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STREIFZÜGE/047: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 74, Herbst 2018


Streifzüge Nummer 74, Herbst 2018
Magazinierte Transformationslust

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde


INHALTSVERZEICHNIS

Franz Schandl: Einlauf

Peter Klein: Fakten, Fakten, Fakten - und nichts dahinter?

Franz Schandl: Hüter des Habens
Beiträge zur Zerlegung einer spezifischen Allgemeinheit

Marianne Gronemeyer: Haben, als hätte man nicht
Das Abseits als wirtlicher Ort

Nikolaus Dimmel: Am Ende des Metabolismus
Über die irre Himmelfahrt des Kapitalozäns

Lukas Hengl: Nichts haben und nichts sein

Karl Kollmann: Bleibt dann wohl nur das "Haben"

Franz Schandl: Ding und Bedingung.
Gehypte Bücher haben oft eines gemeinsam: Sie geben mehr an als her

Peter Samol: Robo-Recruiting

Simon Sutterlütti und Stefan Meretz: Kategoriale Utopietheorie

Franz Schandl: Optimierung und Verwertung

Hermann Engster: Vorschule der Dialektik

Lorenz Glatz: Eine Menge Frust für ein Quäntchen Lust.
Zum Lehren, Lernen und Arbeiten in einer Zeit des Niedergangs

Kolumnen
Immaterial World: Stefan Meretz
Dead Men Working: Maria Wölflingseder

Rubrik 2000 abwärts
Franz Schandl (F.S.)
Maria Wölflingseder (M.Wö.)

Rezension
Franz Schandl (F.S.) zu: Alfred J. Noll: John Locke und das Eigentum
Peter Samol (P.S.) zu: Julia von Lucadou: Die Hochhausspringerin

Petra Ziegler: Auslauf

Vorschau
N° 75 | Frühling 2019: Antipolitik
N° 76 | Sommer 2019: Lärm
N° 77 | Herbst 2019: Europa

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Einlauf

von Franz Schandl

Die Ideologie des Habens gleicht einem Kanon. Alle singen ihn. Nach den Jahrhunderten von Herrschaft, insbesondere kapitalistischer Hegemonie, ist das Haben geradezu eingefleischter Ausdruck des Seins, des Selbstseins und des Selbstbewusstseins. Das Heft zum Haben, das nun vorliegt, setzt jedenfalls ein Kontra zur Forderung aller Lager, also gegen den klassenübergreifenden Konsens, der da lautet, auch und noch: Wir wollen mehr haben!

Wir haben schon genug, soviel uns auch abgeht. Einerseits mag es ja als ein besonderer Luxus erscheinen, über das Haben schlechthin zu diskutieren, wo doch so viele Menschen fast nichts haben. Andererseits macht gerade dieses Haben, das wir da haben, das Leben kaputt. Mehr Autos, mehr Handys, mehr Fernreisen, mehr Müll. Das Haben betreibt schon des Längeren einen unseligen Komparativ der Vernichtung. Und es wird dabei immer destruktiver. Gerade weil die Welt an diesem Dreck erstickt, muss es gesagt werden.

Der Charakter der Gesellschaft bildet den Charakter der Gesellschafter. Ist dieser Grundsatz einmal in Frage gestellt, sprechen wir von einer fundamentalen Krise der Gesellschaft. Nur in Krisenzeiten wird das Prinzip porös, ja prekär. Aufgabe der Streifzüge ist es, solches Bewusstsein zu antizipieren und zu magazinieren. Magazinierte Transformationslust nennt sich dieses Unding. Als Aufstachler vom Dienst mühen wir uns schon Jahrzehnte.

Wir sind übrigens eine der wenigen Ausnahmen von der Regel. Wie das? Kann man nicht von uns auch genug haben? Nein! - Indes, solange der Kapitalismus fortwest, ist diesem unserem Nein-Sein doch noch das notwendige Haben zuzufügen. Doch, doch! Das erwarten wir inständig vom Publikum unserer Zeitschrift und unserer neuen Homepage. Ansonsten wünschen wir eine anregende Lektüre und einen guten Rutsch ins neue Jahr!

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Fakten, Fakten, Fakten - und nichts dahinter?
Der demokratische Mainstream und die Verschwörungstheorien

von Peter Klein

Seit Urzeiten ist den Menschen bewusst, dass die mit den fünf Sinnen zu erfassenden Phänomene, die ihnen in ihrer jeweiligen Lebenswelt begegnen, nicht das Ganze der Wirklichkeit sind, mit der sie zu rechnen haben. Jenseits der sichtbaren Welt gibt es eine unsichtbare Welt, die nur indirekt und mit einem gewissen Aufwand an Denken zu erschließen ist.

Aufklärung und Religion

Solange sich das Leben im überschaubaren Kreis von Sippe und Stamm abspielte und auch geographisch einen entsprechend geringen Umfang hatte, war der Platz, der dem unsichtbaren Jenseits zur Verfügung stand, entsprechend groß - und das Denken, das noch wenig Gelegenheit gehabt hatte, sich in größeren Zusammenhängen zu bewegen und eigene Kategorien dafür auszubilden, füllte ihn mit Kräften und Mechanismen, die geheimnisvoll waren und sich auf unvorhersehbare Weise ins tägliche Leben mischten.

In ihrem Aussehen glichen diese Kräfte aber den Gestalten der bekannten Welt. So sind etwa die ägyptischen Götter, die zu besänftigen und mit allerlei Opfern und Ritualen freundlich zu stimmen waren, ein ziemlich getreues Abbild der entlang des Nils anzutreffenden Fauna, wobei Apis, der heilige Stier von Memphis, als Fruchtbarkeitsgott eine wichtige Rolle spielte. Moses musste, um seinen unsichtbaren Gott durchzusetzen, die Anhänger des "Goldenen Kalbes" niedermachen, und auch die "kuhäugige Hera" erinnert an das Produktionsmittel, das bei den frühen viehzüchtenden Stämmen von zentraler Bedeutung war und den Nimbus des Heiligen besaß.

Die großen Reiche der Antike, insbesondere das römische, das eine Masse von lokalen Gottheiten eingemeindete, bedeuteten einen gewaltigen Schub in Richtung "Jenseits überhaupt", dem dann auch im Denken das entsprechende Abstraktionsvermögen folgte. Gleichwohl musste etwa der christliche Monotheismus, der eine alle Menschen umfassende individualistische Ethik vertrat, erhebliche Abstriche von dem in der Philosophie bereits erreichten Begriffsvermögen machen, um dem real existierenden "Alle" zugänglich zu sein. Die hochfliegenden Ideen mussten in Geschichten, Bilder und Gleichnisse gekleidet werden, um bei ihren Adressaten ankommen zu können. Und die vielen Heiligen, die der katholischen Menschheit in den Sorgen und Nöten des Alltags bis heute zur Seite stehen, lassen darauf schließen, dass das "ägyptische Level" des Abstraktionsvermögens im "gemeinen Verstande" noch durchaus präsent ist. Von den siebzig Jungfrauen, die auf den im Kampf gefallenen Dschihadisten warten, gar nicht zu reden.

Wie schwierig es in den vormodernen Zeiten auch für die des Lesens und Schreibens kundigen "Intellektuellen" war, die verschiedenen Abstraktionsebenen auseinanderzuhalten, zeigt Hegel am Beispiel eines spanischen Bischofs, den die Frage umtrieb, ob eine Kirchenmaus, die an einer geweihten Oblate geknabbert hat, nun ihrerseits als geweiht und heilig anzusehen sei (Geschichte der Philosophie II, S. 538). Das Wort "heilig", das auf eine Wirklichkeitsebene hindeutet, die für das betreffende Gemeinwesen als ganzes konstitutiv ist, auf etwas also, dem auch die Reichen und Mächtigen unterworfen sind, wird hier empiristisch verwendet, wie die Eigenschaft eines handgreiflichen Gegenstandes, der etwa rot angestrichen und fünf Kilo schwer ist. Kalauer des gleichen Kalibers, ob etwa Gott, anscheinend ein Muskelmann und Jahrmarktzauberer, einen Stein schaffen könne, so schwer, dass er ihn selbst nicht zu heben vermag, produzierte die Scholastik in großer Menge. Immerhin wurde so, wie der Allesbegreifer Hegel anerkennend feststellte, das zergliedernde bzw. analytische Denken vorangebracht, der Bezug dieses Denkens auf die Erfahrungswelt - wie viele Engel passen auf eine Nadelspitze? - blieb aber phantastisch.

Mit dieser Phantasterei Schluss zu machen, war das dringende Anliegen der Auf klärungsphilosophen, die ja bekanntlich die Gräuel der Religionskriege und der Hexenprozesse zu verarbeiten hatten. Unschädlichmachen der Transzendenz hieß die Devise, und dies geschah im 17. und 18. Jahrhundert dadurch, dass man Gott entweder sehr weit nach oben hievte, sodass er zu einer Art Hintergrundrauschen herabgedimmt wurde und jedenfalls im Diesseits nichts mehr zu tun hatte (Deismus), oder man erklärte das Jenseits gänzlich zur unerwünschten bzw. überflüssigen Kategorie. Die Empiristen (Locke, Condorcet) behaupteten, dass auch die Allgemeinbegriffe in der Erfahrungswelt wurzeln, und die Religion, wie sie das unwissende, an Wunder und wundertätige Reliquien glaubende Volk sogar in Frankreich (das seine Protestanten vertrieben hatte) noch praktizierte, wurde der Verachtung des aufgeklärten Bürgers anheimgegeben.

Ziemlich genau diese Haltung begegnet uns auch heute wieder anlässlich jener Verschwörungstheorien, die, im Zusammenhang mit den aktuellen Krisensymptomen stehend, speziell in den Kreisen des sogenannten Populismus grassieren. Die Kommentare der Mainstream-Medien, die sich des Phänomens annehmen, klingen durchwegs herablassend bis arrogant. Und in Anbetracht des gebotenen Inhalts, wonach etwa Frau Merkel vorhat, die deutsche Bevölkerung auszutauschen oder irgendwelchen, womöglich jüdischen, Finsterlingen in den USA zu Diensten ist, die mit der Destabilisierung des Nahen Ostens und der damit ausgelösten Fluchtbewegung auf die Destabilisierung des ökonomischen Konkurrenten Europa zielen, mag dieser Tonfall verständlich sein. Die "ägyptischen Götter" haben in den bürgerlichen Zeiten offenbar gelernt, strategisch zu denken, sie sind dazu fähig, langfristig angelegte Pläne zu verfolgen, was der Kapitalismus, auf den kurzfristigen Erfolg von lauter privaten Akteuren festgelegt, ja leider nicht kann.

Was aber haben die forschen Verteidiger der Aufklärung sonst noch anzubieten? Außer der Häme über die allzu schlichten Erklärungsbedürfnisse des "dummen Volkes"? Nicht allzu viel, will mir scheinen, wenn ich den im Juni 2018 auf ZEIT ONLINE erschienenen Artikel zum Thema "Verschwörungstheorien" als ein für das Genre typisches Beispiel nehmen darf.

Unter dem Titel "Verschwörungstheorien: Das geheime Dahinter" wird dort der Eindruck erweckt, als sei das Fragen nach dem "geheimen Dahinter", also nach den tieferliegenden Ursachen für die gegenwärtige Weltlage mit ihren zig Millionen Flüchtlingen schon per se eine Albernheit, über die der aufgeklärte Mensch nur den Kopf schütteln könne. Der Autor "überführt" die Verschwörungstheoretiker, ein "metaphysisches" Glaubensbedürfnis zu bedienen, er spottet über Oskar Lafontaine, der von einer "unsichtbaren Regierung" gesprochen habe, "die in Wirklichkeit die Geschicke dieser Welt bestimmt", und landet folgerichtig bei der Religion: "Die Metaphysik der Verschwörungstheorie ist umgekehrte Religiosität." Womit er offensichtlich glaubt, für sein kritisches Vorhaben das Möglichste getan zu haben. Wer aber den Stein gegen die Metaphysik erhebt, ohne der Wahnsinnslogik des Kapitalismus zu gedenken, die sich gegen die elementarsten menschlichen Bedürfnisse sperrt, sofern deren Befriedigung kein "Wachstum", nämlich der ins "Menschenmaterial" zu investierenden Geldsummen, verheißt, sitzt schon längst in eben diesem Glashaus der Metaphysik - er soll nur fortfahren mit dem Steinewerfen.

Die bürgerliche Metaphysik erscheint im Gegenüber von Subjekt und Objekt

Der Abwehrreflex gegen die Religion, der bei den Verteidigern der Auf klärung so überaus leicht ausgelöst wird, wenn sie es mit den genannten Verschwörungstheorien zu tun bekommen, ist ein spätes Echo des 18. Jahrhunderts. Er zeigt, dass die weitere theoretische Entwicklung ein Geheimnis für sie geblieben ist. Die hat nämlich im deutschen Idealismus zu der Entdeckung geführt, dass die moralischen und Rechtsvorstellungen des Bürgers, insbesondere die auf die persönliche Freiheit bezogenen, die sich dann auch in den entsprechenden Institutionen, letztlich im modernen Rechtsstaat niedergeschlagen haben, ebenso als Metaphysik zu betrachten sind wie die religiösen Ideen. Ebenso wie die von allen konkreten Lebensumständen abstrahierende Freiheit der Person kommt auch die komplementär sich dazu verhaltende Kategorie des allgemeinen Gesetzes aus einer Sphäre, die mit den Sinnen nicht zu erfassen ist. Und Kategorien, die schon als solche zu wirken fähig sind, nicht nur unabhängig von unseren sinnlichen oder physiologisch zu konstatierenden Bedürfnissen, sondern ihnen sogar entgegen gerichtet, darf man wohl der Metaphysik zurechnen.

Ob ich nun bereit bin, für Gott zu sterben oder für das Vaterland oder für die Freiheit und die "westlichen Werte" - das Menschenopfer, das schon der biblische Abraham seinem Gott darzubringen bereit war, findet hier wie dort statt, und es hat in allen diesen Fällen die gleiche metaphysische Grundlage: eine das Ganze des betreffenden Gemeinwesens repräsentierende Abstraktion, die, als eigenständige und gleichsam von außen kommende Macht vorgestellt, den Menschen die Regeln ihres Zusammenlebens vorschreibt.

Der kategorische Imperativ Kants, der die Allgemeinheit rein als solche auf den Thron der gesellschaftlichen Ordnung hebt, stellt nur die letzte oder höchste Stufe dieses Denkens dar, das die Allgemeinbegriffe wie selbständige Wesen behandelt, die aus sich heraus wirksam sind. In aller Unschuld wird hier die Wahrheit ausgeplaudert, dass die Abstraktion als solche, von jedem Inhalt gereinigt (und für jeden beliebigen offen), die bürgerliche Gesellschaft zu regieren berufen ist.

In diesem Sinne konnte der philosophische Idealismus mit den ins Jenseits der Sinne projizierten Phantasiegestalten der Volksreligion großzügiger umgehen, als es die in schroffer Abwehr gegen die Metaphysik ("Priestertrug") erstarrten Empiristen und Sensualisten der Aufklärung konnten. Kant und Hegel sahen in den verschiedenen Entwicklungsstadien der Religion Denkversuche, die, indem sie für Gott immer weiter reichende, immer umfassendere Ausdrücke fanden, sozusagen in die "richtige Richtung" zielten, eben in die der "Allgemeinheit überhaupt".

Bei Hegel mündet die Dechiffrierung Gottes als reine für sich seiende Abstraktion denn auch in der Formulierung: "Gott ist also das Allgemeine abstrakt genommen ..." (Geschichte der Philosophie III, S. 323 f.). Und was Kant über den Alltagsverstand schreibt, klingt schon fast freundlich: dieser ahne, dass "Ich" nicht nur als ein Ensemble empirischer, sinnlich wahrnehmbarer Eigenschaften aufzufassen sei, sondern dass es, davon abgesehen, auch eine nicht-empirische Bedeutung habe und als der für das moralische Gesetz (die Allgemeinheit) empfängliche Ausgangspunkt des freien Willens auch noch einer anderen, jenseits der Sinne wirkenden "intellektuellen Welt" angehöre: "Dergleichen Schluss" (auf die "intellektuelle Welt") ist, so heißt es in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", "vermutlich ... auch im gemeinsten Verstande anzutreffen, der, wie bekannt, sehr geneigt ist, hinter den Gegenständen der Sinne noch immer etwas Unsichtbares, für sich selbst Tätiges, zu erwarten, es aber wiederum dadurch verdirbt, dass er dieses Unsichtbare sich bald wiederum versinnlicht, d. i. zum Gegenstande der Anschauung machen will, und dadurch also nicht um einen Grad klüger wird" (Grundlegung..., S. 87).

Die Metaphysik, als "reine Form der Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt" verstanden, hört nicht auf, eine verselbständigte Abstraktion zu ein, aber das "intelligible Ich", das nur den vom allgemeinen Gesetz her kommenden Imperativ als verpflichtend anerkennt, ist es nicht minder. Indem ich den Standpunkt der individuellen Freiheit beziehe, der jeden anderswoher kommenden Zwang als unmoralisch oder unrechtmäßig ablehnt, bin ich selbst zum Bestandteil jener Metaphysik geworden.

Für den bürgerlichen Menschen, der sich (als ein empirisch-sinnliches Dasein) nicht hinlänglich von dem der Metaphysik zugehörigen Ich zu unterscheiden vermag, brechen mit deren Durchsetzung die harten Zeiten der Selbst-Verantwortung, der Selbst-Disziplin und der Selbst-Vergewaltigung an. Da diese Metaphysik rein apriorisch funktioniert, sich also bereits im Ausgangspunkt meiner Entschlüsse befindet und zu einer Sache des Standpunktes geworden ist, fehlt ihr logischer Weise alles Bildhafte. Sie ist kein mir gegenüberstehender Glaubensinhalt mehr, der sich anbeten oder kniebeugend verehren ließe. Der Himmel der bürgerlichen Gesellschaft ist leer geworden. Und jene Schlauberger, die darauf bestehen, dass dort nichts zu sehen ist, können sich mit Nietzsche einbilden, die Religion hinter sich gelassen zu haben und ein metaphysikfreies Leben zu führen. Genau das ist der Fall bei unseren reichlich spät kommenden Auf klärern, die sich ihre Vorstellung von Religion nach dem Muster der vorkantschen Metaphysik und ihrer himmlischen Autoritäten gebildet haben.

Tatsächlich aber befindet sich die moderne Metaphysik bereits im Standpunkt des freien Individuums als solchem. Ihre Wirksamkeit ist, wie Kant schreibt, "rein praktisch" zu verstehen. Der Standpunkt der individuellen Freiheit gewinnt seine Festigkeit also nicht durch noch so innige Bekenntnisse zum "Menschenrecht" und zu den "westlichen Werten", sondern dadurch, dass er praktiziert und im täglichen Verhalten eingeübt wird. Und dafür, dass das geschieht, sorgt, wie Marx herausgefunden hat, die Warenform der Produktion, die der Kapitalismus in den vergangenen beiden Jahrhunderten derart verallgemeinert hat, dass die moderne Gesellschaft sich glattweg als "Marktgesellschaft" versteht. Deren Mitglieder, die sich täglich als Käufer und Verkäufer zu betätigen haben, betrachten die Subjektform des "freien Willens", die im Warenverkehr zur Anwendung kommt, als eine Grundausstattung des "Menschen überhaupt".

Die metaphysische Kategorie des Willens wird also, ähnlich wie das Heilige bei unserer Kirchenmaus, eigenschaftsförmig gedacht: als "eigener Wille". Der Unterschied liegt nur darin, dass die vormoderne Metaphysik immer nur einen begrenzten Bezirk des "Heiligen" oder ein bestimmtes Ritual für sich in Anspruch nahm. Die moderne bürgerliche Metaphysik dagegen besitzt, indem sie sich darauf beschränkt, den gesellschaftlichen Verkehr entlang der Abstraktion des vereinzelt gedachten "Menschen" zu formen bzw. zu strukturieren, die Fähigkeit, in alle Lebensbereiche einzudringen, sie besitzt die Tendenz, sich zu verallgemeinern.

Die "reine Form der Allgemeinheit", bei Kant noch eine theoretische Kategorie, die das Gewissen "vernünftiger Wesen" anleiten sollte, wurde in dem historischen Prozess, der in massenhaftem Umfang solche "Wesen", nämlich den abstrakten Ich-Standpunkt, erzeugte, sozusagen realiter allgemein, sie gelangte aus der theoretischen Sphäre in die gesellschaftliche Praxis, wurde von einem Sollen zum Sein. So erklärt sich die Objektivierung des gesamten institutionellen und psychologischen Apparats, der mit dem modernen Ich-Standpunkt verbunden ist. Denn was allgemein gilt, was allgemein praktiziert wird und von allgemeinen Gesetzen geregelt, besitzt eben den Status der objektiven Gegebenheit.

