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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2452: Streikbewegung gegen die Rentenreform - Gespräch mit Bernard Schmid


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 12 · Dezember 2019
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Streikbewegung gegen die Rentenreform

Gespräch der SoZ mit Bernard Schmid über die Lage in Frankreich vor dem 5. Dezember


Das gesetzliche Renteneintrittsalter liegt in Frankreich bei 62 Jahren - allerdings nur, wenn man vorher 41,5 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hat. Das ist die Anzahl der Beitragsjahre, die für eine volle Rente erforderlich sind. Die Regelung gilt für Männer und Frauen gleichermaßen. Hat jemand nicht den gesamten Zeitraum in die Rentenkasse eingezahlt, kann er mit vollen Bezügen erst ab 67 in Rente gehen. Diese Regelung gilt ab 2023.
Neben dieser allgemeinen Regelung gibt es nach wie vor Sonderregelungen für rund 100 Berufsgruppen. So können etwa Lokführer, Beschäftigte des staatlichen Stromriesen EDF und andere staatliche Bedienstete vielfach schon ab 55 Jahren in Rente gehen. 42 verschiedene staatliche Pflichtversicherungen will Macron nun in einer einzigen Rentenkasse "bündeln", d.h. die Sonderregelungen abschaffen.
Eisenbahner, Pilotinnen, Ärzte, Krankenpflegerinnen und Anwälte haben gegen dieses Vorhaben bereits gestreikt. Für den 5.12. haben vier Gewerkschaftsverbände zu einem landesweiten Streik im öffentlichen Dienst aufgerufen. Die Regierung will die "Reform" im Sommer 2020, nach den Kommunalwahlen im März, beschließen.

Der Streik am 5.12. hat das Potenzial, die verschiedenen sozialen Bewegungen in Frankreich zu bündeln. Die SoZ sprach darüber mit Bernard Schmid.


SoZ: Von außen betrachtet bietet Frankreich ein Bild, als sei da mächtig Druck im Kessel. Es gab einen Eisenbahnerstreik, bei Protesten gegen ein Staudammprojekt kam ein Student zu Tode, es gab ein rechtsextremes Attentat auf eine Moschee, die Gelbwesten haben ihren 1. Jahrestag gefeiert und am 5. Dezember wollen vier Gewerkschaftsverbände den öffentlichen Dienst lahmlegen. Wie siehst du die Situation?

Bernard Schmid: Du hast bereits prägnant einige wichtige Ereignisse oder Weichenstellungen der letzten Monate benannt. Zu nennen wäre noch der Tod von Rémi Fraisse, einem 21 Jahre jungen Demonstrant, der gegen das im November dieses Jahres aufgegebene Staudammprojekt in Sivens demonstriert hatte. Er starb in der Nacht vom 25. zum 26. Oktober durch eine Polizeigranate, die ihn in den Rücken traf. Er war der erste Demonstrationstote in Frankreich seit dem berühmt gewordenen Todesfall von Malik Oussekine im Dezember 1986 in Paris.

Allerdings ist der Tod von Rémi Fraisse in der öffentlichen Meinung derzeit nicht sehr präsent, da man bei Polizeigewalt eher an jüngere Ereignisse denkt, vor allem an die massive polizeiliche Repression, die monatelang die Proteste der - politisch heterogenen - Gelbwestenbewegung begleitete. 1.000 Verletzte, darunter 25 durch Gummigeschosse verlorene Augen, 3.000 Verurteilungen (mit 1.000 Haftstrafen), eine Tote durch polizeiliches Handeln - am 1. Dezember 2018 wurde die 81jährige Anwohnerin Zineb Redouane in Marseille durch zwei Tränengasgranaten tödlich verletzt... Die Liste ist lang.

Der Jahrestag des Beginns der Gelbwestenproteste, den diese Bewegung am Wochenende des 16./17. November dieses Jahres beging, war jedoch kein wirklicher Mobilisierungserfolg, rund 30.000 Demonstrierende folgten in ganz Frankreich dem Aufruf. Es war ein Geburtstag, jedoch keine Wiedergeburt. Es stellt sich daher die Frage, ob sich die damals neuartige Dynamik inzwischen erschöpft hat.

