt, so lässt sich das von den mittlerweile konsolidierten Strukturen nicht mehr behaupten. In zahlreichen dieser Gruppen arbeiten Geflüchtete und Alteingesessene respektvoll und auf Augenhöhe zusammen; Flüchtlinge, die schon länger hier sind, übernehmen eine Mentorenrolle für diejenigen, die neu hinzugekommen sind.

Wir sind wütend

Eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 2016 ergab, dass 10,9 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in irgendeiner Form mindestens einmalig aktiv in der Flüchtlingshilfe tätig waren. Das übertrifft rein zahlenmäßig den Anteil an aktiven Vereinssportlern! Die Publikation "So schaffen wir das! Eine Zivilgesellschaft im Aufbruch" porträtiert beispielhaft 90 von etwa 15.000 neu entstanden Projekten der "ehrenamtlichen" Flüchtlingsarbeit und kommt zu dem Ergebnis, dass diese "eine Alternative (bilden) zu Panikreaktionen, die den einzigen Umgang mit Flucht in Kontrollen und Abschreckung sehen".

Tatsächlich hat die migrationsfeindliche Rechte spätestens seit 2016 weitgehend die politische Deutungshoheit übernommen. Politisch gut organisiert und von den Leitmedien massiv gehypt, hat sie es geschafft, dass wesentliche Teile ihrer migrationspolitischen Programmatik inzwischen von den regierenden Parteien übernommen und umgesetzt werden. Die Organisiertheit, Artikulationsfähigkeit und Wirkmächtigkeit der Rechten übertrifft zur Zeit bei weitem die von zivilgesellschaftlichen Flüchtlingsunterstützungsgruppen und -selbstorganisationen. Das hypnotisierte Starren der Politik auf die Wahlerfolge der AfD und der notorische, wenn auch sinnlose Versuch, sich vor allem an die 15-20 Prozent potenzielles Wählerspektrum der AfD zu wenden, ist ein fortwährender Schlag ins Gesicht derer, die mit Geflüchteten zu tun haben. Und natürlich auch ins Gesicht der Geflüchteten.

Und die werden langsam, aber deutlich sehr wütend. Wütend über Familiennachzüge, die nicht möglich sind. Wütend über das andauernde Sterben im Mittelmeer und das Verweigern sicherer Einreisewege. Wütend über menschenunwürdige Zustände in riesigen Lagern, aus denen die Menschen nicht mehr rauskommen. Wütend über Ablehnungsbescheide, über die Verweigerung von Schutz für diejenigen, die ihn definitiv benötigen. Wütend über Abschiebungen in den Kosovo und nach Afghanistan. Wütend, dass die Freundschaften und Beziehungen, die entstanden sind, durch behördliches Handeln auseinandergerissen werden.

Aus dieser Wut heraus, und weil sie das Unerträgliche nicht länger hinnehmen wollen, ruft eine ganze Reihe von Flüchtlingselbstorganisationen, Unterstützungsinitiativen, antirassistischen Gruppen und Einzelpersonen eine Woche vor der Bundestagswahl zu dezentralen Aktionstagen und einer großen Demonstration in Berlin auf.

Im Aufruf heißt es: "Wir werden uns nicht daran gewöhnen, was vor unseren Augen passiert und zur Normalität erklärt wird: Die Tage werden nicht besser. Das Leid und der Tod sind keine Ausnahme. Sie prägen unser Leben und den Alltag aller, die in diesem Land noch immer nicht dazugehören oder versuchen, hierherzukommen. Menschen werden beleidigt, bespuckt, geschlagen. Die Solidarität von Hunderttausenden wird mit Füßen getreten. Wir werden misstrauisch angeguckt. Sie bauen Zäune, um uns nicht hereinzulassen. Sie schieben uns ab, damit wir verschwinden. Aber wir sind da. Wir bleiben. Wir haben unsere Hoffnung. Wir haben unsere Wünsche. Wir leben. Welcome united."


Der Aufruf findet sich auf:
www.welcome-united.org/de/home/
Weitere Mitzeichnende sind willkommen!

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6, 32. Jg., Juni 2017, S. 11
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juli 2017

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