Der Clou bei aller Objektivität besteht aber darin, dass man sich - mit mehr oder weniger - zu ihr verhält. Wer den Menschen als vereinzeltes Individuum denkt, sieht dieses "Subjekt" immer schon der "Objektivität", mit der es "selbstverantwortlich" umzugehen hat, gegenüberstehen. Und das Gegenüber ist genau diejenige Position, die dem bürgerlichen Subjekt gemäß ist, die es braucht, um sich seinem praktischen Wesen entsprechend, also wollend, verhalten zu können. Das Gegenüber produziert gewissermaßen die ihm entsprechenden "Gegenstände". Der Privatwille beurteilt sie unter dem Aspekt des individuellen Vorteils oder Nutzens, der politische - ewig unterwegs zur "Verwirklichung" seines Ideals - unter dem des Allgemeinwohls oder der Allgemeinverträglichkeit. Von dem metaphysischen Apriori, das für beide Seiten gleichermaßen konstitutiv ist, ist dabei logischer Weise nicht die Rede: "Die Mieten" sollen bezahlbar und für die Bauindustrie ein Investitionsanreiz sein, "die Renten" werden angepasst oder gesichert oder angehoben, "die Arbeitsplätze" geschaffen oder abgebaut. Die grundlegenden Kategorien, allesamt auf Wert, Ware, Geld basierend, stehen fest - gestritten wird über den Umgang mit ihnen.

Die Krise des Kapitalismus ist auch die Krise des Kategorischen Imperativs

Dass sie die dem demokratischen Streit vorausgesetzte Konstellation hinterfragen, dass sie vor den "objektiven Gegebenheiten" nicht Halt machen, sondern etwas "dahinter" vermuten, das Handeln wirklicher Menschen, dürfte der eigentliche Skandal sein, den die Verschwörungstheoretiker bei unseren Aufklärern erregen. Als "Verschwörung" präsentiert, ist das "Dahinter" sicherlich ein dummer Gedanke, der in der bürgerlichen Subjektform des individuellen Willens befangen bleibt, aber immerhin ist es doch einer. Dagegen ist das, was unser Autor dem entgegensetzt, ein bloßer Abwehrreflex. Über "die Qual der Einzelvorgänge, der losen Enden, der sich überlagernden Bilder, die Last der Komplexität" hinaus, sollte seiner Meinung nach nicht gedacht werden: "Aleppo, Fassbomben, Staub, Balkan, Zelte, Bahnhof Budapest." Damit hat es sich. Wer bei diesen Bildern an etwas denkt, das über die unmittelbare Sichtbarkeit hinausreicht, etwa an die Profite der Waffenindustrie, die die Bürgerkriegsparteien dieser Welt mit dem nötigen "Stoff" versorgt, bekommt, so hat es den Anschein, alsogleich den Stempel der "Religiosität" aufgedrückt. Sehr komplex ist diese Art von Argumentation. Sie zeigt, dass die Religiosität hier lediglich dem Zweck der Verunglimpfung dient und im Sinne eines Ablenkungsmanövers gebraucht wird.

Abgelenkt aber wird von dem durchaus fruchtbaren Gedanken, dass die "objektiven Gegebenheiten" des demokratischen Kapitalismus tatsächlich auf dem Verhalten lebendiger Menschen beruhen. Diesen ganz und gar nicht religiösen Gedanken sollte man zunächst einmal anerkennen und ernst nehmen, bevor man gegen die Verschwörungstheoretiker zu Felde zieht, die ihn leider verhunzen und dadurch diskreditieren. Natürlich sind es nicht einige wenige Verschwörer, mit denen wir es zu tun haben, sondern viele Millionen Menschen, die, in den Geleisen der Ware-Geld-Bewegung sozialisiert, die Vorgaben des Kapitalismus als Selbstverständlichkeiten behandeln und also praktisch dafür sorgen, dass sie als "objektive Gegebenheiten" fungieren und Bestand haben.

Es sind viele Millionen Menschen - und doch nicht mehr genug. Die enorme Produktivität des Kapitalismus ist auch seine Krise. Sie hat dazu geführt, dass die Zahl der Menschen, die für den kapitalistischen Zweck der Wertverwertung eingesetzt werden, weltweit gesunken ist und immer noch weiter sinkt. Das System der Kapitalakkumulation expandiert nicht mehr, es schrumpft. Nur noch künstlich, durch das Fiat-Geld der großen Zentralbanken, wird der Schein des angeblich notwendigen "Wachstums" aufrechterhalten. Und das sieht man diesem Wachstum, das ohne die Mobilisierung der traditionellen bürgerlichen Tugenden wie Fleiß, Sparsamkeit und Gewissenhaftigkeit zustande kommt, auch an. Es landet vornehmlich im Finanzüberbau und in der Unterhaltungsindustrie, zu der die elektronischen Medien ebenso gehören wie der im Programm befindliche Profi-Sport. Auf der einen Seite Rentner, die in Abfalltonnen stochern, und prekäre Jobs im Niedriglohn-Sektor, auf der anderen Seite Fussballstars, für deren Transfer von einem Verein zum andern hunderte Millionen Euro bezahlt werden. Selbst in den Kernländern des Kapitalismus ist das sogenannte normale Arbeitsleben zur Angelegenheit einer Minderheit geworden, für die Masse der Erdbevölkerung aber besteht keine Aussicht, jemals auch nur in die Nähe der "Sozialversicherungspflicht" zu gelangen.

Für die Kategorie der Allgemeinheit ist diese Entwicklung natürlich fatal. Sie verliert gewissermaßen die empirische Unterfütterung durch die Vielen, die sich weder als Theoretiker noch als ideologische Bekenner, sondern lediglich aus Gewohnheit an die für das Ware-Geld-Indivuum vorgesehenen Strukturen gehalten haben. Von einem massenhaften Praktizieren und Einüben dieser rechtlichen und moralischen Strukturen, die den abstrakten Ich-Standpunkt auch mental in der Spur gehalten haben, kann keine Rede mehr sein. Die Objektivität setzende Kraft der Allgemeinheit ist verloren gegangen und sie wird wieder als das sichtbar, was sie seit jeher war: eine verselbständigte Abstraktion, die Nachfolgerin Gottes, die sich in der Obhut der demokratischen Priester befindet, deren moralischen Zeigefinger sie ausmacht.

Die Kategorie der Allgemeinheit wird jetzt wieder zur Sache des Wissens, und zwar des besseren, wenn auch vergeblichen Wissens. Die Hüter der demokratischen Werte informieren uns täglich darüber, was in Sachen Klima, Wohlstand, sozialer Frieden und menschlicher Anstand das objektiv Richtige wäre, was getan werden müsste und sollte und würde, wenn sich die Welt doch nur am Maßstab der bürgerlichen Moral, die ja auch das Eigentum zum Dienst an der Allgemeinheit verpflichtet, ausrichten wollte. Ein Karnevalszug der Konjunktive, der bei denen, die zwei bis drei Jobs ausüben müssen, um ihre Miete bezahlen zu können, vermutlich Heiterkeit auslösen würde - wenn sie denn die Herzensergüsse der edlen und guten Besserwisser zur Kenntnis nähmen.

Die Anwälte der (noch) herrschenen Metaphysik wissen natürlich nichts von den materiellen Voraussetzungen, die dem, was sie für objektiv richtig halten, zugrunde liegen. Aber sie spüren doch, dass dem rechtlichen und moralischen Überbau, der ihnen einst auf die gesamte Menschheit zu passen schien, zunehmend die Substanz abhanden kommt. Das Phänomen der "fake news" zeigt, dass das System von Kategorien, aus denen früher einmal die allgemeinverbindlichen "Fakten" gezimmert wurden, angeschlagen ist. Über die Bedeutung von Wörtern wie Fortschritt, Reform und Modernität, die Demokratie nicht zu vergessen, besteht längst keine Einigkeit mehr. Allgemein geworden ist die Verunsicherung. Sie erklärt den Ton der Hysterie, der sich in die Traktate mischt, mit denen die demokratischen Hüter der kapitalistischen Ordnung den sozialen Bodensatz des Systems belehren und zurechtweisen, sobald er politisch auffällig wird. Auch unser Autor ist bei aller Großspurigkeit, mit der er das rostige Schwert der Aufklärung schwingt, nicht frei von diesem Ton.

Und die Verunsicherung erklärt auch das Phänomen der Verschwörungstheorien selbst, vor allem seine Fähigkeit, sich mit einer erklecklichen Anzahl von oppositionell gestimmten Menschen zu verbinden. Da das gesamte Wissen der Menschheit und alles, was sich als Vernunft und Aufklärung präsentiert, dazu beigetragen hat, die Verwertungslogik des Kapitalismus über den Erdball zu verbreiten, erhebt jetzt, wo diese Bewegung erlischt, gewissermaßen die Unwissenheit ihr Haupt. Je mehr die Krise fortschreitet, desto mehr machen sich - als unmittelbar Betroffene - die Unterschichten als solche bemerkbar. Der moralisch inspirierte Diskurs des demokratischen Mainstreams verliert dadurch an Bedeutung und die Neigung zu Krawall und direkter Aktion schiebt sich in den Vordergrund. Hier ist dann jeder ideologische Knüppel recht, wenn er nur einfach zu handhaben ist und gegen den demokratischen Anstand verstößt.

So wie die praktizistische Linke seligen Angedenkens ein Faible für Stalin hatte, so taucht jetzt - in etwa der gleichen Funktion - das Gespenst Hitlers wieder auf. Die von ihren demokratischen Illusionen Enttäuschten drücken damit ihren Hass und ihre Verbitterung aus. In diesen Zusammenhang gehören meines Erachtens auch die Verschwörungstheorien. Um den Generalverdacht gegen die Demokratie zu erhärten, der ja sehr zu Recht besteht, kann kein Gerücht und kein ideologisches Versatzstück dumm und abseitig genug sein. Als Ausdruck des unvermittelten Neins zu einer Metaphysik, die zwischen finanziellen Interessen und materiellen Bedürfnissen nicht zu unterscheiden vermag (alles ist gleich objektiv), reicht dies, wie ich finde, erst einmal aus.

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2000 Zeichen abwärts

Glück haben

Glück ist ein unglückliches Substantiv. Eins kann glücklich sein oder es kann auch etwas glücken, aber Glück haben? Welches Konto soll es wahren und bewahren? Welche Versicherung schützen und beschützen? Glücklich zu sein ist besser als Glück zu haben. Ersteres ist Zustand, Letzteres Zufall. Der ereignet sich freilich öfters, während der Status als solcher zwar realisiert, aber nie konsolidiert werden kann. Er ist in seinem Dasein immer flüchtig. Derlei ist zu erleben, aber nicht zu erhalten und somit auch nicht zu haben. Das Glück ist immer in Eile. "Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! Du bist so schön!", heißt es in Goethes Faust I.

Indes ist der Glücksmoment doch eine Bereicherung sondergleichen, vor allem auch weil er in der Erinnerung weiterlebt. Schon wenn sich Glück in und als Zufriedenheit destilliert, ist einiges gewonnen. Diese soll man gar nicht gering schätzen, aber das Glück selbst ist in der Zufriedenheit nur noch verdünnt vorhanden, nicht mehr in seiner außergewöhnlichen Fülle zugegen, erfahrbar und erfassbar. Enormes als Anormes ist fragil und resolut zugleich. Wenn es anklopft, verkündet es nicht nur seine Bekömmlichkeit, sondern auch schon seine Vergänglichkeit. Aber selbst wenn das Glück sich nicht festigen lässt, ist es als Fluidum deutlich spürbar.

Glück gehabt zu haben, meint hingegen nur, kein Unglück gehabt zu haben, ist also eine rein negative Bestimmung, vom Glück weiter entfernt als vom Unglück. Das seltsame Glück des Soldaten immer wieder nicht umgekommen zu sein, wird kein Mensch zu den glücklichen Phasen des Lebens zählen können. Davongekommen zu sein bezeugt bloß Glück im Unglück.

F.S.

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Hüter des Habens
Beiträge zur Zerlegung einer spezifischen Allgemeinheit

von Franz Schandl

"'Was haben Sie nur davon, noch mehr zu haben, als Sie haben?' fragte ich ihn, vermutlich naiv, denn für Haben hatte ich mein Leblang nie Verständnis gehabt."
(Günther Anders, Ketzereien)

Ist das Haben nicht eine dürftige Position? - Selbstverständlich. Bedürftig wie wir sind, wollen wir haben, eben weil wir uns das Sein als Haben vorstellen und es uns auch andauernd so vorgestellt wird. Wir praktizieren unser Leben in erster Linie über das Haben.

Ohne Haben kein Sein! Aber ist das nun wirklich eine kategorische Ansage anthropologischer Natur, oder ist sie nur eine soziale Setzung? Eine dieser vielen zeitweiligen Behauptungen, die sich für universell halten? Ist das Haben gar ein bürgerliches Bedürfnis, charakteristisch nur für diese Form der Gesellschaftlichkeit? Hier kategorisch "Ja" zu sagen, fällt ohne eingehende historische Forschung schwer. Aber die Frage ist schon zu stellen. Der obligate Einwand hingegen, dass immer gehabt wurde, hilft nicht weiter. Weisheiten dieser Art blockieren die Erkenntnis.

Ohne Haben ist jedenfalls keine adäquate Existenz im Kapitalismus zu bewerkstelligen, selbst wenn das Haben nur die Arbeitskraft der Einzelnen darstellt. Das Haben ist es, nach dem alle verlangen. Das Haben ist dazu da, unserem Mangel abzuhelfen. Haben ist Vorgabe, wo sich eins nicht dagegen entscheiden kann. Eine Prämisse sui generis. Gierig ist nicht nur der Gierige, neidig nicht nur der Neidige. Im Nicht-Genug-Haben treffen sich scheinbar alle. Nur kein Habenichts sein! Wenn ich nichts habe, werde ich gehabt. Alles kann man mir, der ich nichts habe, anhaben. Nur wenn ich etwas habe, gehöre ich mir. Ich gehöre mir bloß als Substitut meines Habens. Die Habe ist mein Pfand. Nur wenn ich etwas habe, bin ich auch wer, so die profane Sicht. Wir sind die Charaktermasken unseres Besitzes. Haben schließt Handeln in doppelter Weise ein: sowohl im Sinn von Verfügen als auch in der Bedeutung des Geschäfts. Haben meint Erhalten, Verwalten, Gestalten, Verfügungsgewalt nennt sich dieses Recht etwas unscharf. Der Bürger muss auf jeden Fall etwas haben, um als Handelnder wie als Händler bestehen zu können.

Ohne Haben kein Sein! Im Haben liegt der schwache Trost einer Gesellschaft, die ihren Agenten nichts anderes anzubieten und vorzuschreiben vermag als das, was sie sich in der Konkurrenz wider die andern aneignen können. Haben macht Menschen roh, zu Bedrohten und zu Bedrohern, zu Opfern und zu Tätern bei der Umsetzung dieser asozialen Imperative. Die Spezies ist ganz auf Kampf trainiert, auf Invasion und Okkupation. Die Grundstruktur dieser Konstellation baut auf Aneignung und Enteignung, auf Angriff und Verteidigung. Was wir haben, wollen wir behalten und was wir nicht haben, sollen wir uns beschaffen. Wir eignen uns nur als Eigentümer. Gerade die Angst vor der steten Enteignung, lässt uns umgekehrt als permanente Aneigner auftreten, was wiederum heißt, dass andere enteignet werden müssen.

Dieser Zwang mobilisiert gegeneinander. Er entsolidarisiert. Kooperation ist lediglich eine Unterabteilung der Konkurrenz. Als Hüter des Habens sind wir die Verhüter des Seins. Alles Genügsame, Zurückhaltende, Vorsichtige, Mitfühlende fällt dem sukzessive zum Opfer. Empathie ist nicht. Aneignen heißt ausschließen. Was ich habe ist mein, ein besitzanzeigendes mein, "denn das 'Meine' unterscheidet sich nicht so sehr durch eine grundsätzliche Unvergleichbarkeit des Gehaltes von 'Deinem', als dadurch, dass das Meine für das Du, das Deine für das Ich nicht 'Habe' ist. Es handelt sich um Differenzen des Bezugs", schreibt Günther Anders (=Günther Stern, Über das Haben, Bonn 1928, S. 74 f.) Schon John Locke ging davon aus, dass bereits "den Kindern die richtige Vorstellung von Meum und Tuum einzupflanzen" sei. (Alfred J. Noll, John Locke und das Eigentum. Eine Einführung in den Second Treatise of Government und seine "great foundation of property", Wien 2016, S. 165)

Dumm und einseitig

"Der Mensch - dies ist die Grundvoraussetzung des Privateigentums - produziert nur, um zu haben. Der Zweck der Produktion ist das Haben. Und nicht nur hat die Produktion einen solchen nützlichen Zweck; sie hat einen eigennützigen Zweck; der Mensch produziert nur, um für sich zu haben; der Gegenstand seiner Produktion ist die Vergegenständlichung seines unmittelbaren, eigennützigen Bedürfnisses." (MEW 40, S. 459) Das "für sich", von dem Karl Marx schreibt ist kein "für uns", zumindest kein unmittelbares. Es bedarf besonderer Metamorphosen, um zu den Objekten zu gelangen. Geben und Nehmen werden unter die Kuratel des Habens gestellt. Haben demonstriert Aneignung der Gebrauchswerte durch Hingabe eines Tauschwerts. Nichts ist einfach (da), alles untersteht dem Komplex des Warentauschs. Waren sind zum Kauf und Verkauf, ob sie verzehrt werden, ist sekundär, auch wenn der reelle wie ideelle Verbrauch im Interesse fortwährender Zirkulation nicht abreißen soll.

Das Haben setzt der Allseitigkeit der Sinne und Bedürfnisse die Einseitigkeit des Eigentums gegenüber. In seinen Frühschriften hat Marx das so skizziert: "Wie das Privateigentum nur der sinnliche Ausdruck davon ist, dass der Mensch zugleich gegenständlich für sich wird und zugleich vielmehr sich als ein fremder und unmenschlicher Gegenstand wird, dass seine Lebensäußerung seine Lebensentäußerung ist, seine Verwirklichung seine Entwirklichung, eine fremde Wirklichkeit ist, so ist die positive Aufhebung des Privateigentums, d.h. die sinnliche Aneignung des menschlichen Wesens und Lebens, des gegenständlichen Menschen, der menschlichen Werke für und durch den Menschen, nicht nur im Sinne des unmittelbaren, einseitigen Genusses zu fassen, nicht nur im Sinne des Besitzens, im Sinne des Habens.

Der Mensch eignet sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, yalso als ein totaler Mensch. Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz, alle Organe seiner Individualität, wie die Organe, welche unmittelbar in ihrer Form als gemeinschaftliche Organe sind, sind in ihrem gegenständlichen Verhalten oder in ihrem Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben. Die Aneignung der menschlichen Wirklichkeit, ihr Verhalten zum Gegenstand ist die Betätigung der menschlichen Wirklichkeit; menschliche Wirksamkeit und menschliches Leiden, menschlich gefasst, ist ein Selbstgenuss des Menschen.

Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, dass ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben, also als Kapital für uns existiert oder von uns unmittelbar besessen, gegessen, getrunken, an unsrem Leib getragen, von uns bewohnt etc., kurz, gebraucht wird. Obgleich das Privateigentum alle diese unmittelbaren Verwirklichungen des Besitzes selbst wieder nur als Lebensmittel fasst und das Leben, zu dessen Mittel sie dienen, ist das Leben des Privateigentums Arbeit und Kapitalisierung. An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinne des Habens getreten. Auf diese absolute Armut musste das menschliche Wesen reduziert werden." (MEW 40, S. 539 f.)