Eine Delegiertenversammlung, die vor allem die progressiven Teile der uneinheitlich zusammengesetzten Protestbewegung repräsentiert, beschloss Anfang November in Montpellier, den gewerkschaftlichen Streik- und Aktionstag am 5. Dezember zu unterstützen. Dem widersetzen sich zwar manche Protagonisten innerhalb der

Gelbwestenbewegung wie Faouzi Melliou, die im Namen der Autonomie ihrer Bewegung auf einem deutlichen Abstand zu den Gewerkschaften beharrt. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass viele Protestierende in gelben Westen zu den Demonstrationen am 5. Dezember erscheinen werden. Bei diesen Demonstrationen geht es um die Rentenreform, also die xte rückschrittliche Reform des Rentensystems seit der Reform Balladur (1993), dem gescheiterten "Plan Juppé" (1995), sowie der Reformen von 2010 und 2014. Alle diese sog. Reformen, mit Ausnahme des durch massive Streiks im öffentlichen Dienst verhinderten "Plans Juppé", haben jeweils die Lebensarbeitszeit verlängert.


SoZ: Hat Macron noch eine Mehrheit hinter sich?

Bernard Schmid: Emmanuel Macron hatte noch nie eine Mehrheit hinter sich! Gewählt wurde er ja dank der Tatsache, dass er am 7. Mai 2017 als einziger Gegenkandidat zur Neofaschistin Marine Le Pen in die Stichwahl kam. Rund 60 Prozent seiner WählerInnen in der Stichwahl stimmten keineswegs für ihn, sondern hauptsächlich oder ausschließlich gegen Le Pen.

Das Macron-Lager würde im übrigen diese Situation gar zu gerne fortschreiben, und den Verweis auf die rechtsextreme Bedrohung - die natürlich real existiert - permanent als eigene politische Lebensversicherung einsetzen. Warum sonst facht Macron seit September dieses Jahres erneut die "Einwanderungsdebatte" an, lässt am 7. Oktober in der Nationalversammlung und am 9. Oktober im Senat eigens eine Aussprache zu diesem Thema organisieren, bevor seine Regierung dann am 6. November neue Restriktionen im Ausländer- und Asylrecht verkündet?

Die wichtigste innenpolitische Polarisierungslinie soll permanent aufs neue zwischen dem Regierungslager und der extremen Rechten platziert werden. Vor dem Hintergrund der jüngsten "Debatte" hat sicherlich auch Claude Sinké, der 84jährige Attentäter gegen die Moschee in Bayonne und frühere rechtsextreme Kandidat bei den Bezirksparlamentswahlen 2015, seinen Tatentschluss gefasst.

Ansonsten zeigen die Umfragen in den letzten Monaten permanent ein Stimmungsbild mit etwa einem Drittel Zufriedenen und zwei Dritteln Unzufriedenen mit Emmanuel Macrons Amtsführung. Diese Proportion ist im wesentlichen seit Beginn seiner Präsidentschaft stabil geblieben - mit Ausnahme einiger weniger Wochen "Gnadenfrist" ganz zu Anfang seiner Amtszeit.

Nur im Dezember 2018 war ein starker Ausschlag nach unten zu verzeichnen, im Zuge der "Gelbwestenkrise" fiel die Quote der sich "zufrieden" Äußernden auf nur noch rund 20 Prozent. Danach kletterte ihr Anteil bis im Frühjahr 2019 wieder auf rund 30 Prozent.

Dabei saugt das Macron-Lager vor allem das Stimmenpotenzial der konservativen Opposition auf, also der von den Mandaten in den beiden Parlamentskammern her (wohl nicht mehr vom gesellschaftlichen Einfluss her) stärksten Oppositionspartei Les Républicains (LR). 2017 hatte Macron noch von der Ablehnung der beiden herkömmlichen Establishmentparteien, Sozialdemokratie und Konservative, profitiert. Nunmehr hat ein bedeutender Teil des zuletzt genannten Lagers sich ihm jedoch angeschlossen und mit der Macron-Mehrheit einen Block geschmiedet - das ergibt eine parlamentarische, aber keine gesellschaftliche Mehrheit.


SoZ: Seit Monaten gibt es Bemühungen, die Bewegung der Gelbwesten und die Mobilisierungen der Gewerkschaften zusammenzuführen. Welche Erfolge konnten hier erzielt werden?

Bernard Schmid: Wie erwähnt hat die "Versammlung der Versammlungen" der Gelbwesten (eine Konferenz von Delegierten der Basisgruppen, die vierte ihrer Art nach denen von Commercy im Januar, in Saint-Nazaire Anfang April sowie in Montceau-les-Mines Ende Juni) Anfang November in Montpellier beschlossen, den Streiktag am 5. Dezember zu untersützen. Schon früher hat es eine gemeinsame Mobilisierung zu einem Streiktag am 5. Februar dieses Jahres gegeben, zu dem die CGT die Initiative ergriffen hatten, um nach den Protesten der Gelbwesten - auf die Macron am 10. Dezember 2018 mit einem Milliardenpaket reagiert hatte - Lohnerhöhungen und ein gerechteres Steuersystem für Lohnabhängige zu fordern. Tatsächlich waren die Demonstrationszüge im Februar etwa in Paris gelb, orange (die Farbe der gewerkschaftlichen Neonjacken) und rot - wie die Fahnen der CGT - gesprenkelt.