Sein als Haben

Das bürgerliche Subjekt definiert sich durch die Habe: Sei das ein Haus, ein Grundstück, eine Armbanduhr, ein Auto, ein Konto, ein Kleidungsstück. Derlei gilt dem Exemplar als privat zugeschrieben. Mein. Dein. Sein. Besitzanzeigend! "Eigentum meint ursprünglich nichts als das Verhalten des Menschen zu seinen natürlichen Produktionsbedingungen als ihm gehörigen, als den seinen, als mit seinem eignen Dasein vorausgesetzten; Verhalten zu denselben als natürlichen Voraussetzungen seiner selbst, die sozusagen nur seinen verlängerten Leib bilden. Er verhält sich eigentlich nicht zu seinen Produktionsbedingungen; sondern ist doppelt da, sowohl subjektiv als er selbst wie objektiv in diesen natürlichen anorganischen Bedingungen seiner Existenz." (MEW 42, S. 399) Die organische Bedingung des Lebens ist der Leib, die anorganische ist die Habe. Ganz körperlich ist das gemeint: Habeo meint mihi est! Mangelwesen bereichern sich durch ihre Habe.

Haben hat schon eine frappante Logik: Habe zu haben befreit davon, Habe haben zu müssen. Je mehr einem gehört, desto weniger ist man hörig. Die Hörigen lechzen nach Gehörigem, um nicht hörig sein zu müssen. Die bürgerliche Freiheit des Habens gestaltet sich als eherne Pflicht zur Habe. Der mündige Bürger, unser autonomes Subjekt ist dem unterworfen. Ohne Habe ist es nichts. Ohne Habe ist es tatsächlich ein homo sacer. Auch politische Rechte werden als Habe gedacht (Staatsbürgerschaft, Menschenrechte, Asyl etc.) Nichts ist selbstverständlich, auch solche Rechte sind bloß als kleine Korrektur der großen Ungeheuerlichkeiten zu fassen.

Haber und Nichthaber in der bürgerlichen Gesellschaft sind sich zumindest in der Praxis darüber einig, haben zu wollen. Wir haben so allesamt eine struktive Beziehung zu den präsentierten Dingen, weil nur die In-Besitz-Nahme uns die nötige Zuverlässigkeit und Zuversicht verspricht. Haben oder Nichthaben, das ist die entscheidende Frage. Hast was, bist was! Gegenstände sind nicht profan da, sie bedürfen einer kodifizierten Aneignung. Produkte sind Waren. Was wir brauchen, das müssen wir haben, und zwar in der besonderen Form eines Rechtstitels, der als öffentliches wie als privates Vertragsverhältnis konzipiert ist und deswegen als gültig (legal wie legitim) angenommen wird. Der Reichtum dieses Systems erscheint sodann als "ungeheure Warensammlung" (MEW 23, S. 49).

Haben-Wollen meint Kaufen-Können. Das scheinbar gemeine Haben ist eine ordinäre Kategorie des Marktes. Es ist geradezu von unsäglicher Brutalität: Wer etwas braucht, muss es erwerben. Kein Lebensmittel ohne Zahlungsmittel. Nur Notprogramme verhindern den sozialen Genozid. Diese sind Programme sowohl für als auch gegen die Not. Für die Not sind sie, weil sie diese aufrechterhalten, gegen die Not sind sie, weil sie diese lindern. Tatsächlich sind sie abgefeimter Natur, das gilt insbesondere für den bürgerlichen Sozialstaat, der seine Insassen mit monetären Almosen abspeist und so die Anpassung mitbetreibt. Aktuell entpuppt er sich immer mehr als Disziplinierungsinstrument für alle Subalternen.

Mehr haben

Je mehr man hat, desto besser man ist. Sein löst sich als Haben ein. "Der Füller und die Pfeife, die Kleidung, das Arbeitszimmer, das Haus, das bin ich. Die Totalität meiner Besitztümer reflektiert die Totalität meines Seins. Ich bin das, was ich habe." (Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (1943). Deutsch von Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1993 S. 1012) Der hat sich was geschaffen. Die hat was erreicht. Was wir haben, das sollen wir sein. Unser Sein liegt in unserem Haben.

Ausgerechnet in einer Sozietät, wo es schrecklich viele Nichtshaber gibt, ist das Haben ein generelles Interesse. "Im Augenblick fordern die organisierten Minderheiten das Recht auf Haben, daher unterstützen sie den Status quo," schreibt Ivan Illich. (Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, "Tools for conviviality". Deutsch von Thomas Lindquist, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 133) Daran hat sich nichts geändert. Mehr Lohn, mehr Rechte, mehr Dinge, mehr Besitz. Mehr von alledem. Der eherne Komparativ mündet in ein allseitiges Bekenntnis zum Wachstum. Ohne ginge die Wirtschaft zugrunde. Und das stimmt auch. Diese Versessenheit ist immens und elementar. Nicht zu zügeln ist sie, sondern nur zu beseitigen.

Selbst wenn man die Forderung nach einem größeren Stück Kuchen nicht einfach zurückweisen kann, ist jede Programmatik, die darauf abstellt, fatal. Sie perpetuiert nicht nur die Zustände, sie konsolidiert sie in den Köpfen als ewig. Die ganze Haben-Debatte kommt heute als Verteilungsfrage (Umverteilung, Verteilungsgerechtigkeit, Fairness ­...) rüber und kaum über sie hinaus. Sie pickt geradezu am bürgerlichen Boden fest. Unten und Außen schreien nach Berücksichtigung. Sie fordern Teilhabe und Mitbestimmung. Weder Haben noch Bestimmung erscheinen als Probleme, das Problem besteht lediglich darin, dass nicht alle genug haben. Gerade die Forderung nach Gerechtigkeit spielt auf dieser Ebene. Nicht ein Nein! wird postuliert sondern ein Wir auch!

Das frenetische und rituelle Bekenntnis zum Eigentum kollidiert jedoch mit der Realität. Eigentum ist für die meisten das Eigentum der anderen, etwas, an das sie kaum herankommen, so sehr sie sich mühen. Ein Medium nicht der Freiheit sondern der Abhängigkeit und Unterdrückung. Vergessen werden darf nicht, dass die Mehrheit auf diesem Planeten zu Landlosen, Besitzlosen, Wehrlosen degradiert ist. Mehr als verdingen, darben und auswandern ist da nicht. Expropriierte Habenichtse bilden eine hungernde wie hungrige Mehrheit.

Die kategorische Frage ist aber nicht, wem das Eigentum gehört, sondern ob es Eigentum überhaupt geben muss. Die "Expropriation der Expropriateure" (Karl Marx) wäre doch gänzlich verfehlt, wenn sie neue Expropriateure hervorbrächte. Dem Eigentum ist nicht der Kampf um das Eigentum entgegenzusetzen, sondern die stete Aktion gegen das Eigentum. Nicht Ermächtigung zum, sondern Befreiung vom Eigentum. Die Debatte um Commons ist hier von großer Relevanz. Die Losung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel ist alles andere als passé, sie muss nur eingebettet werden.

"Der Versuch, das Privateigentum an Produktionsmitteln abzuschaffen, gleichzeitig aber die Verkehrsformen von Ware und Geld beizubehalten, kann nur in gesellschaftliche Paradoxien führen", schreibt Robert Kurz: "Das Privateigentum wird nämlich fälschlich als bloß 'subjektive Verfügungsgewalt' der sogenannten Besitzenden und damit 'Herrschenden' deklariert, der Augenschein von Selbstherrlichkeit und vermeintlicher Willkür seitens der kommandierenden Personage des Kapitals für bare Münze genommen." (Antiökonomie und Antipolitik, krisis 19 (1997), S. 68) Die Verfügungsgewalt über das Eigentum ist primär eine Fügungsverpflichtung gegenüber dem Eigentum. Fügung kommt als Verfügung daher und die Fügsamen glauben auch noch daran, dass ihre Bestimmung Selbstbestimmung sei.

Ein Manko dieses Beitrages besteht freilich darin, das Vokabular, in unserem Fall also Habe und Haben, Besitz und Eigentum nicht ausreichend differenziert und definiert zu haben und somit der gängigen Auffassung, dass dies alles mehr oder weniger gleich sei, nicht entgegengetreten zu sein. Doch das sind keine Synonyme, auch wenn sie weitgehend synonym auftreten. Was fehlt ist auch die Erörterung der juristischen Dimension (Sachenrecht etc.), die unbestreitbar eine wichtige ist. (Vgl. dazu sehr kompakt Alfred J. Noll, John Locke und das Eigentum, S. 205 ff.) Hier war es vorerst wichtig, sich auf den umfangreichsten Begriff des Habens zu konzentrieren. Weitere Versuche auf dieser Ebene bräuchten allerdings feinere Unterscheidungen. Zu finden ist übrigens auch keine Genesis des Habens, aber das hätte uns schlicht und einfach überfordert.

Inhaber als Werthaber

Haben-Sollen meint Haben-Wollen. Erst dann dürfen wir reale Bürger sein, nicht bloß im formellen sondern im materiellen Sinne: Besitzbürger; und tatsächlich (wir werden das an anderem Ort noch zeigen) ist ein Bürger ohne Besitz als unfertig und mangelhaft zu denken. Vollwertig ist der Bürger nur, wenn er über ein bestimmtes Vermögen verfügt, um sich ein "gutbürgerliches" Leben leisten zu können. So reduziert sich das Reichsein auf das Vielhaben. So herrschen Gier und Neid, zwei nur auf den ersten Blick unterschiedliche Temperamente. Neid ist passive Gier wie Gier aktiver Neid ist. Sie schließen einander nicht aus, sie fungieren im gleichen Koordinatensystem des Habens, nur die Perspektive ist aufgrund der Positionen unterschiedlich.

Was wir von Leuten halten, hängt davon ab, was sie haben oder auch zu haben scheinen. Das Auto, etwa steht deswegen so hoch im Kurs, weil es leicht herzeigbar und ein kaum zu übersehender mobiler Gegenstand ist. Erich Fromm bezeichnete es zurecht als ein "Teil-Ich" (Haben oder Sein, Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, München 1979, S. 93), Mit einem Fahrzeug lässt sich demonstrieren, was man so hat, und das an verschiedenen Orten. Mit einem Wagen fährt man zweifellos auf einem performativ hohen Level. (Die spannende Dialektik von verborgenem und demonstriertem Reichtum kann hier nicht weiter ausgeführt werden.)

Eine zentrale Frage ist mit Erich Fromm durchaus so formulieren: "Wer bin ich, wenn ich bin, was ich habe, und dann verliere, was ich habe?" (Haben oder Sein, S. 136) Ein Habenichts ist ein Taugenichts, ist ein Nichtsnutz. Wert haben und Wert sein sind eins. Der Wert ist eine Qualität, die als Quantität gemessen werden kann. Ranking und Rating verraten wie wir einzustufen sind. Unser ganzer Alltag tickt so, auch dort, wo er Wert als Würde, also ideellen Wert begreift.

Konventionelle Kritik wollte Wert sein stets vom Wert haben trennen. Was sie nicht wollte, ja sich geradezu verbot, war, den Wert als Leitkategorie auch nur anzutasten. Finger weg! Beschwörung und Begeisterung dominieren mehr denn je. "Ihre Werte und unsere", war da schon das Höchste der Gefühle. Werte haben wollte man auf jeden Fall, oft sogar die selben. Unbehagen agiert meist auf der vorgegebenen Ebene von "Ihre Werte sind unsere". Die gängige Litanei behauptet ja, dass die Werte schon in Ordnung seien, würden sie nicht mutwillig verraten werden. Man dupliziert die herrschende Moral durch ihre Einforderung. Unkritische Kritik entpuppt sich als Affirmation. Der Aufstand für die Abschaffung des Werts und die Entwertung der Werte, der wollte lange nicht reifen. Es gab zwar einige Fährten von Karl Marx bis Günther Anders oder Ivan Illich, mehr aber war kaum. Auch heute ist die Kritik vom Wert und seinen Werten noch immer keine substanzielle Größe der Gesellschaftskritik. Wertkritik war da ein erster Anlauf.

Wer was? Was wen?

Das Verb "haben" hat seine vorrangige Bedeutung darin, anderen Verben eine zeitliche Dimension zu verordnen. Dort, wo es lediglich als Hilfszeitwort auftritt, interessiert es uns an dieser Stelle aber nicht. Die zwei wichtigsten Verben, die wir verwenden, sind sein und haben. Sie prägen die gesamte Sprache. Aber schon in den obligaten Satzkonstruktionen bemerken wir einen fundamentalen Unterschied. Sofern sie nicht als Hilfsverben gebraucht werden, folgt dem Wort haben meist ein Substantiv, während das Wort sein meist Adjektiven vorangeht.

Haben? Der Terminus steckt voller Tücken. Habe ich Produktionsmittel, um Mehrwert zu lukrieren? Habe ich Kredit, um auf der Ebene des fiktiven Kapitals mitspielen zu können? Solche Handhabe ist zweifellos etwas anderes als die Habe, die zur unmittelbaren Existenz notwendig ist: essen, kleiden, wohnen, agieren, kommunizieren. Wenn ich einen Hunger habe, ist das etwas anderes, als wenn ich einen Porsche habe.

Eine Habe, über die man so gar nicht verfügen kann, ist auch der Arbeitsplatz. Was habe ich, wenn ich ihn habe? Die Habe eines Arbeitsplatzes ist ebenfalls nicht meine. Mit dem Platz ist man nur bedient, solange er den Arbeitenden zur Verfügung gestellt wird. Diese Fügung ist daher nicht meine. Der Arbeitsplatz ist somit kein Besitz, sondern ein Lehen, das einem (derzeit noch unter Auflagen von Fristen) jederzeit entzogen werden kann. Der Arbeitsplatz spiegelt Subordination wider, Lohnabhängigkeit und Unselbständigkeit, wie der bürgerliche Alltagsjargon so unerschrocken offen zu Protokoll gibt. Der Haber eines Arbeitsplatzes ist nicht der Arbeitsplatzhaber, sondern der Arbeitsplatzgeber, der ihn aber auch bloß hat, wenn er ihn vergeben kann. Rationalisiert er ihn aus Kostengründen weg, dann hat er ihn auch selbst nicht mehr. Aber auch die Arbeitskraft (nicht zu verwechseln mit der tätigen Energie der Fähigkeiten und Fertigkeiten) kann ich als Habe nur einsetzen, wenn sie mir abgekauft wird.

Was man nicht alles haben kann: Ich habe eine Tochter, ich habe einen Acker, ich habe Lust, ich habe Ferien, ich habe Schmerzen. Habe ich? Wer hat wen, wenn ich eine Krankheit habe? Hat da nicht sie mich und nicht ich sie? Keineswegs will ich sie haben. Diese Habe hat mit "mein" nichts zu schaffen, auch wenn sie in mir sitzt. Im Regelfall möchte man sie nicht haben resp. loswerden. Da ist auf einmal ein Haben, das hat mit Vermögen und Verfügen gar nichts zu tun. Auch das Haben der Tochter, des Ackers oder der Lust verweisen auf ganz unterschiedliche Bezüge. "Kann man Liebe haben?", fragt Erich Fromm. (Haben oder Sein, S. 63) Man kann sie bekommen und geben, aber haben kann man sie nicht. Je näher wir das Haben betrachten, desto schräger wird es.

Günther Anders ätzte bei einem ähnlichen Anlass einmal über Martin Heidegger: "'Ich kann arm werden', bedeutet bei ihm: 'Ich habe die eigenste Möglichkeit der Armut'; obwohl es im Ernst nur bedeuten kann: die Armut hat die Möglichkeit über mich; oder das Elend kann mich haben. Was es nicht will, das man ihm tu, fügt sich bei ihm das Dasein selber zu. Kurz: der Möglichkeitsbegriff wird benutzt, um die Wirklichkeit der Ohnmacht oder der Unfreiheit zu bagatellisieren." (Über Heidegger, hgg. von Gerhard Oberschlick in Verbindung mit Werner Reimann als Übersetzer, München 2001, S. 133 f.)

Und noch ein Beispiel zur Illustration: "Wir haben zu essen" ist nicht gleichbedeutend mit "Wir essen". Aber schon von Kindesbeinen an wird jedes unmittelbare Verlangen zu einem Haben-Wollen und einem Kaufen- Müssen. Das ist nun alles andere als banal, das ist spezifisch, wenn auch das spezifisch Allgemeine. Gerade durch das Haben werden Verben zu Substantiven. Wir arbeiten nicht, wir haben Arbeit. Wir freuen uns nicht, wir haben Freude. Wir schlafen nicht miteinander, wir haben Sex. Aus Tun wird Haben.

Haben und Halten

"Etwas 'haben' können wir nämlich allein deshalb, weil wir fähig sind, etwas zu halten, und zwar ohne etwas sofort zu konsumieren." Günther Anders charakterisiert weiters das Haben als "Monopol des Menschen" (Ketzereien, S. 192). Tatsächlich verharrt beim Haben das Objekt zumeist im Warteraum. Er ist Ort und Zeit des Habens. Das Horten bei einigen Tierarten, das vielleicht dem Haben ähnlich scheint, ist ein instinktives Ansparen von Nahrung, eine zeitliche Verzögerung von unmittelbarem Fressen, biologisch bedingt, Natur pur. Haben ist bloß den Menschen eigen.

Haben steht für eine Vollmacht. Die Habe ist etwas, das eingelöst werden kann (aber nicht muss), wenn der Haber es für richtig oder gegeben erachtet. Die Habe ist eine Potenzialiät, die als Potenz eingesetzt werden kann. Haben, das ist die Potenz der Latenz. Haben ist nicht die einfache Verwendung und Eignung, es ist vielmehr eine komplizierte Aneignung. Im Haben kommt das Mögen als Vermögen daher. "Besitzen ist für mich haben, das heißt der eigentliche Zweck der Existenz des Gegenstands sein." (Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 1009)

Besitzen besteht darin, etwas benutzen zu können und andere von diesem Nutzen ausschließen zu können. Was hier stilistisch etwas unglücklich klingt, ist aber geradewegs inhaltlich so gemeint. Es ist überhaupt kein Zufall, dass wir "zu können" doppelt und kursiv gesetzt haben und nicht "benutzen" oder "ausschließen". Beide Male ist das zu können definitiv. Beide Kriterien müssen erfüllbar, aber nicht unbedingt erfüllt sein. Der Nutzen ist hingegen nicht unmittelbar zwingend, ebensowenig wie der Ausschluss von anderen es ist. Haben ist also nicht platt die Verfügung betreffend Gegenstände, Leistungen, Verfahren oder sonstiges. Haben ist das Vermögen zu dieser Verfügung. Beziehungen, die sich im Haben äußern, sind nicht unbedingt exklusiv, aber sie vermögen zu exkludieren.

Haben gewährleistet den Zugriff, aber Haben ist nicht dieser Zugriff. Im Gegenteil, der Zugriff mindert das Haben bis hin zum Nichts. Dem Prozess des Konsums geht im bürgerlichen Normalfall der Status des Habens voraus. Um etwas zu verzehren, muss man aktuell ein Besitzrecht vorweisen, daran zehren zu dürfen. Verzehren meint zerstören. Wenn ich gegessen habe, ist das Essen weg. Der Konsum liquidiert das Haben. Haben löst sich ein, indem es sich auflöst. Der Gebrauch des Habens ist der Verzehr. Je mehr es sich auflöst, desto weniger habe ich. Wenn ich also etwas unmittelbar benötige, muss ich es zwar unbedingt haben, kann aber dieses "haben" nicht in ein "Haben" transformieren, weil als solches konsolidieren. Haben ist ohne Halten nicht zu haben. Jede Habe, die vom Eigner selbst im Konsum realisiert wird, bedeutet, sie zu liquidieren. Liquid bin ich, wenn ich liquidieren kann.

Habe umfasst Produktions- und Reproduktionsmittel. Die Auswirkungen sind jedoch unterschiedlich in der Konsequenz. Erstere können sich auch mehren, letztere können nur schwinden. Jeder private Konsum verzehrt die Habe. Dem gegenüber steht allerdings der produktive Konsum. Während es im unproduktiven Konsum um das ledige Verzehren geht, geht es im produktiven Konsum um das Vermehren, letztlich um das Vermehren von Kapital. Prototypisch dafür steht die Mehrwert-Schaffende Funktion des Gebrauchswerts der Ware Arbeitskraft: G-W-G'. Der eigentliche Gebrauchswert der Arbeitskraft erlischt, die Arbeitsmaterialien (ver)schwinden, aus lebendiger Arbeit wird tote.

Und noch ein Punkt wäre anzumerken. Besitzen meint: ich sitze drauf, niemand darf es mir nehmen. Die Digitalisierung als jüngstes Kind einer Ökonomie der Information relativiert dies freilich. Bei virtuellen Gütern trifft das, unabhängig ob sie eingepreist werden oder nicht, in dieser Form nicht mehr zu. Sie verschwinden nicht, wenn sie konsumiert werden. Ihr Dasein hat eine andere Qualität, eben weil diese Güter nicht materiell, sondern immateriell wesen. Das Genommene kann so auch verbleiben. Die Realität des Virtuellen ist eine andere.

Rache des Weghabens

Vom Haben zum Weghaben ist der Weg nicht weit, ja die Frist wird immer kürzer. Zumindest bei Lebensmitteln ist das offensichtlich. Das Bewahren ist im Schwinden begriffen. Das Behalten wird durch die Haltbarkeit limitiert. Damit wird das Haben nun keineswegs als Prinzip in Frage gestellt, wohl aber jede konkrete Habe. Hurtig wechseln die Moden, schnell ist etwas perdu. Wegwerfen ist angesagt. Die Lebensdauer aller Produkte muss verringert werden. Aneignung wird begrenzt, indem Eignung begrenzt wird, reell wie ideell. Jede Habe unterliegt dem Gesetz steigender Obsoleszenz. Deswegen wachsen die Altlasten.

Am Müll haben wir etwas, das wir eigentlich nicht haben wollen, aber geradezu fanatisch herstellen. Der Müll ist die immanente Rache des Habens und alles andere als eingebildet. Das Problem wird daher auch ganz orwellisch mit dem Begriff der "Entsorgung" belegt und somit sprachlich "gelöst". Wüsste man nicht, dass man nicht zu Verschwörungstheorie neigen darf, dann müsste man hier von einer Verschwörung sprechen. Auf jeden Fall verschwört sich die Sprache gegen ihre Nutzer, nicht theoretisch sondern ganz praktisch.

Der Käufer darf jedenfalls nicht zum Schatzbildner werden, d.h. sich in Ruhe und Gelassenheit seiner Gegenstände frönen, er muss ständig auf Trab gehalten werden, Altes durch Neues zu ersetzen, Kontingente immer wieder ergänzen, dieses und jenes auch noch besitzen zu wollen. "Hast du schon?", lautet die reklamierende als imperative Frage. Haben ist also geprägt von einem verordneten Haben-Sollen, das als Müssen und Wollen tief sitzt und unablässig seine Aufdringlichkeiten entfaltet. In uns und aus uns. Werbung ist hier lediglich das letzte Glied. Die Antwort des Kunden lässt nicht auf sich warten: Ich will. Der Kaufzwang ist dem Käufer als Kaufverlangen obligat. Es ist das Interesse des Marktes, dass Produkte verbraucht, nicht gehortet oder gewartet werden. Mehr als uns an den Dingen zu erfreuen, die wir haben, sollen wir nach den Dingen gieren, die wir nicht haben. Und die Reklame verkündet unentwegt ihre Botschaft: Jedes Nicht ein Noch-Nicht.

Man kann zwar nicht genug bekommen, aber man kann durchaus mehr als genug haben. Indes wer zu viel hat, kann das Gehabte gar nicht mehr wirklich haben, also für einen allfälligen Gebrauch parat halten. Es liegt dann auf dem Konto oder im Lager, droht zu verderben und zu verfaulen. Selbst auf Geldanlagen trifft das zu. Noch dazu lauern andere, die es einem abnehmen möchten.

PostScript

Puncto Habgier schreibt einer ihrer Ideologen Folgendes: "Es gibt viel zu wenig Gier. Die Konsumenten sind nicht mehr gierig darauf, Autos oder andere Produkte zu kaufen, die Unternehmer sind nicht mehr gierig darauf, künftig fette Gewinne zu erzielen und dafür heute das Risiko von Investitionen auf sich zu nehmen. Irgendwann werden auch die Moraltheoretiker erkennen müssen, dass ohne Gier gar nichts läuft. Sie ist nicht der einzige, aber weitaus wirksamste Antrieb der Menschen, sich anzustrengen, mehr zu leisten, zu lernen, mehr zu arbeiten ..." (Andreas Unterberger, Bitte mehr Gier!, Wiener Zeitung, 18. Oktober 2008, S. 2)

Zweifellos gibt es Habsucht, aber gibt es Seinssucht? Vielleicht sollte es sie geben, nämlich als die unbescheidene essenzielle Suche das Leben leben zu können, es eben nicht zu versäumen im existenziellen Eifer der Gierigen und Neidigen. Der Kampf um die Existenz, wäre dann den Aktivitäten für das Dasein gewichen. Das, was heute schon als Hedonismus gebrochen und deformiert sich in Szene setzt, sollte sich wahrlich in der großen Kommune ungebrochen und unformiert entfalten können. Für alle, nicht nur für die wenigen.

*

Rezens

Alfred J. Noll: John Locke und das Eigentum.
Mandelbaum Verlag 2016, 346 Seiten, ca. 18 Euro

Niemand hat "property" so stark in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gerückt wie John Locke (1632-1704). Und kaum jemand hat ihn wohl so akribisch rezipiert wie Alfred Noll. Man kann hier nachlesen, wie und dass Freiheit und Unfreiheit, Gleichheit und Ungleichheit zusammenpassen, warum das "konservative Alltagsgerede" zum Privateigentum Konsens geworden ist, es als "einzig mögliche und vernünftige Form der Vergesellschaftung ausgegeben wird". Der Darstellung der Theorie ist eine ausführliche historische Erzählung beigegeben. Nicht nur dadurch erlangt das Werk eine Lebendigkeit, stellenweise sogar eine Leichtigkeit, wie sie in wissenschaftlicher Literatur selten geworden ist. Vielleicht hätte man einige längere Fußnoten in den Haupttext nehmen können. Das hätte den Lesern fortwährende Etagenwechsel erspart. Aber das ist ein formaler Einwand, kein inhaltlicher. Die Qualität der Abschweifungen ist durchaus gegeben.

Auch wenn Alfred J. Noll 2016 den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik erhalten hat, heißt das nicht, dass das ein schlechtes Buch ist. Nicht alles, was naheliegend ist, ist auch der Fall. Im Gegenteil. Es ist klug argumentiert und gut geschrieben. Der Band ist frei vom Jargon juristischer Schreibe. Noll doziert nicht von einem abgehobenen Status, keineswegs verschließt er sein Werk in einer hermetischen Kammer. Nicht nur juristisch und politisch, sondern auch literarisch ist der Autor geschult. Obwohl geschult nicht ganz richtig ist, da es eine solche Schule abseits der Selbstschulung heute nicht gibt. Der Alfi ist also alles andere als ein Depp, indes was macht er bei Peter Pilz?

F.S.

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Haben, als hätte man nicht
Das Abseits als wirtlicher Ort

von Marianne Gronemeyer

In seinem Vorwort zu der Aufsatzsammlung "Schulen helfen nicht" ("Celebration of Awareness"), die Ivan Illich 1969 erstmalig publizierte, schreibt Erich Fromm: "Weder diese Aufsätze noch ihr Verfasser bedürfen einer Einleitung. Wenn trotzdem Ivan Illich mir die Ehre erwiesen hat, mich um eine Einleitung zu bitten, und wenn ich das gern übernommen habe, so scheinen wir dabei beide gedacht zu haben, eine solche Einleitung sei eine Gelegenheit, einer gemeinsamen Haltung und Überzeugung Ausdruck zu geben, obwohl einige unserer Ansichten beträchtlich auseinandergehen. Auch die Auffassung des Verfassers ist heute nicht mehr immer die gleiche wie zu der Zeit, als er im Laufe der Jahre bei verschiedenen Anlässen diese Aufsätze schrieb. Im Kern seiner Einstellung ist er sich jedoch treu geblieben, und in diesem Kern stimmen wir überein." (E. Fromm, 1976, S. 7)

Unkultur des Habens

Warum beziehe ich mich auf dieses eher entlegene Textstück Erich Fromms und nicht auf eines seiner zentralen großen Werke, z.B. auf den Bestseller "Haben oder Sein"?

Weil sich hier die beiden bedeutendsten Lehrer, denen ich in den Siebzigerjahren begegnet bin, gemeinsam zu Wort melden. Ihnen beiden verdanke ich die wichtigsten Anstöße, die mich veranlassten, mich über den Konsumismus, die Unkultur des "Habens", zu entsetzen als ein Unheil, das damals nicht erst heraufzog, sondern bereits in vollem Gange war, ohne dass ihm bis dahin viel Aufmerksamkeit gewidmet worden war. Der Dritte, der sich schon damals in radikaler Konsumkritik übte und sich traute, den Konsumismus als neuen Faschismus zu brandmarken und ihn sogar "Völkermord" zu nennen, war Pier Paolo Pasolini. Er betrauerte das "Verschwinden der Glühwürmchen" und geriet in Zorn über das Verschwinden des selbstbewussten Lächelns des armen Bauernjungen aus dem Friaul (P.P. Pasolini, 1979, S. 67 f. und 29 f.). Die verschwundenen Glühwürmchen und das verschwundene Lächeln wurden mir bis heute zu eindringlichen Metaphern für die verwüstende, gleichmacherische Wirkung des Konsumismus. Diese drei Konsumkritiker gingen weit über die damals aufsehenerregenden Warnungen des Club of Rome hinaus. Sie prangerten nicht nur die Maßlosigkeit eines ebenso entfesselten wie völlig beliebigen Konsums an. Ihre Kritik richtete sich vielmehr gegen eine industrielle Gesellschaft, in der sich Produktion und Konsumtion von Waren als einzige Form der Daseinssicherung durchgesetzt hatten und behaupteten.

Darüber hinaus hat mich aber auch das Eingeständnis "beträchtlicher" Differenzen, das Erich Fromm macht, beeindruckt. In Abwandlung eines gewichtigen Satzes von Adorno, der in den "Minima moralia" bekannte, dass die Möglichkeit des Besseren nur durch die Verzweiflung hindurch festgehalten werden könne, könnte man sagen: Nur durch die Anerkenntnis der Differenz und des Nicht-Verstehens hindurch kann die Möglichkeit der Übereinstimmung, des Respekts - den Fromm dem Jüngeren ganz uneingeschränkt zollt - ja, der Freundschaft bestehen.

Was nun den Dissens angeht, der für die Freundschaft beider sicher ebenso unverzichtbar war wie die "Übereinstimmung im Kern", so bleibt er in dem Vorwort unausgesprochen. Fromm beschränkt sich darauf, das Einverständnis zu benennen, das er in einem "radikalen Humanismus" findet. Dabei geht es letztlich um die brennende Frage, wie in einer vom Konsumismus durchherrschten Welt und trotz der unentrinnbaren Verstrickung in sie eine Haltung gefunden werden kann, die es erlaubt, Nicht-Einverstandenheit aufrechtzuerhalten und zu bekunden, also inmitten des Konsumismus Distanz zu ihm zu wahren.

Nun will ich aber doch den Dissens, den Fromm so nobel beschweigt, nicht auf sich beruhen lassen. Nicht aus Neugier oder Indiskretion, sondern weil ich glaube, dass gerade an der Unterschiedenheit der Ansichten beider das Weiterdenken Nahrung findet. Wenn ich vom Weiterdenken spreche, dann meine ich nicht einen Denkfortschritt, der die Vordenker überbietet, sondern ein Nach-Sinnen, eine Legierung des von ihnen Ererbten mit den eigenen Erfahrungen, die zugleich das Erbe bewahrt und durch Aneignung verwandelt.

Der wundeste Punkt in ihrem Dissens wird vielleicht berührt durch Illichs dezidiertes Misstrauen gegenüber der Psychoanalyse. Er sagt: "Die psychoanalytische Annahme, dass ich Dir helfen kann, Dich selber viel besser zu verstehen, als du es im Moment tust, färbt unweigerlich (...) ab auf die meisten unserer Beziehungen. Eine der Neuerungen, die von IHM kommen, der sagt, ich komme, um alles neu zu machen, ist es gerade, in der Begegnung mit dem anderen willens zu sein, ihn für das zu nehmen, was er mir über sich selbst erzählt, da ich nur auf diese Weise durch ihn überrascht werden kann."

Es geht also darum, sich dem anderen gegenüber jedes Vorwegwissen oder Bescheidwissen zu versagen, und das, was mir der andere von sich offenbart, als sein Geschenk an mich anzunehmen, ohne mich ihm mit meinem Verstehen zu nähern und ohne ihn zu seinem Besten beeinflussen zu wollen. Wir hätten uns "von der pädagogischen (und psychologischen) Hybris zu befreien - von unserem Glauben, wir könnten tun, was Gott nicht kann, nämlich andere zu ihrem Heil zu manipulieren." Und David Cayley, der die letzten veröffentlichten Gespräche mit Ivan Illich führte, kommentiert: "Die Fähigkeit, sich überraschen zu lassen, die spontane und nicht vorauswissende Hinwendung zum anderen ist die Essenz der Freiheit, die Illich im Neuen Testament findet." (I. Illich, 2006, S. 33)

Erich Fromm beschreitet einen anderen Weg. Er geht davon aus, dass nur ein fundamentaler Wandel der menschlichen Charakterstruktur, das heißt, ein Zurückdrängen der Haben- zugunsten der Seinsorientierung, (uns) vor einer psychologischen und ökonomischen Katastrophe retten kann. Er fragt, ob tief greifende charakterologische Veränderungen möglich sind, bejaht diese Frage und nennt folgende Bedingungen:

- Wir leiden und sind uns dessen bewusst.
- Wir haben die Ursache unseres Unbehagens erkannt.
- Wir sehen eine Möglichkeit, unser Unbehagen zu überwinden.
- Wir sehen ein, dass wir uns bestimmte Verhaltensnormen zu eigen machen und unsere gegenwärtige Lebenspraxis ändern müssen, um unser Unbehagen zu überwinden.
(E. Fromm 1976 a, S. 165)

Die Differenz ist, wie Fromm selbst sagt, "beträchtlich". Folgerichtig schreibt Fromm sein Buch über "die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft", während Ivan Illich seine Aufmerksamkeit nicht den seelischen Befindlichkeiten der Menschen, sondern der Art und Beschaffenheit und Wirksamkeit ihrer Werkzeuge zuwendet. "Tools for Conviviality" lautet der Originaltitel des Buches, das ungefähr zeitgleich mit "Haben oder Sein" erscheint, im Deutschen viel weniger prägnant: "Selbstbegrenzung".

Werkzeuge und Bedürfnisse

Die folgenreichste Aussage, die Illich über die Werkzeuge macht, ist die, dass Menschen keine Gerätschaften brauchen, die ihnen die Arbeit abnehmen, sondern neue, durchaus technisch hoch entwickelte und industriell produzierte Werkzeuge, mit denen sie arbeiten können: "Nicht weitere gut programmierte Energiesklaven brauchen sie, sondern eine Technologie, die ihnen dabei hilft, das Beste zu machen aus der Kraft und Phantasie, die jeder besitzt." (I. Illich 1998, zuerst 1975, S. 27) Werkzeuge müssen konvivial, das heißt, so beschaffen sein, dass sie dem Miteinander der Menschen dienlich sind, anstatt sie zu isolieren und durch Konkurrenz zu vereinzeln. Nur dann könnten die Menschen einen vielseitigen gemeinsamen Gebrauch von ihren ganz unterschiedlichen Kräften und Begabungen machen.

Es sind also die Werkzeuge, die konviviale oder nicht-konviviale Gesellschaften "auf dem Gewissen" haben. Ausdrücklich lehnt Illich es ab, sich in der Frage des gedeihlichen Miteinanders von Menschen bei der Psychologie Rat zu holen.

Seine Streitschrift ist ein großes Plädoyer für Mittel der Daseinsbewältigung, die die Menschen weder von der Expertise der Experten noch von ständig gesteigertem Konsum noch von endlosen Ausbildungsgängen abhängig machen, sondern sie an ihre eigenen Kräfte und ihr gemeinschaftliches Tun verweisen. Darin ist er dann wieder einig mit dem, was Erich Fromm die Orientierung am Sein nennt. Aber der Dissens bleibt bestehen und ist durchaus folgenreich. Er offenbart sich vielleicht am deutlichsten darin, wie die beiden großen Denker über die Bedürfnisse denken.

Erich Fromm sieht die Bedürfnisse, die er existenziell nennt - ich zähle sie noch einmal auf: das Bedürfnis nach Orientierung und Devotion, jenes nach Verwurzelung, das nach Einheit, das Bestreben, etwas zu bewirken, und das Bedürfnis nach Erregung und Stimulation (E. Fromm 1974, S. 207 ff.) -, als die Urantriebe der Daseinsbewältigung an, die es dem Menschen ermöglichen, zu seiner Bestimmung zu kommen oder eben, wenn sie irregeleitet werden, seine Bestimmung zu verfehlen. Bedürfnisse gehören also zur Grundausstattung des Menschen, in ihnen steckt das Potenzial der Freiheit oder der Versklavung. So entspricht die Unterscheidung zwischen Haben und Sein in gewissem Sinn der Unterscheidung von falschen und wahren Bedürfnissen. Pointiert könnte man sagen, Fromm erklärt den Konsumismus aus fehlgeleiteten Bedürfnissen, während Illich die Bedürfnisse, genauer die Bedürftigkeit aus dem Konsumismus erklärt.

Folgt man Illich, so ist die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Bedürfnissen mindestens unzureichend. Wahre Bedürfnisse gibt es nicht. Wer bedürftig ist, steht immer unter der Knute dessen, der die Befriedigungsmittel verwaltet und anderen vorzuenthalten vermag. Bedürfnisse schaffen ein Gewährungsverhältnis und machen aus daseinsmächtigen "kriegende" Menschen, die alles, was sie zum Leben brauchen, kriegen müssen und deshalb einander bekriegen müssen, um von den knapp gehaltenen Ressourcen etwas abzukriegen. Bedürftige können darüber hinaus nur wollen, was sie wollen sollen. Es steckt unüberhörbar das Wort "dürfen" im Bedürfnis.

So unterschiedlich wie ihr bedürfnistheoretischer Ansatz ist dann auch das Ausschauhalten nach dem Rettenden. Der Grundimpuls bei Fromm ist ein erzieherischer, Illich dagegen glaubte in den 70er-Jahren noch, dass die Mehrheit der Menschen, die in den armen Ländern lebt, den Weg des Industrialismus vermeiden und durch die Entscheidung für konviviale Werkzeuge dem Desaster vollständiger Abhängigkeit und Unterdrückung entgehen könnte.

In späteren Jahren hat er sich jedoch grundlegend korrigiert. Er erkannte, dass das Zeitalter der Werkzeuge längst vom Zeitalter der Systeme abgelöst worden war, dass nicht mehr wir die Werkzeuge, die wir geschaffen haben, hantieren und dirigieren, sondern dass wir als Verfahrens- und Programmkomponenten im System fungieren und funktionieren. Und entsprechend kommt er zu dem Schluss, dass es gar nicht mehr darum geht, die Bedürfnisse zu bekämpfen, denn längst werden die gesellschaftlichen Realitäten nicht mehr an industriell hergestellten Bedürfnissen orientiert, sondern an Systemerfordernissen. Verglichen damit repräsentiert das Zeitalter der Bedürfnisse, in dem ja immerhin die Person als Träger der Bedürfnisse noch eine Rolle spielte, einen geradezu harmlosen Grad der Entfremdung.

Systemzwang und Müll

Wenn wir also heute von Konsumismus sprechen, genügt es nicht mehr, von der Gier und der Habsucht und dem Neid der Menschen zu reden, egal, ob wir sie nun als Täter oder als Opfer ansehen, wir müssen vielmehr über Systemzwänge und das lautlose Vordringen ihres Herrschaftsanspruchs sprechen, dem die Kritiker und die Befürworter des Wachstums gleichermaßen unterworfen sind. Fraglich, ob man vom Ansatz der existenziellen Bedürfnisse und von der Forderung nach einer Veränderung der menschlichen Charakterstruktur zu diesen düsteren Konsequenzen durchstoßen kann.

Der Konsumismus hat im Zeitalter des globalisierten Systems eine Qualität angenommen, die ihn nahezu hermetisch macht.

Globalisierung sei vor allem "Monokultur im Denken", sagt Vandana Shiva. Und diese Monokultur kreist um Müll. Müll ist nicht die in Kauf genommene, die unvermeidliche schädliche Nebenwirkung industrieller Produktion, sondern deren Hauptzweck.

Man kann von nahezu allen Industrieprodukten, die fabriziert werden unter der Vorgabe, dass Ware und Wachstum sein müssen, sagen, dass ihr eigentlicher Daseinszweck darin besteht, Müll zu sein. Sie werden hergestellt, so fordert es die Wachstumslogik, nicht um ihrer Brauchbarkeit und Tauglichkeit willen, sondern um ihrer möglichst schnellen Unbrauchbarkeit und Untauglichkeit willen. Sie werden als Müll produziert.