Eine Minderheit der Gelbwesten lehnt die Gewerkschaften jedoch als "Teil des Establishments" ab. Unter den Gelbwesten befinden sich Lohnabhängige, Erwerbslose, RentnerInnen ebenso wie Kleinunternehmer und zornige Mittelständler - es gibt also neben politischen auch soziale Unterschiede in ihren Reihen.


SoZ: Zeichnen sich Ansätze zur Bildung von Basisstrukturen ab, die nicht mehr nur Teilprobleme aufs Korn nehmen, sondern Vorstellungen für eine gemeinsame zentrale politische Mobilisierung entwickeln?

Bernard Schmid: Das wird vielerorts versucht, das ist die Aufgabe von klassenkämpferischen Linken in allen sozialen Bewegungen! 1995 ist dies im Zusammenhang mit der damaligen Streikbewegung ganz gut gelungen, und auch 2006 im Kampf um die Verteidigung des Kündigungsschutzes. Seitdem erheblich weniger. Aber der Dezember 2019 könnte einen neuen Einschnitt mit sich bringen.


SoZ: Wie wird der 5.12. vorbereitet? Könnte er zum Kristallisationspunkt für den Unmut in der Gesellschaft werden?

Bernard Schmid: Ja, das könnte er tatsächlich! Das Regierungslager zeigt sich auch beunruhigt über die möglichen Folgen des 5. Dezember. Derzeit läuft es auf rohen Eiern, was Ankündigungen zur Rentenreform betrifft. Mal erklärt die Regierung, die Reform werde ab 2020 für die abhängig Beschäftigten - mit den üblichen Übergangsregelungen für die nächsten Jahre - in Kraft treten. Dann wieder sagt Premierminister Edouard Philippe, man könne daran denken, alle bis 1963 geborenen Jahrgänge aus der Reform auszuklammern. Dann wiederum wird öffentlich angekündigt, es könnten nur Lohnabhängige betroffen sein, die ab jetzt überhaupt in ein Arbeitsverhältnis treten - die also in dreißig bis vierzig Jahren Rente beziehen.

Die Regierung will die Lage wohl beruhigen, um die Proteste zu besänftigen, tatsächlich scheint sie jedoch reale Sorgen vor einer Ausweitung der Proteste zu haben. Aufgerufen wird ja zu einem unbefristeten Streik, mit Schwerpunkt in den Verkehrsbetrieben, über dessen Fortführung die Streikenden an der Basis alle 24 Stunden in Versammlungen entscheiden. Diese Form des Streiks (grève reconductible) wird von den Regierenden am meisten gefürchtet.


SoZ: Welche Rolle spielt der Rassemblement National (RN) in dieser Situation? Versucht er, auf die Bewegungen Einfluss zu nehmen?

Bernard Schmid: Das versucht er tatsächlich immer. Obwohl die neofaschistische Partei in ihrem Kern gewerkschaftsfeindlich ist, gibt es mittlerweile einen demagogischen Aufruf von Marine Le Pen zur Unterstützung der Proteste am 5. Dezember. Die CGT jedenfalls weist ihn jedoch zurück.

Was die Gelbwesten betrifft, so hat sich die organisierte extreme Rechte mittlerweile (außer auf örtlicher Ebene) eindeutig aus der aktiven Protestbewegung zurückzogen. Aus ihrer Sicht wurde es zu unübersichtlich, zu unordentlich, zu gewalttätig, zu viel mit Linken durchmischt usw.

Überdies haben es die organisierten Rechten nicht geschafft, die Gelbwesten als solch zu einer Antieinwanderungsbewegung umzuformen, was sie vor allem vor dem Hintergrund der Debatten um den "Pakt für Migrantenrechte" angestrebt hatten, den die meisten europäischen Regierungen am 10. Dezember 2018 in Marrakesch unter der Ägide der UNO unterzeichneten.

Nun stellt sich der RN außerhalb der verbliebenen Gelbwestenbewegung - und stattdessen im wahlpolitischen Raum - auf, pappt sich aber das Etikett der (vormaligen, angeblichen oder z.T. auch tatsächlichen) Teilnahme seiner Mitglieder an dem heterogenen Protest an, um sich zum "wahren Erben der Anliegen der ursprünglichen Protestierer" aufzuschwingen. Die jetzt Protestierenden unterstützt er nicht.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 12, 34. Jg., Dezember 2019, S. 5
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Januar 2020

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