Denn der Superlativ des Attributs "neu" annonciert den Wert eines jeden Produktes. Wenn der Wert eines beliebigen Gegenstandes darin besteht, brandneu zu sein, der letzte Schrei, die Überbietung alles bisher Dagewesenen, dann ist er im Augenblick seines Erscheinens bereits im freien Wertverfall begriffen, denn er ist ja nur die Vorstufe des neueren Neuesten, das ihm folgt, er trägt den Makel des Überholten und Defizienten bereits in sich, bevor er zum Zuge kommen kann. Inmitten des Wohlstands sind wir Müllbewohner und was wir gedankenlos "Fortschritt" nennen, ist die rasant beschleunigte Umwandlung unserer Welt in Müll.

Was Erich Fromm in den 70er-Jahren die "Orientierung am Haben" nannte, bildet die Befindlichkeit des modernen, von der Vermüllung gezeichneten Konsumenten nur noch unzureichend ab.

Die warenförmigen Produkte, die die auf permanentes Wachstum angewiesene Gesellschaft ausspuckt, leiden ausnahmslos an einem eklatanten Mangel an Brauchbarkeit und Haltbarkeit. Der modernste Müll ist demnach nicht der, der auf Deponien lagert, sondern in den Regalen der Kauf häuser und in den Werbebroschüren der Dienstleistungsindustrie feilgeboten wird, als Müll unkenntlich und deshalb durchaus Objekt der Begierde: "Abfall ist das finstere, schändliche Geheimnis jeglicher Produktion. Es soll vorzugsweise ein Geheimnis bleiben." (Zygmunt Bauman, 2005, S. 42)

Wie lebt es sich in einer müllerzeugenden Gesellschaft? Was wird aus Menschen, deren Arbeit nicht nur zu nichts nütze ist, sondern schweren Schaden anrichtet?

Wie wirkt sich die Tatsache, dass wir uns in einer Welt aus Müll einrichten müssen, auf unser Weltempfinden und unser Befinden aus? Zunächst einmal so, dass wir uns in ihr überhaupt nicht einrichten können. Das, was Hannah Arendt als den Lohn des "Herstellens" erkennt, dass nämlich dabei eine Welt aus Dingen entsteht, die dauerhafter sind als wir selbst und in der wir deshalb Halt und Haltung finden können, gilt nicht für die industrielle Produktion. Die erschafft eine Welt, in der das Allerneueste am erstrebenswertesten ist. In ihr kann man sich guten Gewissens für nichts mehr entscheiden, weil jede Entscheidung für etwas mich nötigt, mich mit Defizitärem zu begnügen, und mich um die Möglichkeit bringt, dem demnächst Allerneuesten den Zuschlag zu geben. Selbst die unschuldig geglaubten Ökoprodukte entgehen dem Gesetz der Vermüllung nicht: Ist es nicht voreilig oder unvernünftig, die Sonnenenergieanlage auf mein Dach zu setzen, die heute die am weitesten entwickelte ist, wenn doch morgen die Entwicklung darüber hingegangen sein wird? Ist es nicht unsinnig, meine Entscheidung auf ein Wissen zu gründen, das morgen überholt sein wird? Ist es nicht verrückt, Zeit und Kraft in eine Bildung zu investieren, die morgen karrierehinderlich ist? Ist es nicht unverantwortlich, heute an etwas zu glauben, das morgen als schierer Aberglaube entlarvt sein wird? Jede ergriffene Chance ist eine Niederlage, jede getroffene Entscheidung ist eine Entscheidung für Müll.

Die vier Monopole

Aber noch beharrlicher als der Müll selbst ist die Monokultur der Müllgesinnung. Monokulturen und Monopole bedingen sich gegenseitig. Es sind mächtige Monopole, die dafür Sorge tragen, dass das schändliche Geheimnis der Wachstumsgesellschaft - dass sie nämlich Müll produziert und konsumiert - nicht ruchbar wird und dass das "Weiter so" seinen ungehinderten Lauf nimmt. Es sind jene treibenden Kräfte, die den Fortschritt garantieren: die Naturwissenschaft, die Ökonomie, die Technik und die Bürokratie. An und für sich haftet ihnen zugegebenermaßen nichts Verderbliches an. Was ist schon dagegen zu sagen, dass die Natur erforscht wird, dass die Vorräte bewirtschaftet werden, dass wir uns die Arbeit zu erleichtern trachten und das Gemeinwesen ordnen wollen?

Seine zerstörerischen Kräfte entfaltet diese unheilige Allianz dadurch, dass sie in ihrem jeweiligen Geltungsbereich Monopole etabliert. Die Naturwissenschaft beansprucht das Monopol der Weltdeutung, die Ökonomie das der Weltverteilung, die Technik das der Weltgestaltung und schließlich die Bürokratie das Monopol, die Welt zu regeln. Zusammengeschlossen und miteinander vernetzt bilden sie eine Supermacht, die ihren Anspruch auf Weltherrschaft weitgehend durchgesetzt hat. Sie tendiert dazu, sich alles anzuverwandeln und alles in sich einzuschließen. Sie duldet keine anderen Götter neben sich.

Monopole sind dazu da, sich in praktizierte Macht umzusetzen. Jedes der vier Monopole ist insbesondere zuständig für eine Handlungsmaxime, die nicht nur das große Weltgeschehen steuert, sondern bis in den Alltag der Menschen Gefolgschaft erzwingt. Der Naturwissenschaft obliegt es, Konsens in Fragen der Welterklärung herzustellen, die Ökonomie sorgt dafür, dass die Konkurrenz alle menschlichen Beziehungen prägt, auch die allerintimsten. Die Technik richtet die Welt auf Konsumierbarkeit zu und erhebt den Konsum zur ausschließlichen Form der Daseinssicherung. Die Bürokratie schließlich stellt Konformität dadurch her, dass sie alle menschlichen Handlungen nach dem Vorbild maschinellen Funktionierens ausrichtet. "Du sollst mit mir eines Sinnes sein und meiner Evidenz trauen", sagt die Naturwissenschaft. "Du sollst deinen Nächsten besiegen wollen", sagt die Ökonomie. "Du sollst die Maschinen statt deiner arbeiten lassen, lass dich bedienen und versorgen", sagt die Technik. "Vor allem sollst du nicht stören", sagt die Bürokratie.

"Man kann von der Klaustrophobie der Menschheit in der verwalteten Welt reden, einem Gefühl des Eingesperrtseins in einem (...) netzhaft dicht gesponnenen Zusammenhang. Je dichter das Netz, desto mehr will man heraus, während gerade seine Dichte verwehrt, dass man heraus kann". (Th. W. Adorno, 1998, S. 676) Adorno hat darin recht: Wir sind eingesperrt. Aber er hat Unrecht in der Annahme, dass diese Verbarrikadierung mehrheitlich Fluchtimpulse auslöst. Die Klaustrophoben, die "Nichts wie raus hier" wollen, sind eine kleine Minorität. Die überwiegende Mehrheit der Ambitionierten will nicht raus, sondern rein und hält sich etwas darauf zugute, bestens "integriert" zu sein. Der Moloch erfährt viel Zustimmung und Bejahung. Und nicht die Furcht, von ihm verschlungen zu werden, sondern die Furcht, von ihm ausgespien zu werden, beherrscht die Systeminsassen.

Es reicht!

Wie wäre die Monokultur des Denkens aufzubrechen? Wenn das, was die Industriegesellschaft produziert, Müll ist, dann ist es der Mühe nicht wert; dann kann man es nicht brauchen, man braucht es aber dann auch nicht mehr. Der Müll wird entzaubert und diese Entzauberung entlässt uns in eine unerhörte Freiheit, die Freiheit, etwas nicht zu gebrauchen. Wir müssten uns also

1. der Einsicht stellen, dass die Wachstumsgesellschaft unfähig ist, etwas anderes als Müll zu produzieren. Das, worauf sich alle Rettungsbemühungen richten: die unablässige technische und bürokratische Innovation, müsste als der Kern des Übels erkannt werden. Die moderne Gestalt des Bösen ist nicht dämonisch, aber auch nicht nur banal, wie Hannah Arendt feststellte, sie ist innovativ. Wir müssten uns

2. der Erkenntnis stellen, dass das Kartell der großen vier jeden Versuch, ihm etwas entgegenzusetzen, das nicht aus seinem Geist ist, mit unerbittlicher Strenge und freundlichem Gesicht durch Integration unschädlich macht. Die heute korrekte politische Forderung in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen lautet "Integration", im soziologischen Uniquak: Inklusion. Was für eine willfährige Zuarbeit für ein alles verschlingendes, gefräßiges System. Ich plädiere für eine andere Bewegungsrichtung: Raus hier! Desintegration oder genauer noch Desertion, Systemdesertion.

3. scheint mir die Sorge um die Weltrettung nicht hilfreich, wenn wir uns in der Kunst des Auf hörens üben wollen. Niemand kann die Welt retten. Wer sich auf diesen Weg begibt, wird zwangsläufig frustriert. Die Empörung über die Freiheitsberaubung, die uns in den reichen Gesellschaften tagtäglich im Namen von Konsens, Konsum, Konkurrenz und Konformität und mit dem Versprechen von Sicherheit, von Zeitersparnis und von Bequemlichkeit und Anerkennung angetan wird, ist ein weit besserer Ratgeber. Gegen die Freiheitsberaubung kann ich opponieren mit einem unmissverständlichen "Es reicht!". Diese knappen beiden Worte, die zugleich vom Genug und von einer unerträglichen Zumutung sprechen, sind das Beste, was wir im Gepäck haben, wenn wir aufhören wollen.

4. Man müsste die Stirn haben, die Allmacht des Systems zu ignorieren. "Bange machen gilt nicht!", war eine Art Zauberformel unserer Kindheit, mit der wir einen übermächtigen Gegner "entwaffneten" und uns selbst Mut zusprachen. Es käme darauf an, seine enorme Macht zu erkennen, ohne sie anzuerkennen. Aber wie geht das? Wie gelangt man ins Abseits?

Womöglich sind heute Abseitse nicht mehr zu finden, sondern erst zu gründen. Das Abseits ist ein Ort für Deserteure. Der Deserteur ist der "Nicht-mehr-Mitmacher" par excellence; er ist Befehlsverweigerer, er entzieht dem Machthaber seine Mittäterschaft, indem er sich heimlich, still und leise, vor allem aber unerlaubt von der Truppe entfernt. Er gilt darum als feige, aber das kann ihm egal sein.

Abseitse

Es ist nicht von ungefähr, dass sich über die Abseitse so gar nichts Genaues sagen lässt. Solche Orte entstehen erst dadurch, dass da Menschen sind, die sie mit ihrer Anwesenheit füllen. Sie sind so unterschiedlich wie die Menschen, die sie besiedeln. Sie werden aus einer tiefen Abneigung gegen Gleichmacherei, Vereinheitlichung und Reih und Glied erschaffen. Es sind Stätten, in denen Menschen so zusammenwirken, dass nicht alles, was man zum Leben braucht, Geld kostet. Was umsonst ist, hat dort einen größeren Wert, als das, was man kaufen muss. Fürsorge ist wichtiger als Vorsorge. Kooperation und Teilen sind existenznotwendig, ebenso wie das Zusammenspiel verschiedenster Könnerschaften und Talente.

Das, was das Abseits aus dem Blickwinkel derer, die um Integration kämpfen, bedrohlich macht, erscheint den Systemdeserteuren gerade als das Rettende. Ihre Nicht-Zugehörigkeit verheißt ihnen ein Stück Freiheit, Ohn-Macht - jene Haltung, die nichts begehrt von dem, was die Macht verwaltet, am allerwenigsten die Macht selbst - gilt ihnen als radikale Form des Widerstandes. Sie fordern ein Recht auf Armut inmitten einer vom "Immer mehr" gepeitschten Gesellschaft. Zeit ist im Abseits nicht Geld, sondern Zeit. Und Arbeit ist nicht Lohnknechtschaft, sondern Eigenarbeit.


Literatur

Erich Fromm, in: Ivan Illich: Schulen helfen nicht. Über das mythenbildende Ritual der Industriegesellschaft, 3. Aufl., Reinbek bei Hamburg, 1976.

Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften, Berlin 1979 (33.-40. Tausend).

"Die Korruption des Christentums. Ivan Illich über Evangelium, Kirche und Gesellschaft. Teil 1", in: Ivan Illich, in den Flüssen nördlich der Zukunft, München, 2006.

Ivan Illich: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, München, 1998.

Zygmunt Bauman: Verworfenes Leben, Hamburg, 2005.

Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd.10/2, Darmstadt 1998.

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Immaterial World

Haben und Teilhaben

von Stefan Meretz

Menschen sichern ihre Existenz, indem sie ihre Lebensbedingungen herstellen. Sie tun dies jedoch in der Regel nicht ad hoc, also wenn sie aktuell etwas brauchen, sondern vorsorgend für den Fall, etwas in der Zukunft brauchen zu können. Wer etwas braucht, greift auf mehr oder weniger lange zuvor Produziertes zurück. Doch wem gehört dies Produzierte, wer verfügt darüber? Damit ist die Frage des Habens und des Teilhabens aufgeworfen.

Haben bedeutet, über Lebensmittel zu verfügen, um sie nutzen zu können. Lebensmittel sind dabei ganz umfassend gemeint: Nahrungsmittel, Denkmittel, Wissensmittel, Sozialmittel, Kulturmittel - alle Mittel und Strukturen, die wir zum Leben brauchen. Diese Lebensmittel stellen wir her. Nicht jeder Einzelne für sich, sondern wir füreinander. Es reicht somit nicht aus, nur über die Mittel selbst zu verfügen, sondern es ist ebenso bedeutsam, über die Herstellung dieser Mittel verfügen zu können.

Da wir nicht unmittelbar-subsistenziell, sondern vermittelt-tätigkeitsteilig (re-)produzieren, geht dies nur in Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess. Unsere menschliche Bedürfnisstruktur ist entsprechend gestrickt: Das produktive Moment unserer Bedürfnisse verweist auf die Herstellung, das sinnlich-vitale Moment auf den Genuss der Ergebnisse. Herstellung, weit verstanden, schließt auch Erhaltung und Sorge ein, die jedoch meist ungesehen bleiben. Kurz gesagt: Wir Menschen wollen beides, Teilhaben durch produktives Beitragen und Teilhaben durch Genießen oder profaner: durch Nutzen.

Das Verhältnis von Haben und Teilhaben sagt viel über eine Gesellschaft aus. Je umfassender die Teilhabe, produktiv wie sinnlich-vital verstanden, desto geringer die Notwendigkeit zur Habe. Haben ist eine Möglichkeit, fehlende Teilhabe zu kompensieren, denn Haben sichert der Habenden eine exklusive Verfügung. Gleichzeitig vermindert eben das exklusive Haben den Raum der Teilhabemöglichkeit für andere und erzeugt damit genau jene Notwendigkeit zur Kompensation - wiederum durch Haben.

Nehmen wir den Kapitalismus für einen detaillierteren Blick. Haben ist im Kapitalismus über Eigentum organisiert. Eigentum ist eine soziale Habensform der exklusiven Verfügung. Es ist der staatlich abgesicherte Ausschluss anderer von der Verfügung über sinnlich-vital oder produktiv nutzbare Mittel. Verfügungsein- oder -ausschluss bedeutet immer auch Teilhabeein- oder -ausschluss.

Es gibt nun zwei basale Formen, trotz Eigentum Verfügung und damit Teilhabe für die Ausgeschlossenen zu ermöglichen. Die erste Form ist der Eigentumsübergang: der Kauf (von der Gabe sei abgesehen). Über Gekauftes darf ich exklusiv verfügen, darf es verknuspern und auf diese Weise am sinnlichen Reichtum teilhaben. Allerdings benötige ich zum Kauf eine andere Eigentumsform: das Geld. Geld ist Anspruch auf Eigentum von anderen. Tatsächlich ist der Eigentumsübergang immer reziprok: Zwei Eigentumsformen wechseln ihre Eigentümerinnen.

Die zweite Form betrifft die Seite der produktiven Teilhabe. Sie ist mit der ersten Form verkoppelt. Um an die Anspruchsform Geld zu gelangen, ist wiederum ein Eigentumsübergang erforderlich: der Kauf bzw. Verkauf von Arbeitspotenzial. Das Potenzial wird durch die Käuferin in der Produktion eingesetzt, um mit dem mittels Arbeit hergestellten Eigentum - siehe erste Form - Geld beim Verkauf zu erlösen. Die Verkäuferin ihres Arbeitspotenzials wird für dieses bezahlt, die Produkte der Arbeit gehen allerdings in das Eigentum der Potenzial-Käuferin über. Ihr Ziel ist es, mehr Geld zu erlösen als in Maschinen, Material und Arbeitspotenzial hineingesteckt wurde, kurz: Profit zu machen. Soweit, so bekannt.

Zusammenfassung: Haben bedeutet Verfügungsausschluss von anderen. Verfügungseinschluss wird durch Tausch hergestellt: sinnlich-vital durch Erwerb von Eigentum, über das ich forthin verfügen und es verknuspern kann, und produktiv durch Teilhabe an der gesellschaftlich-vorsorgenden Produktion. Die Konsequenzen für die Bedürfnisbefriedigung sind dabei jedoch unterschiedlich. Während mir der Kauf des Knusper-Eigentums die exklusive Freiheit sinnlichvitaler Verfügung verspricht, trete ich mit dem Verkauf meines Tätigkeitspotenzials die Freiheit der produktiven Verfügung über mich selbst ab. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich diese Verfügung einer Chefin oder dem Sachzwang des Marktes unterordne.

Dennoch ermöglicht mir die Unterordnung meiner Verfügung unter einen fremden Zweck die Teilhabe an der vorsorgenden Herstellung der Lebensbedingungen. Ich rassele damit in einen Widerspruch: In meiner produktiven Tätigkeit liegt ein befriedigendes Moment, das jedoch immer wieder von der Entfremdetheit meiner tätigen Teilhabe gebrochen wird. Aber immerhin bringt sie mir mit dem Geld, das mir mein Potenzialverkauf einbringt, den sinnlich-vitalen Knusper-Eigentumsanspruch, mit dem sich fehlende und entfremdete Teilhabe kompensieren lässt - daher die große Bedeutung individuellen Konsums im Kapitalismus!

Ist also "Haben" das Problem, und wäre stattdessen "Sein" zu empfehlen wie Erich Fromm meinte? Haben ist kein Problem, sofern einige Bedingungen gegeben sind. Erstens ist es kein Problem, wenn genug für alle da ist, sodass andere trotz individueller Verfügung nicht vom Knuspern ausgeschlossen sind. Zweitens, wenn das genug Vorhandene frei zugänglich ist, also kein Eigentumswechsel, kein Tausch zwischen mir und dem sinnlich-vitalen Knuspergut steht. Drittens, wenn ich frei und damit selbstbestimmt über mein produktives Tätigkeitspotenzial verfügen kann und nicht gezwungen bin, es unter einen fremden Zweck zu stellen. Denn das Tätigkeitspotenzial, um gesellschaftlich-vorsorgend teilhaben zu können, habe ich.

Mehr Haben braucht es für ein gutes Sein nicht. Knicken wir also mit dem Eigentum den wechselseitigen Ausschluss und ersetzen ihn durch kollektive Verfügung, und verzichten wir auf Tausch und Herrschaft und ersetzen sie durch freie Verfügung über das eigene Lebenspotenzial. Dann und erst dann ist individuelles Haben kein Problem. Doch reicht das aus, um den Kapitalismus loszuwerden? Wir wissen es nicht, doch ohne kollektive und individuelle freie Verfügung, ohne eine alle inkludierende Freiheit, ist Commonismus, ist eine freie Gesellschaft nicht zu - haben.

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Am Ende des Metabolismus
Über die irre Himmelfahrt des Kapitalozäns

von Nikolaus Dimmel

Warum Leute reich werden und bleiben ist bereits hinlänglich gesagt. Brechts Diktum, dass Armut und privater Reichtum miteinander funktional verbunden sind, dass der private Reichtum Einzelner auf der relativen Verarmung der Vielen beruht, ist allgemein geläufig. Marx unterstrich, dass das Kapital, dargestellt durch die Charaktermasken der Eigentümer, von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend zur Welt gekommen ist. Und T.J. Dunnings Befund, dass das Kapital ausschließlich durch Profit stimuliert wird, es bei 20 % kühn, bei 50 % waghalsig wird, bei 100 % das Recht bricht und bei 300 % kein Verbrechen mehr existiert, das es nicht riskiert, wurde von den Robber Barons der "gilded age" über die Industriekapitäne als Financiers des Faschismus, die russischen Oligarchen der Jelzin-Ära bis hin zu den modernen Plutokraten empirisch unterlegt. Seit knapp 40 Jahren beruht der Modus der Akkumulation privaten Reichtums zudem auf einer material-neokolonialistischen, imperialistischen Landnahme durch IWF, Weltbank oder Troika, abgebildet in agrarischen Monokulturen (Palmöl, Soja, Orangen, Kaffee), systematischer Übernutzung (Überfischung, Austrocknung durch hypertrophe Grundwasserentnahme) und Ressourcen- bzw. Weltordnungskriegen (Irak, Syrien).

Dynamische Ungleichheit

Seit der neolithischen Revolution - nämlich der Entstehung von Eigentum, Ungleichheit, Recht, Geld und Schulden - treibt privater Reichtum den sozialen Konflikt voran. Denn Reichtum bedeutet dynamische soziale Ungleichheit: wer hat, dem wird gegeben. Überwiegend gilt ungeachtet aller Legitimationsmärchen der Reichtumsverteidigungsindustrie: Reich wird man nicht, reich ist man von Geburt an. Seinen gesellschaftlichen Ausdruck findet der private Reichtum in Arrogation, Ausgrenzung (Ausschluss) und Distinktion, abgesichert durch die Verfügung über Geldkapital, Boden, Produktionsmittel und ausbeutbare Arbeitskraft. Bis zur Protoindustrialisierung spielt privater Reichtum als Bodenvermögen, ab der industriellen Revolution als Eigentum an Produktionskapital, ab Ende des 19. Jahrhunderts als Finanzkapital der Banken, ab den 1980er Jahren als Geldreichtum der Investoren die jeweils dominante Rolle.

Nach dem Ende des fordistischen Manager-Kapitalismus (stabile, moderate Wachstumsraten, Beschränkung des Einkommensdifferentials, realwirtschaftlicher Fokus der Banken) wird privater Reichtum beinahe ausschließlich auf Aktien- und Immobilienmärkten "erwirtschaftet", besser: herbeispekuliert. Folgerichtig treten neben die ErbInnen in den Dynastien alten Geldes (Robber Barons, Bankhäuser, Industrie-Clans wie BMW) nunmehr auch Self-Made-Milliardäre, die schnelles Geld durch kreditfinanzierte Wetten machen. Realiter bleibt deren Anteil minimal. Bestand haben jene Reichen, deren Reichtum wie in Italien über Jahrhunderte dynastisch gewachsen ist und von Vermögensverwaltern differenziert "gehedgt" wurde.

Zentrale Akteure der Reichtumsproduktion sind im finanzmarktgetriebenen Kapitalismus Investment-Fonds (Aktien, Renten, Immobilien). Diese erzwingen in Unternehmen kurzfristige Strategien der Profitmaximierung, in Staaten Politiken der Privatisierung, Austerität und Vermarktlichung der Daseinsvorsorge. Ihre Interventionen sind abstrakt, anonym und sachlich. Hinter dem Geldverhältnis als Ausbeutung, Aneignungs- und Akkumulationsverhältnis von Reichtum verschwindet jeder Anschein personifizierter Klassenherrschaft. Nunmehr regieren anonyme und globale Marktkräfte auf einem deregulierten Finanzmarkt. Dieser ist substantiell auf kollektiven Wahnvorstellungen aufgebaut und ermöglicht es institutionellen Anlegern, risikolos und durch staatliche Ausfallshaftung abgesichert nach "greater fools" für ihre riskanten Finanzinstrumente zu suchen.

Bewegungskrieg des Kapitals

Dieses Regime des Finanzkapitals bzw. der Geldreichen beruht auf einer explosionsartigen Auf blähung des Geldvermögens durch eine Politik des billigen Geldes, dem "bail-out" von Finanzmarktakteuren, einer Umschichtung von Kapital aus dem realwirtschaftlichen in den finanzwirtschaftlichen Bereich sowie auf einem System "generalisierter Monopole" als Ergebnis der Zentralisation des Kapitals. Dadurch wird nicht nur den imperialistischen Monopolen eine von der Mehrwertmasse abzuzweigende Monopolrente durch den Staat garantiert, sondern kommt es auch zu einer fortschreitenden Konzentration von Einkommen und Vermögen, sozial eingefasst in oligarchisch-plutokratischen Elite-Netzwerken einer "transnational capitalist class", wechselseitig verflochtenen Aufsichtsräten und Elite-Universitäten, die mit der Produktion von sozialem Kapital befasst sind.

Auf eben diesem Weg hat sich der Geld-Nexus als institutionelles Arrangement der Share-Holder durchgesetzt, in dem finanzieller Reichtum geschaffen werden kann, ohne mit realwirtschaftlichen Produktionsprozessen verbunden zu sein. Privater Reichtum entsteht folgerichtig durch die Zerstörung von Produktionsanlagen, die "Freisetzung" doppelt freier Lohnarbeitskraft, die Filetierung von Unternehmen und die Durchsetzung einer Shareholder-Value-Leitideologie im Management der Unternehmen. Billionen an dergestalt erwirtschaftetem "fictitious capital", welches nur in Form von elektronischen Buchungszeilen ohne irgendeinen korrespondierenden materiellen Wert existiert, werden in die Ausweitung des Kredit- und Anlagegeschäftes mit sozial absteigenden Privatkunden gepumpt (Konsumentenkredite, Hypotheken, private Altersvorsorge). Privater Reichtum basiert heute auf einer globalen Verschuldungsökonomie, einem "privatisierten Keynesianismus". Daher sind Konzerne längst dazu übergegangen, neben ihrem Produktionszweig einen Banken- und Versicherungszweig zu etablieren. Fortwährend wird im produzierenden Bereich desinvestiert, um im Spekulationsgeschäft (Finanzprodukte, Rohstoffe, Immobilien) höhere Renditen zu erzielen.

Dieser Bewegungskrieg des Finanzkapitals und seiner Geldreichtümer beruht auf zentralen Eigenschaften des Geldes. Denn Geld generiert auf paradoxe Weise als soziales Verhältnis Gleichgültigkeit und Entgrenzung. Während der Sklavenhalter seinen Sklaven paternalistisch versorgt, der Feudalherr seinen Hintersassen am prekären Leben lassen muss, der (Produktions-)Kapitalist spätestens seit der Human-Relations-Bewegung um die Motivation, Innovationsbereitschaft und Selbstorganisationskompetenz seiner MitarbeiterInnen bemüht ist, kann es dem Investor gleichgültig sein, wer die Vermehrung seines Reichtums zu welchen sozialen und ökologischen Kosten besorgt. Er ist institutionell abgesicherter Experte der Externalisierung von Folgekosten.

Solcherart generiert der Reichtum an Geld Gleichgültigkeit, weil es zwar ein soziales Verhältnis ist, aber zugleich auch soziale Verhältnisse auflöst, in dem es Menschen zu Trägern von Waren und damit zu Charaktermasken des Marktverkehrs verwandelt. Es wirkt entgrenzend, weil Geld als allgemeines Äquivalent beliebig auf häuf bar ist, zumal der Statuswettbewerb nach "oben" hin keine funktionale Grenze kennt. Akkumuliertes Geld generiert also Gier. In der Tat wird das Streben nach Geld mit Teilnahmslosigkeit, Mitleidlosigkeit, Rücksichtslosigkeit, also Bindungslosigkeit, den Merkmalen eines narzisstischen Sozialcharakters assoziiert, entfaltet gesellschaftliche Zersetzungskraft, gilt als Zerstörer des Gemeinwesens. Unterhalb seiner verhüllenden Oberfläche tendiert das Geld als Schulden(kredit) und soziales Verpflichtungssystem dazu, sich schrankenlos zu vermehren.

Sexualisierung des Geldes

Dem kommt die Biologie zupass. Denn das menschliche Gehirn verarbeitet den Umgang mit Geld ebenso wie die Reflexion der eigenen Statusposition primär emotional. Reichtum, Gewinne und Bonuszahlungen, aber auch Verluste und Einkommenseinbußen werden im Belohnungszentrum des Gehirns verarbeitet. Die euphorische Stimmung der geldreichen Investoren, die in Hype und Hysterie um Geld an Börsen wetten, spiegelt ein Sucht- und Risikodispositiv. Längst hat die Neurobiologie Keynes' These, dass die meisten getroffenen wirtschaftlichen Entscheidungen keineswegs rational begründet und mathematisch kalkuliert sind, sondern Ausdruck sexualisierter "animal spirits" sind, bestätigt.

Dies erklärt die affirmative Fixation der Subalternen und Modernisierungsverlierer auf den Geld-Reichtum-Nexus. Auch "Habenichtse" weisen das Ansinnen einer Vermögensbesteuerung entrüstet zurück, gehen sie doch kontrafaktisch davon aus, im Spiel der Zocker um Geld auch einmal Erfolg zu haben, also Geldreichtum aus (Spiel-)Geld machen zu können. Und für eben den Fall möchte man bitte schön keine Steuern zahlen. In der diesem Fehlgriff zugrunde liegenden Engführung von Geld und Hysterie (als männlicher Projektion auf weibliche Affektivität, Neurosen und Autoaggression) spiegelt sich die Sexualisierung des Geldes. In der Tat sind der Umgang mit Geld und damit auch die gesellschaftliche Akzeptanz der Geldreichen, der Finanzialisierung sowie des privatisierten Keynesianismus von der Kraft des Unbewussten getrieben und entziehen sich einer Vereinnahmung durch die Prinzipien der Logik. Nicht nur Akteure des Finanzmarktkapitalismus, sondern auch die Ausgeplünderten der FinanzialisierungsBonanza treffen Entscheidungen substantiell irrational, "aus dem Bauch heraus". Hinzu kommt, dass privater Reichtum seit Jahrtausenden religiös verbrämt bzw. konnotiert wird. Wie der Calvinismus und die protestantische Ethik gelungene Arbeit und Profitmachen als "Gnadengewissheit" verstand, so präsentiert der CEO von Goldman-Sachs im Ausschuss des Repräsentantenhauses sein Investment als Gottesdienst. Geldhandelsplätze (Börsen) fungieren als Kirchen, in denen Kursverluste als göttliche Strafen, niedrige Renditen als Fegefeuer daherkommen.

Profitmotive, Zwänge der Kapitalverwertung und die soziale Systematik des Geldes prägen also den Metabolismus des Kapitals, die fortwährende kapitalistische Landnahme als Markterschließung sowie die Umwandlung aller Ressourcen und sozialen Verhältnisse, aber auch der Ideen und Körper in Waren. Im Gefolge der neoliberalen Gegenreformation und des Etappensiegs des Finanzkapitals in einem nunmehr finanzmarktgetriebenen Akkumulationsregime der ShareHolder, Investmentbanken, Hedgefonds und Rating-Agenturen stößt dieser Metabolismus indes an ökonomische, ökologische, soziale und Ressourcengrenzen.

Die drastisch gesteigerte Vermögensungleichheit führt nämlich zur Schwächung jedweder Prosperität, weil Geldreiche ökonomisch parasitär agieren. Sie privatisieren gesellschaftlich erzeugten Reichtum, schlachten bestehende Produktionskapazitäten aus und ab, zerstören gewachsene Infrastrukturen, eignen sich Privatisierungsgewinne an und sozialisieren die jene Gewinne bei weitem übersteigenden volkswirtschaftlichen Verluste, entziehen fortwährend investives Kapital dem realwirtschaftlichen Kreislauf. De facto geht also die rechnerische Reichtumssteigerung der VGR als BIP mit abnehmenden Wohlfahrtseffekten einher. So groß der private Reichtum auch ist - 1 % verfügt über knapp 100 Billionen Euro, 0,001 % der Weltbevölkerung kontrollieren 30 % des Finanzvermögens, 6 Personen eignen so viel wie die untere Hälfte der Menschheit -, er wird bei weitem übertroffen vom Negativvermögen (Schulden) der sozialen Absteiger und der öffentlichen Hand: 2016 betrugen die globalen Schulden 245 % der Wirtschaftsleistung bzw. 214 Billionen US-Dollar.

Es ist zu viel Geld in den Händen von wenigen. Privater Reichtum wird unter Bedingungen der Finanzialisierung daher nicht mehr wie bei Veblens "Leisure Class" durch Müßiggang, Dandytum, das Erlernen toter Sprachen, Manieren oder "Hochkultur"-Konsum demonstriert, sondern durch extremen Natur- und Ressourcenverbrauch, eine Pathologie nicht mehr nutzbarer Möglichkeiten, wie Gentrifizierungsprozesse, die Privatisierung des vordem öffentlichen Raums, das "Antilia Building" von Mukesh Ambani in Mumbai, in dem 5 Personen auf 37.000 qm leben, oder Super-YachtenWettbewerbe der Ultra High Net Worth Individuals mit Vermögen von mehr als 30 Mio. US-Dollar zeigen.

Pathologie des Reichtums

Derlei demonstrativer Konsum von Luxus(gütern) hat zugleich desaströse ökologische Folgen. Im Metabolismus der superreichen Oligarchen erreicht deren ökologischer Fußabdruck das 10.000-fache des gesellschaftlichen Durchschnitts. Ökologisch hinterlässt die Aggregation privaten Reichtums eine verbrauchte (vergiftete, versteppte, abgeholzte, überhitzte, übersäuerte) Biosphäre. Im aktuellen Klimawandel kündigt sich an, dass die Reichen, selbst wenn sie stets abflugbereite Helikopter auf den Dächern ihrer Investorentempel bereithalten, längst Immobilien auf Neuseeland, in der Schweiz oder Österreich erworben, eine Reihe von Staatsbürgerschaften gekauft und ihre Körper lebensverlängernd optimiert haben, der Verwüstung der Biosphäre nicht entrinnen werden. Die Idee, Kolonien der Geldmacher im Weltall zu errichten, reicht allenfalls bis Hollywood; realistisch umsetzbar ist sie derzeit nicht. Schon wird die phantastische Idee der Reichen, mittels einer "Superintelligenz" nach Erreichen der Singularität künstliche Intelligenz mit der Schaffung ewigen Lebens durch die Hybridisierung von Mensch und Maschine, synthetisches Leben und die Digitalisierung des menschlichen Gehirns zu beauftragen, durch Klimawandel, Ressourcenerschöpfung und die Irrationalität des neuen (protofaschistischen) Führerkults unterlaufen.

Auf diese Weise fungiert privater Reichtum an Geldkapital als Teil eines ökonomischen Selbstzerstörungsmechanismus und als gesellschaftliches Verhängnis. Er etabliert vermittels Eliten und Märkten eine Zwangsstörung, eine kollektive kognitive Dissonanz, ein ehernes Gehäuse der Hörigkeit, dem die Akteure nicht entrinnen. Er zerstört als Treiber des Kapitalozän Lebensgrundlagen in globalem Maßstab und steuert auf einen klimatischen Kipppunkt zu. Seine Charaktermasken zwingen das Management von Unternehmen kontrafaktisch unter das Prinzip des "Shareholder-Value" und reduzieren damit reale Wertschöpfung. Das beschleunigt zudem den Fall der durchschnittlichen Profitrate. Sie drängen die ebenso unverständige wie korrumpierte politische Dienstklasse dazu, die gesamte staatlich regulierte Daseinsvorsorge (Pensionen, Spitäler/Gesundheit, Wasser/Strom/Kanal, Straßen, Verkehrsmittel) privaten gewinnorientierten Akteuren zu übertragen, und zwingen die Gesellschaftsmehrheit dazu, weit unter ihren Möglichkeiten zu leben. Digitalisierung und "Surveillance", Arbeit 4.0 und Kapitalismus 4.0, Robotik und Automatik eröffnen zugleich neue Perspektiven auf künftige Gewaltpraktiken der herrschenden Klasse. Dergestalt steuern der Finanzkapitalismus und seine Geldreichen auf ein Ende des Konzeptes der bürgerlichen Gesellschaft zu.

Blöd nur, dass sie uns dabei ein Stück des Weges mitnehmen.

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Nichts haben und nichts sein

Eigentlich tue ich wenig anderes, als zu konsumieren. Die Konsequenz davon ist, dass ich viel habe. Ich besitze einige tausend Dinge. Wahrscheinlich besitze ich sie genauso wenig wie die Bäume vor "meinen" Fenstern, aber etwas in mir meint, sie gehören zu mir wie meine Zähne oder meine Nieren. Manchmal denke ich, wie schön es wäre, nichts zu haben und nichts zu sein. Jetzt denke ich so. Früher war es schön, mein Leben mit Dingen zu bereichern. Jetzt fällt das auf mich zurück. Längst fordere ich eine neue Identität, man verändert sich, die Dinge bleiben. Zwar verdrängen allmählich neue Dinge alte - manche wurden kaputt, andere verräumt -, doch ganz kann mich das nicht mehr überzeugen. In mir spricht eine Stimme: Mach dich frei von allem! Sei nichts, erst dann bist du wirklich!

Manchmal kann ich die Dinge und Sitten, die meinem Leben einen Rahmen geben, überaus schätzen, aber manchmal will ich keinen Beruf mehr haben, keinen fixen Wohnort, kein Gewand, das mehr ist als Hülle und Schutz. Ich will keine vorhersehbare Zukunft mehr haben, kein Handy und keine Schranken im Kopf. Was hält mich also? Was macht mich benehmen, warum funktioniere ich so gut? Für den Zen-Meister wäre der Fall klar: Ich habe mich mit allem, was um mich herum ist und als "meines" vermute, identifiziert. Demnach halluziniere ich meine Identität. Tatsächlich gehört mir weder mein Körper noch meine Bedürfnisse oder irgendetwas anderes. Das alles ist einfach und ich bin Teil, nicht Besitzer.

Ich entsinne mich der Geschichte des beraubten Zen-Mönches, der, nachdem er den Räuber unbeabsichtigt bei dessen Arbeit in der Mönchshütte gestört hatte, diesem nachsetzte, um ihm noch Brot zu geben - ohne Erfolg. So blickt er in den Nachthimmel und seufzt: "Ach, könnte ich ihm doch nur den Mond schenken". Diese Einstellung zum Eigentum scheint mir die einzig erquickende. Der Mönch fühlt sich eins mit dem Mond sowie mit dem Dieb und weiß nicht, wie er dieses Gefühl dem Durstigen vermitteln kann, dessen Durst nach Dingen wahrlich der Durst nach dieser Eins-Werdung ist -, und seufzt.

Eine Re-Identifizierung kann auch bedeuten, eine neue Sicht auf die Dinge zu bekommen. Erst wenn wir aufhören, den Verlust von etwas zu fürchten, kann es uns glücklich machen. Eine stille, kleine Freude können uns Dinge und Wesen nämlich machen. Schön, sie zu betrachten, sie zu spüren und wieder zurückzustellen beziehungsweise sie wieder zu lassen. Kurz darf man sie lieben und sie dann wieder sich selbst überlassen.

So liebe ich meine Teeschalen. Sie stehen auf dem Regal und sind Teil meiner Welt wie die Bäume vor dem Fenster. Ich nehme eine von ihnen und sprudle darin leuchtend grünen Matcha-Tee auf, frische Lebendigkeit durchdringt mich und die Schale, sie liegt in meinen Händen, die sie nur für kurze Zeit halten können, dann stelle ich sie zurück. Es sind alte Schalen, die schon in anderen Händen lagen. Teespuren, also Verfärbungen, Kratzer und Reparaturen sind zu sehen. Wer weiß, wer einmal daraus trinken wird oder wird jemand einen Kaktus darin pflanzen?

Lukas Hengl

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Bleibt dann wohl nur das "Haben"

von Karl Kollmann

Wenn es noch immer nichts wird mit einem geglückten "Sein", dann kann man sich nur auf das "Haben" stürzen und sich mit ein klein bißchen Luxus entschädigen. Das könnte ein schnoddriges Kurzrésumé von Erich Fromms Buch "Haben oder Sein" abgeben, wenn es jemand nach vierzig Jahren erneut zur Hand nimmt. Leider!

Natürlich ist es - abgesehen von Schmerzen, Krankheiten und Gewalt durch Andere - eine ganz große Quelle von persönlichem Leid, wenn die Welt nicht so ist oder so wird, wie einer sie nach eigenem Dafürhalten gern hätte. Das macht persönliches Leid, kann jedoch vielfach Antrieb zu Veränderungen sein; genau darauf gründet alles, was sich fortschrittlich nennt, egal nun, ob es heute als "links", "liberal" oder "konservativ" daherkommt oder so bezeichnet wird. Sich Fortschritt, verstanden als ein besseres Leben, zu wünschen, ist unabhängig von links oder rechts, unsere Kant'sche "Aufklärung" (bediene Dich selbst Deines Verstandes) war nicht links.

Die Auflösung der Linken

Selbstmitleid und Selbstzensur - beides ist eine unerbittliche Konsequenz der Sehnsucht nach einem besseren Leben, damit nach einer irgendwie gerechteren, weniger gewaltsamen Gesellschaft, und genau so etwas wäre dann "links", wenn es sich in entsprechende Tätigkeiten umsetzen ließe. Jedoch, da hat sich wenig getan seit 1524, also den ersten Aufständen von Bauern gegenüber ihrer feudalen Obrigkeit und dem Klerus; erinnert sei an Thomas Müntzer. Seit damals hat es viele Aufstände, viel an Rebellion gegeben, aber wirklich, also ernsthaft qualitativ geändert hat sich mit der Gesellschaft nicht viel. Unrecht, Macht, Ausbeutung, Gewalt und Leid sind geblieben, freilich meist in weit subtileren Formen, samt einem zweifellos ganz wesentlich höheren Lebensstandard.

Wie in einer gigantischen viralen Epidemie ist es heute so, als ob der Großteil der sich als linksliberal verstehenden Gesellschaftshälfte (in Deutschland, in Österreich sind es deutlich weniger Linksgetönte) von materiellen Fragen gesellschaftlicher Ungerechtigkeit auf ideelle Fragen kultureller Ungerechtigkeit umgepolt worden wäre. Heute geben, bis auf kleine Gruppen, Befindlichkeitsund Identitätspolitik den Ton an, statt einer ökonomieorientierten Sozialpolitik; das ist sehr praktisch für das System des Spätkapitalismus. Vor pathologischen "Schneeflöckchen", die sich bei jeder gefühlten Ungerechtigkeit in die Hose machen oder in Schreikrämpfe ausbrechen, braucht der militärisch-industriell-politisch-mediale "Komplex" nämlich keine Furcht mehr zu haben, die zerreiben sich selbst und bringen später einmal die Gesundheits- und Therapieindustrie zu neuen Blüten. Was sich als zeitgenössischer kleiner Wahnsinn von Diversity, SJW (Social Justice Warrior) und Identitätspolitik manifestiert, sollte und müsste an sich entsprechend benannt und gebannt werden. Das alles taugt nämlich nichts für authentische Veränderung, es bleibt kindisch und albern. Vielleicht kämen dann wieder mehr Menschen auf die Idee, über materielle Gerechtigkeit in Europa nachzudenken, oder was Freiheit denn nun wirklich wäre.

Der kleine Luxus

Wenn das Sein für den subjektiven Sinn nicht viel taugt, dann bleibt offenbar nur das Haben, das zum haltgebenden Charakter in einer fluiden Gesellschaft (wie Zygmunt Bauman das genannt hat) wird. Nein - es wird nicht, das war mit dem Haben genau besehen doch immer schon so. Stets haben Menschen mehrheitlich auf "Haben" gesetzt und dem Habenwollen nachgegeben.

Die sogenannte alternative 1968er-Generation hat sich ebenfalls an ihre Wohlstandswaren gehängt, ähnlich wie die verachtete Mehrheit, sie waren halt teilweise aus einem anderen Sortiment. Esoterik, neue Musik, Drogen, Shabby Chic und ungewohnte Accessoires, bis zu kleinen Tabubrüchen und dazu etwas aus dem Luxussortiment, beim Essen, Trinken ab und zu, und natürlich bei den Schallplattenspielern und Lautsprecherboxen. Das ist keine Erfindung der Hipster-Mode aus den 1990ern, sondern das ist sogenannte alternative 1968er-Attitüde gewesen, selbst beim dezidiert linkspolitischen Flügel. Mit dem Auto war das so eine fatale Sache, die 2CV- oder R4-Fahrer wären meiner bescheidenen empirischen Erfahrung nach mehrheitlich gern einen Porsche gefahren, wenn nur das Geld gereicht hätte. Das Auto war ein gutes Objekt für praktizierte Selbstzensur: ein teures hat es nicht gespielt also geht es ohnedies, als allgemeine Regel, gar nicht, denn das wäre ja praktizierter Kapitalismus pur! Aber man muss da nicht in die alten Details hineinsteigen, wie sich die alternativen Leute damals in ihr Weltbild zurechtgebogen haben.

Die Falle

Kleiner (aber ebenso großer) Luxus, den man sich leistet, das Außergewöhnliche, hält nur für kurze Zeit. Nach spätestens vierzehn Tagen hat man sich schnell daran gewöhnt und das Kapriziöse, das vorher Herausgehobene, Besondere, ist unversehens zur üblichen, zur faden Normalität abgesunken. Insofern verschafft der "Ratchet"-Effekt (Ratchet - Sperrklinke) dem Gewohnheitstier Mensch einen stetigen Zwang zur Erneuerung, zu Innovation, zu immer mehr Luxus, sofern eben das Geld reicht; Thorstein Veblen (Theorie der feinen Leute) hat das für die Klassen der Bourgeoisie aufwärts schon früh beschrieben, Georg Simmel, der sich eine Zeit lang als Sozialist verstanden hat (Philosophie des Geldes) ähnlich. Grundbedürfnisse entwickeln sich rasch zu "Begehrlichkeiten" (Werner Böhme: Ästhetischer Kapitalismus), also zu sekundären Bedürfnissen, und die sind nicht mehr so simpel sättigbar wie Hunger oder Sex; das was Hersteller heute anbieten, hat dann eben einfach kein Ende mehr und die Menschen kaufen.

Dies auszunützen ist das simple Geheimnis des Kapitalismus, und es sich gefallen zu lassen, ist das grundsätzliche Problem, es ist das Versäumnis der Konsumenten, die Menschen heute zuallererst sind und sein wollen.

Eine dritte Natur

Tatsächlich sind diese sekundären Bedürfnisse, die unendlich steigerbar sind, der viele kleine Luxus, den man sich gönnen will, und insofern gönnen muss, da die anderen aus dem eigenen Milieu das auch tun, jene Schienen, auf denen der Spätkapitalismus in die Zukunft fährt. Die unbändige Lust an persönlicher Ausstattung, Komfort, Lebensgefühl, Stil-Bekenntnis, Teilhabe, Anerkennung, Beneidetwerden, Genuss, kreist primär um den "Inszenierungswert" der Güter (Gernot Böhme). Diese Lust hat eine intensive ideelle Komponente - wäre sie nur materialistisch, dann würden die Menschen die Preisschilder an ihren Konsumgütern dranlassen, so dass man ihre Leistung mit einem Blick sehen könnte. In der Art: aha, sie ist heute mit 10.000 Euro Textilien, Accessoires und einem 50.000 Euro Auto bekleidet. Das läuft alles subtiler, mehrdeutiger, weitaus variantenreicher im Ausdruck, zeit- und reflexionsaufwendiger.

Die zweite Natur des Menschen war das gesellschaftliche und ökonomische Geflecht, das sich über simple Triebbefriedigung (und öfter noch: den Befriedigungsaufschub) legte. Das Freud'sche Realitätsprinzip in glasklarer Härte, das sich später als Marcuse'sches Leistungsprinzip offenbarte. Was zählt, ist Erfolg im Beruf (gegebenenfalls auch als Krimineller), denn davon rührt der Erfolg beim Konsum. Und da die Verlockungen der Konsumangebote unendlich groß sind - wer strebt nicht nach mehr Lebensqualität? - bleiben Menschen fügsam, stellen die reale Struktur nicht in Frage. Das wollen sie einfach nicht.

Jedoch, im mittlerweile fortentwickelten Spätkapitalismus, dem nunmehr nach 1989 alleinig relevanten Lebenswelt-System (China und Kuba sind da nur Nachzügler), hat das alte ökonomische Geflecht der marktwirtschaftlich materiell-ökonomischen Bedarfsdeckung an Bedeutung verloren. Es wurde durch den werblich applizierten "Inszenierungswert" der Güter ergänzt bzw. ersetzt. Das heißt, es hat sich eine Art dritte Natur des Menschen herausgebildet, die vom Materiellen technisch abgelöst, fiktionale Erlebniswelten schafft und damit auf eine breite Resonanz bei den Menschen gestoßen ist. Die meisten wollen diese dritte Lebenswelt und fühlen sich wohl damit. Sie (die armen ausgebeuteten Subjekte aus traditioneller Sicht) sind jetzt zu Mitveranstaltern und Darstellern bei diesen Ensembles der Inszenierungswerte geworden. Damit ist man ziemlich immun gegen Veränderung, Aufstand, Rebellion, das interessiert heute nicht mehr. Für die große Mehrheit ist das Bestehende einfach okay (selbst für die Verlierer), und die erreichten Konsumstandards sind zu sichern, alles andere gilt als weltfremd.

Gesellschaftliches Wohlverhalten

Zurück zum Thema selbst. Andererseits spricht gar nichts gegen etwas Luxus; ein Mensch lebt immerhin nur einmal und am Ende ist es endgültig aus. Altern, Krankheit und der Tod votieren also für das Außergewöhnliche und etwas Teurere, ja warum denn nicht. Nur die beschränkten finanziellen Möglichkeiten und dann der Geiz, der vielen Menschen inhärent ist, oder die alte Generationenvorsorge (fürs Enkerl sparen) halten dagegen.

Natürlich: Konsumenten sind von vornherein benachteiligt. Sie wissen wenig (da sind ihnen die Anbieter voraus), sie kennen sich rechtlich nicht so gut aus (da sind ebenso die Anbieter im Vorteil), sie sind kaum zu organisieren (auch da haben Anbieter einen wesentlichen Vorteil), und vor allem: sie halten werbliche Images für eigene, persönliche Motive. Verbraucher sind damit ökonomisch grundsätzlich Verlierer.

Sich selbst gegen schlechte Umstände zu wehren, wäre wohl der entscheidende Schlüssel für Veränderung, egal ob es um die Plutokratien in Afrika geht oder den Konsumwahnsinn in Nordamerika und Europa. Gutmütig helfender Paternalismus ist da nichts anderes als Valium. Wer unzufrieden ist, soll sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und die Wirklichkeit gestalten, statt im Kaffeehaus zu sitzen und Märchen zu erzählen. Das gilt für wohlstandsverwahrloste Schneeflöckchen und ebenso für Migranten. Aber nein, das konsumistische Wohlstandsversprechen und die bunte Warenwelt haben längst die ganze Welt verseucht. Für Prolls sind Guchi-Taschen und Levys-Jeans essentiell, für die untere Mittelschicht die aktuelle SUV-Marke und der Traum vom Eigenheim im Grünen, für die gehobene Mittelschicht die Frage nach der passenden, teuren, mechanischen Schweizer Uhr und dem ultimativen Malt-Whisky. Linksliberale und Grüne bemühen sich daneben um Bio- und Regionalwaren, schönen Strom, Jute statt Plastik (wie vor 30 Jahren), dazu Manufaktum, oder was sonst gerade chic ist. Das sollte man nicht sagen, da man sich damit unbeliebt macht, aber diese Konsumenten sind besonders anfällig für das, was als "premium mediocrity" (ribbonforum.com) speziell für sie produziert wird. Der Spätkapitalismus ist schlauer als seine Verbraucher.

Das Zeitalter der sexuellen Attraktivität oder der romantischen Liebe (eine seit dem neunzehnten Jahrhundert sich breit machende Idee) scheint bald wieder vorbei zu sein. Eine aktuelle Studie der Deutschen Bundesbank zeigt, dass für die Wahl eines dauerhaften Partners dessen zu erwartendes Erbe in einem hohen Maß bedeutsam ist. Konsumfähigkeit, also das Ensemble der Selbstdarstellungs- und Inszenierungsmöglichkeiten sich zu erhalten, ist den Menschen wichtig. Diese machen die subjektive Identität der Menschen aus. In unseren längst schon oberflächlich grün inspirierten Erziehungsrepubliken erodiert die Meinungsfreiheit, bei einem blöden, missglückten Witz über Frauen oder nichteinheimische Analphabeten kann sich einer schnell vor dem Strafrichter wiederfinden; persönliche Lebenswelten zu zerstören ist heute in Ordnung, wenn es "der guten Sache" dient.

Weit haben wir es gebracht. Denn über Arme darf man sich ungestraft lustig machen und sie verachten. Auch unter Mitwirkung der Sozialdemokraten und der Grünen hat man diesen Armen das Leben sozialpolitisch schwer gemacht, Stichworte: Lohnentwicklung des unteren Drittels, eine seit Jahrzehnten fehlende Arbeitszeitverkürzung. Längerfristiges Denken hat man gern unter der Decke gehalten, dafür schon früh dem kleinen Luxus gefrönt - ich erinnere mich noch gut an die mit genagelten Schuhen, Maßanzügen und einer unübertrefflichen Arroganz ausgestatteten Ministersekretäre sozialdemokratischer Bundesminister der 1990er Jahre, die ihre konsumistische Banalität und ihre intellektuelle Armseligkeit gern über mich ausgegossen haben.

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Dead Men Working

Wir Habe-Nichtse

von Maria Wölflingseder

"Dem Armen zeigt die Welt ihr wahres Gesicht." Ein Zitat von Adolf Holl, jenem 88-jährigen Theologen, Soziologen und Publizisten, dem in den 1970er Jahren die Ausübung des Priesteramtes und die Lehrbefugnis wegen Unangepasstheit an die katholischen Dogmen entzogen wurden.

Ja, wir Armen spüren besonders deutlich, was in der Welt tatsächlich gespielt wird, welche Rolle für die Menschen vorgesehen ist: nämlich in erster Linie die von Marionetten, die Geld erwirtschaften. Heute ist die Nachfrage danach jedoch stark geschrumpft. Also sollten wir überflüssigen Spielfiguren wohl am besten verschwinden. Um es nicht ganz so direkt zu sagen, werden rechtlich zugesicherte soziale Hilfen angeboten. Allerdings oft ziemlich unwirksame. - Das Gesicht der Welt mag zwar nicht so schwer zu erkennen sein, aber kaum jemand möchte es wahrhaben. Kaum jemand getraut sich, die makabren Spielregeln und die leeren sozialen Versprechen in Frage zu stellen. Weder die, die noch mitspielen in diesem absurden Theater - und dabei ebenfalls oft genug unter die Räder kommen -, noch die, die schon verloren haben.

Anstatt dessen wird ein Märchen gebetsmühlenartig immer weiter erzählt. Das Märchen, es würden sich ja so viele darum kümmern, dass es allen gut geht - auch den Habe-Nichtsen. Sozialarbeit und soziale Gesetze wurden in den letzten Jahren tatsächlich enorm ausgeweitet. Man verdeutliche sich, wie viel Aufwand seit Jahrzehnten mit der Ausarbeitung von Menschen- und Sozialrechten betrieben wird. Aber wie sieht die Realität aus? Wie sieht die Wirksamkeit all dieser Bemühungen aus? Kürzlich war etwa bezüglich Kinderarmut in Österreich zu lesen: "EU-Grundrechteagentur (FRA) forderte auch die vollständige Implementierung der UNO-Kinderrechtskonvention und der Europäischen Sozialcharta." Wer dazu recherchiert, kann erahnen, wie viel Zeit und Energie in das Ausfeilen von Unmengen an Paragraphen investiert wird. Aber die meisten Armen verirren sich höchstens in diesem Paragraphen-Dschungel. Fällt denn niemandem die große Kluft auf zwischen dem, was soziale Gesetze zu bewirken versprechen und der sozialen Realität? Warum wird die Effektivität dieser Gesetze eigentlich nie evaluiert? Wo doch sonst jeder Quatsch kostenintensiv überprüft wird.

Eine ganz besonders strenge Spielregel lautet: Verunglimpfe nie reiche, wirtschaftlich gut aufgestellte Länder, wie etwa Österreich oder Deutschland, als solche, in denen es ebenfalls immer mehr Habe-Nichtse gibt. Frage nicht, ob es vielleicht einen Zusammenhang gibt zwischen der hervorragenden wirtschaftlichen Stellung und der Tatsache, dass die Überflüssigen vielfach outgesourct wurden. Und am Mythos, arm wären nur solche, die unter Defiziten leiden, solche, die aus unterprivilegierten Familien oder armen Ländern stammen, an Krankheiten oder Süchten laborieren, an diesem Mythos darfst du ja nicht rütteln. Das Sichtbar-Werden der makellosen, gut ausgebildeten, gesunden, in "ordentlichen" Familien lebenden Habe-Nichtse würde den Lack unseres Weltbildes doch ein wenig ankratzen. Diese Mittellosen spielen aber ohnehin auch brav mit. Wie Chamäleons verstecken und tarnen sie sich gekonnt, und glauben, im Reich des Sozialdarwinismus so besser überleben zu können. - Über Geld spricht man nicht. (Ist es so obszön?) Nicht wie viel man verdient, nicht wie viel man geerbt hat, nicht wie viel der Besitz abwirft. Und die Armen schweigen ebenfalls betreten. (Ist es so beschämend?) Obwohl die Underdogs nichts zu verlieren hätten, funktioniert ihre "Selbst-Verniemandung" wie geschmiert: Ohnmacht macht stumm. Leider oft auch dumm. Mitnichten organisieren sich Arme!

Dass seit Jahrzehnten der sogenannte Sozialabbau umgekehrt proportional zur Vermehrung der Armut verläuft, problematisieren weder Sozialeinrichtungen noch Medien. Wo doch Letztere sonst alles investigieren wollen. Mitunter betreiben Wissenschaftler wie Journalisten völlig schamlos die Propaganda, es ginge uns in der westlichen Welt (oder gar weltweit) doch so gut wie nie zuvor - wozu diese Zukunftsängste.

Das höchste an Kritik scheinen Demos gegen Schwarz-Blau zu sein. Ja, es gibt durchaus unterschiedliche Auswirkungen der verschiedenen Regierungen. Aber warum wurde vergleichsweise wenig lautstark gegen die massiven Verschlechterungen demonstriert, die Rot-Schwarz seit den 1990er Jahren forcierten? Gegen das plötzlich aufgetauchte Schikanieren von Arbeitslosen, gegen die Pensionsreform, die viele in die Armutsfalle jagt, gegen die Mindestsicherung, die meist nicht zum Leben reicht und den Rechtsanspruch auf Wohnung, Bett, Waschmaschine, Kühlschrank, Kleidung abgelöst hat. Ja, zur Vermehrung der Habe-Nichtse hat die von den linken Intellektuellen inbrünstig beschworene liberale Demokratie viel beigetragen. Dazu beigetragen, dass die Hälfte der 2,77 Millionen Pensionisten, die mit weniger als 1115 Euro ihr Dasein fristet, oder jene Hälfte der 250.000 Ein-Personen-Unternehmen, denen nicht mehr als 11.000 Euro im Jahr bleiben, oft nicht weiß, wovon sie die hohen Wohn- und Lebensmittelkosten zahlen soll. Die Arbeiterkammer rät, keine Wohnung zu mieten oder zu kaufen, die mit Energie, Internet und Telefon mehr als ein Drittel des Nettoeinkommens kostet. Bei vielen sind es jedoch mehr als zwei Drittel. Und Anspruch auf Wohnbeihilfe haben nur jene, deren monatliches Einkommen weniger als 1030 Euro (14x/J.) beträgt.

Niedrige Pensionen bekommen bei weitem nicht nur Frauen mit wenigen Versicherungsjahren, wie immerzu beteuert wird. Sondern auch ehemalige Selbstständige und Arbeiter mit kleinen Einkommen, die sehr wohl 40 und mehr Jahre gearbeitet haben. Ganz zu schweigen von ehemaligen Langzeitarbeitslosen oder Menschen, die aus anderen Ländern zugewandert sind. Frauen erhalten aus ihren Herkunftsländern oft erst mit 65 oder gar 67 Jahren ihre dortige, meist ohnehin geringe Pension. Eine weitere gravierende Verschlechterung: es werden nicht mehr die 15 Bestverdienst-Jahre zur Berechnung herangezogen, sondern alle. Wer zur Pension dazu verdienen möchte, muss den Zuverdienst zur Gänze versteuern. Der Steuersatz richtet sich nach der Höhe der Pension plus Zuverdienst.

Aber wichtig sind doch nur die guten Wirtschaftsdaten. - Welch Armutszeugnis!

PS: Diese Kolumne wird nun nach über 14 Jahren eingestellt. Aber mit meinen "heißen Eisen" oder literarischen Leidenschaften melde ich mich gelegentlich gerne wieder.

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2000 Zeichen abwärts

Mangel

Morgens las ich in der 8-seitigen Beilage zum Thema "Einsamkeit" des Kurier (4.11.2018), dass es vielen Menschen an zwischenmenschlichen Kontakten mangelt. Ältere genauso wie jüngere fürchten sich vor Isolation. Merkwürdig, wo doch alle rund um die Uhr in den digitalen sozialen Netzwerken unterwegs sind. Noch merkwürdiger, früher war die Lebensphase vom 20. bis zum 35. Lebensjahr meist eine sehr schöne, mit vielerlei bereichernden Kontakten und interessanten Erfahrungen. Heute aber fühlen sich - wie hier berichtet wird - nicht wenige in diesem Alter einsam, weil sie Ausbildung, Beruf und Familie als auslaugendes Dasein im Hamsterrad erleben.

In Großbritannien wurde nun gar das weltweit erste Ministerium für Einsamkeit installiert. Mit vielerlei Maßnahmen wird versucht gegenzusteuern. In einem Pilotprojekt sollen sogar geschulte Briefträger ein Auge auf Vereinsamte haben und sie untereinander vernetzen.

Auch mit dem Eye Gazing, einem Trend, der seit einigen Jahren weltweit um sich greift, will man der zunehmenden Kontaktlosigkeit abhelfen. Beim diesjährigen Event des EyeContactExperiments im September kamen in 156 Städten Hunderttausende zusammen, um einander ohne zu sprechen "anzustarren" - so die deutsche Übersetzung von "eye gazing". Organisatoren achten darauf, dass daraus kein Flirt und keine Single-Börse wird. "Emotional Unterforderten" gehe es dabei gar nicht um individuelle Kontakte, sondern um "etwas, das einfach da ist", um "teilnahmslose Offenheit" - wie auch die Süddeutsche Zeitung (12.8.2016) in "Schau mir in die Augen, Fremder" berichtete.

Bescheidene Wünsche angesichts einer Welt, in der alle Zeichen unvermindert auf Stress, Konkurrenz und Aggression stehen. Ob der Vereinsamung tatsächlich Einhalt geboten werden kann, solange wir jede neue digitale Kröte gehorsam schlucken? Solange wir uns bereitwillig damit observieren, navigieren, manipulieren und tracken lassen? Wenn wir dem Gang der Welt nicht eine grundsätzlich andere Richtung geben, werden wir uns auch mit den schon in den Startlöchern wartenden künstlich-intelligenten Pflege-, Streichel- und Sexrobotern zufriedengeben.

M.Wö.

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Ding und Bedingung
Gehypte Bücher haben oft eines gemeinsam: Sie geben mehr an als her

von Franz Schandl

"Die menschliche Revolution, die Emanzipation der Gattung ist nicht mehr möglich über die personalisierende Enthüllung der herrschenden Klasse, die immer überwuchert wird von den Apparaten, die ihre Herrschaft aufrechterhalten; sie ist nur möglich über eine Denunziation der Dinge, des im Spätkapitalismus produzierten Schunds."
(Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf)


"Wir sind von Dingen umgeben" (S. 11), schreibt der Autor. Wer möchte das bestreiten. Bloß, was sind Dinge? Was gibt dieser Begriff her? Ist er überhaupt einer, oder lässt sich alles Mögliche oder auch Unmögliche als Ding beschreiben? Stellt man solche Fragen, wirken die gängigen Assoziationen ziemlich finster. Was denn so ein Ding sei, ist nicht so einfach zu beantworten. Das größte Manko des vorliegendes Bandes besteht darin, dass seine Hauptkategorie gar nicht problematisiert resp. definiert wird. Dinge werden schlechthin vorausgesetzt.

Welt der Waren

Die Dinge, von denen Frank Trentmann, Historiker am Birbeck College der Universität London, spricht, sind nämlich nicht schlicht Sachen, sie sind kauf bare und verkauf bare Gegenstände, die erst über den Markt zu ihren Konsumenten finden, somit schon als Ware produziert werden, sich als solche in deren Metamorphosen entpuppen wie verpuppen. Dinge, wie wir sie kennen, sind veräußerbar. Das prägt sie. Über ihre Aneignung entscheidet nicht ein profanes Bedürfnis, sondern ein diffiziler Kaufakt. Wünschen und Wollen orientieren sich stets an den Grenzen des finanziellen Vermögens.

Das macht die Angelegenheit nicht einfacher, sondern um vieles komplizierter. Dinge werden nicht für die Menschen produziert, sondern für einen Markt, wo Kunden zugreifen können, die über das nötige Geld verfügen. Kunden sind ebenfalls eine eigene Spezies. Unsere Dinge hängen an ihrem ökonomisch induzierten Wert. Es ist wohl ein vorschneller Schluss, mit dem von Trentmann zitierten Adam Smith davon auszugehen, dass der Konsum "Ziel und Zweck aller Produktion" (S. 78) sei. Diese These kann vor allem nicht erklären, dass nützliche Dinge weggeworfen werden müssen oder verkommen, obzwar Menschen ihrer bedürfen. Aufgabe der Produktion ist nicht die Versorgung sondern die Verwertung.

Dinge sind also nicht allerlei Zeug, sondern anhand ihrer gesellschaftlichen Konstitution zu dechiffrieren. Wenn wir von einer "Herrschaft der Dinge" reden, dann sprechen wir von einer Herrschaft der Waren. Diese mit Gebrauchswert und Tauschwert ausgestatteten Dinge sind es, die einerseits die Industrialisierung beschleunigen, andererseits durch sie in Serie gehen.

Herrschaft hat sich heute weitgehend verdinglicht. Insbesondere, aber nicht ausschließlich für den westlichen Liberalismus gilt: "Die Menschen strebten nach Herrschaft, weniger über Menschen als vielmehr über Dinge." (S. 536) Aber Dinge sind kristallisierte Beziehungen, jedes Produkt ist ein konzentriertes Produktionsverhältnis. Dinge werden nicht nur angeeignet, sie sind selbst eigen, und damit ist nicht ihr konkretes Erscheinen gemeint, sondern die ihnen gemeinsame Substanz abstrakter Arbeit. Es ist so auch von den Dingen der Herrschaft zu sprechen, nicht weil sie primär irgendwelchen Herrschaften gehören (das oft auch), sondern der Logik gehorchen, aus der sie geboren wurden. Selbst welche Dinge sich entwickeln und welche nicht auf kommen dürfen, ist ökonomisch determiniert. Dinge sind ohne ihre Bedingungen nicht seriös zu diskutieren.

"Die Dinge sind wir" (S. 307), behauptet Trentmann. Deskriptiv hat das schon seine Richtigkeit, allerdings kommt es bei ihm gleich normativ rüber. Das typische Verlangen nach den Dingen wird so nicht in seiner sozialen Konstellation erfasst, nicht als historisches Resultat angesehen, sondern als ehernes Gesetz. Einmal mehr, die Menschen sind so, die wollen immer mehr, die können nicht anders. Und da wir nicht anders können, kann auch nichts anderes sein. Die Logik scheint bestechend und tatsächlich besticht sie unermüdlich. Einmal mehr tritt der industrielle Trieb als menschlicher Instinkt auf, Gesellschaft wird naturalisiert und gegen Kritik immunisiert.

Bedingte Dinge

Gemeinhin versteht man unter Besitz Konsum sowohl in actu als auch in prospectu. Sehe ich, was du konsumierst, weiß ich schon, wer du bist. "Die Menschen finden sich in ihren Besitztümern wieder und drücken sich durch sie aus." (S. 18) Wie sollte es auch anders gehen? Indes, drücken sie damit wirklich ein Wer aus oder doch nur ein Was? Oder gilt es diese Differenz einzustampfen, als inexistent zu betrachten? Nicht nur das Objekt, das Subjekt selbst ist ein Ding, auch wenn das jeweilige Exponat sich dünken muss, ein Individuum zu sein. Ohne Gegenstand haben wir keinen Stand in dieser Welt. Gegenstände erfüllen uns, sie stopfen diverse Lebensdefizite. Habsucht und Habgier sind mentale Antriebsfedern. So treten wir auf als Hüter unserer Dinge, sind artige Verwalter in den Lagerhäusern unserer Waren.

Die Dinge stehen jedenfalls nicht außerhalb ihrer Bedingungen, sie sind vielmehr Erscheinungen derselben. Dinge sind keine autonomen Sachen, sondern als Waren "Elementarform" (Marx) kapitalistischer Produktions-, Zirkulations- und Konsumtionsverhältnisse. Nicht "das Ding dingt" (Das Ding (1950), Werke 7, S. 175), wie Heidegger behauptet, sondern die Bedingungen bedingen die Dinge. Verdingen wiederum bedeutet wiederum heute sich als Verkäufer der Ware Arbeitskraft selbst zum Ding zu machen, das entäußert werden muss und erworben werden kann. Das "Dingen" ist nicht den Dingen als Gegenständen zu entnehmen, sondern ihrer gesellschaftlichen Struktur. Im Ding residiert die Abstraktion des Kapitals. So ist das Ding ein realisiertes Produkt, das auch noch einmal ideell rekonstruiert wird. Und dieser Vorgang ist uns kein auffälliger, weil wir ihn täglich hundertfach vollziehen. Das exerziert sich quasi automatisiert, beschreibt eine Realabstrakion. Das Ding ist Bedingtes, der Gegenstand Konzentrat.

Die Frage nach dem Ding ist nicht nur eine des Wofür, sie ist auch eine des Wogegen. Wogegen steht ein Gegenstand? Er steht gegen alles andere, weil für sich selbst: "Das Ding ist Eins, in sich reflektiert; es ist für sich, aber es ist auch für ein Anderes; und zwar ist es ein anderes für sich; als es für [ein] Anderes ist. Das Ding ist hiernach für sich und auch für ein Anderes, ein gedoppeltes verschiedenes Sein, aber es ist auch Eins; das Einssein widerspricht dieser seiner Verschiedenheit." (G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1806), Werke 3, Frankfurt am Main 1986, S. 101 f.) Das Ding ist zwar nicht isoliert, aber es ist isolierbar, und so erscheint es uns auch in seinen Konturen, als gegeben, weniger als werdend und vergehend. "Der Gegenstand ist dem Wesen nach dasselbe, was die Bewegung ist, sie die Entfaltung und Unterscheidung der Momente, er das Zusammengefasstsein derselben." (Phänomenologie, S. 93) Hegel bestimmt die Dingheit "als das Hier und Jetzt (...) nämlich als ein einfaches Zusammen von vielen; aber die vielen sind in ihrer Bestimmtheit selbst einfach Allgemeine." (Phänomenologie, S. 95)

In unserer beschränkten Alltagssicht wirkt der Gegenstand als einleuchtend, nicht als dunkel, kurzum nicht als Rätsel und Geheimnis sondern als Faktum. Zumindest für eine gewisse Zeit an einem bestimmten Ort. Das Fürsichstehen des Gegenstandes ist ein historisch und räumlich begrenztes Dagegenstehen. Wir fragen bei den Dingen immer mehr nach ihren Eigenschaften: Wozu sind sie gut?, weniger nach ihrem Charakter: Was stellen sie dar? Ihr Funktionieren meint etwas Technisches, ihre Funktion etwas Gesellschaftliches. Aber das würde unmittelbar zu weit führen. Diese Zeilen wollen lediglich andeuten, worum es ginge, wenn es an und um die Dinge geht, so man sich wirklich auf sie einließe. Das tut Trentmann nicht, auch wenn er tausend Seiten vollschreibt.

Flanierende Wissenschaft

Einschlägiges zu Mystifikation und Entmystifikation des Dings ließe sich bei Leibniz oder Kant finden, detto bei Hegel oder Heidegger. Kommen die ersten drei trotz des voluminösen Umfangs von Trentmanns Studie zu diesem Punkt gar nicht erst vor, so sind die Bemerkungen unseres Autors zu Martin Heidegger ausgesprochen dünn geraten. Gerade der "dunkle Prinz der Philosophie" (S. 313) hat ja durchaus Erhellendes über das Ding gesagt, das sich keineswegs in der "verborgenen Weisheit deutscher Worte" (S. 313) erschöpft. Der Denker plagte sich wahrlich am Ding, er gehört zu den wenigen, die hier eine Frage sahen, wo andere sogleich Antworten gaben. Heidegger nicht zu mögen, gehört heute ja zum intellektuellen Kanon, was freilich verhindert, sich wirklich an dieser ungeheueren Philosophie abzumühen. So strahlt die verborgene Kraft mehr als seine Verächter es wahrhaben möchten.

Nicht bloß an Heideggers Ausführungen zum "Ding" scheitert Trentmann. Die Passagen über Karl Marx sind gelinde gesagt hanebüchen. Sie sind von einer saloppen Geringschätzigkeit geprägt, die sich nicht einmal der Anstrengung unterzieht, dessen Überlegungen und Argumente auch nur im Ansatz zu begreifen. Marxens Kritik des Fetischismus der Ware wird etwa so abgetan: "Im Gegensatz zu Marx' Sprung in die Abstraktion hielten die meisten seiner Zeitgenossen den Konsum in Erdnähe." (S. 159). Tatsächlich, in dieser Erdnähe agiert auch der britische Historiker. Diese Wissenschaft liegt auf dem Boden. Reflexion verläuft sich in den Sümpfen des gesunden Menschenverstands. Ähnlich bizarr sind die Stellen über Theodor W. Adorno, "der die Konsumkultur völlig missverstand" (S. 355), oder über Walter Benjamin, der wohl aufgrund seiner "melancholischen Tiefen" (S. 266) nicht an die Entzauberung der Welt glaubte. Bezüge zu Baumann und Baudrillard, Fromm oder Marcuse finden sich keine.

Dass solche Erläuterungen von Ressentiments getragen sind, könnte man ja noch nachsehen, nicht aber die schrulligen Zusammenfassungen von diversen Theorien, die nicht nur auf Befangenheit schließen lassen, sondern von Ignoranz geprägt sind. Mehr als die Kritisierten zeichnen sie den Kritiker. Überhaupt flaniert Trentmann durch die Sozialwissenschaften wie seine Konsumenten durch die Supermärkte. Ahnungslosigkeit und Belanglosigkeit treffen sich zur Mittagsstunde und verkünden: "Radikale fürchten naturgemäß die Auswirkungen des Imperialismus auf die Gleichheit." (S. 218) Originell ist auch: "War Wasser ein 'Gottesgeschenk' oder eine Ware?" (S. 246)

Manchmal zeigt er Einsicht wider Willen: "Im Rückblick bemerkenswert ist, wie weit das sowjetische Ideal der materiellen Kultur im bürgerlichen Orbit kreiste." (S. 393) Das ist richtig, aber bloß deswegen, weil dieses Modell (trotz aller Auffassungen von Freund und Feind) den bürgerlichen Orbit nie verlassen hatte. Über die staatskapitalistische Inszenierung einer Warenwirtschaft ist man nicht hinausgekommenen. Die Ansagen Stalins wie Chruschtschows vom "Einholen" und "Überholen" weisen hier die Richtung. Gemessen an konventionellen Wachstumsmaßstäben hat die Sowjetökonomie viel geleistet, vor allem durch die rücksichtslose Ausbeutung der Arbeiterklasse, und das ganz ohne Bourgeoisie. Die sowjetischen Machthaber begingen allerdings den Fehler, dass sie Wachstumsziffern hochrechneten, meinten, die damalige Dynamik perpetuieren zu können. Der Realsozialismus fällt nicht einfach aus der Geschichte der bürgerlichen Modernisierung, er war ein spezifischer Versuch nachholender Entwicklung, mochten die Protagonisten das nun verstehen oder nicht.

Die theoretische Auseinandersetzung ist so gar nicht die Stärke des Autors, auch wenn er dieses Manko durch die Überheblichkeit elitären Standesbewusstseins zu überspielen versteht. Abhandeln heißt abkanzeln heißt abtun. Generell: Die universitären Koryphäen sind oft nicht das, was die Bespiegelungen der akademischen Kartellreklame uns weismachen wollen. Das allfällige "Bestseller"-Pickerl am Einband oder 5 mal 5 Sterne bei Amazon komplettieren lediglich ein Renommee, das einen Adelstitel wissenschaftlicher Selbstreferenz darstellt, somit zu einem reinen Immunisierungsetikett geworden ist.

Willhaben

Dafür liebt Trentmann simplifizierende Schubladen. Die schlichte Scheidung in Kritiker und Verfechter des Konsums ist so eine. Nicht nur der Rezensent würde es kategorisch ablehnen, hier anhand einer derart groben Entscheidungsfrage in ein Kästchen gesperrt zu werden. Die Frage ist doch auch immer die, was da konsumiert werden soll, in welchen Mengen und Dosierungen. Pauschale Antworten und Zuordnungen zielen daneben.

Eine solide Theorie des Konsums suchen wir bei Trentmann jedenfalls vergebens. Konsument ist überhaupt ein etwas seltsames Wort, und zwar weil in der alltäglichen Assoziation der Braucher und der Verbraucher gleich stracks zusammengezogen und somit identifiziert werden. Indes nicht jeder Braucher wird zum Verbraucher wie auch nicht jeder Verbraucher ein Braucher ist. Und wenn man das dann noch gipfeln will, führt es zur Frage: Was heißt eigentlich gebrauchen?

Ebensowenig wie Habe und Habsucht dasselbe sind, sind Konsum und Konsumismus identisch. Für die Profitwirtschaft ist es aber aus ureigenem Interesse zentral, stets ersteren in letzteren zu überführen. Bedürfnisse kann man auch abseits des sinnfälligen Bedarfs entwickeln, ja die vornehmste Aufgabe der PR und ihrer Marketingstrategien ist es, dafür zu sorgen. Justament zu erwerben, was wir nicht benötigen, ist des Bürgers Pflicht. Wir sollen wollen, was wir nicht brauchen. Werbung ist dazu da, nicht bloß Aufmerksamkeit zu erzielen, sondern ein dringendes Verlangen, also Gier zu erzeugen. Das Bedürfnis ist eine mögliche Voraussetzung, aber keine ausreichende Bedingung zum Kauf, letztlich wird jenes mehr und mehr zu einer untergeordneten Kategorie. Kunden agieren auch außerhalb Notwendigkeiten. Willhaben ist des Kunden Bestimmung.

Ganz drastisch hat sich dazu bereits Hans-Jürgen Krahl vor fünfzig Jahren geäußert: "Das Stadium der immanenten Selbstzersetzung der Warenform zugunsten des totalitären Tauschs ist erreicht, nicht nur hat endgültig die Verpackung über das Produkt gesiegt - der Gebrauchswert ist zerstört -, wir konsumieren Reklame, wenn wir essen und trinken, und ernähren uns noch davon (Nivellation des Marktes). Wir müssen die Dinge denunzieren, um die Menschen für deren Genuss zu befreien." (Konstitution und Klassenkampf. Schriften und Reden 1966-1970, Frankfurt am Main, 4. Aufl. 1985, S. 84)

Ein infektiöses Treibmittel des Konsums ist nach wie vor der Kredit, sei es als Ratenzahlung oder Darlehen, als überzogenes Konto oder Kreditkarte. "Der Kredit verleiht dem Konsumkapitalismus neue Kraft" (S. 548), schreibt auch Trentmann. Nicht bloß immer noch, sondern immer mehr. Jede Schuldnerberatung kann übrigens ein Lied von ihren mit Krediten gefütterten Klienten singen, die sich Dinge kaufen, die sie sich nicht leisten können, aber unbedingt haben müssen. Indes ist das kein Nachteil für die Gläubiger, auch wenn unzählige Schuldner nicht zahlen können und wirtschaftlich scheitern. Der Großteil berappt inklusive Zinsen seine Außenstände. Ausfälle sind also bis zu einem gewissen Grad nicht nur kompensierbar, diese Abschreibungen gehören mit zum Geschäft, sind miteinkalkuliert.

Überfluss und Überflüssigkeit

Die Dinge sind unser Halt. Und sie halten uns auch fest an dieser Gesellschaft, deren Exponate sie ebenso sind wie wir. Wir dienen ihnen und bedienen sie, vermögen uns unsere Verhältnisse nicht anders vorzustellen. Entschiedener als wir sie haben, haben sie uns.

Jagen und Sammeln im Zeitalter der Waren bedürfen einer neuen Interpretation. Ständig ist man auf der (kulturindustriell gelenkten) Suche und stets will man auch etwas haben, d.h. auf heben, auf bewahren, einlagern. Wir horten viel mehr als wir je benötigen können. Überfluss wird zu Überflüssigem und Vorrat verrottet. Wer vier Hemden hat, dürfte eher schlecht als recht damit auskommen, wer vierzig hat, hat viel, wer vierhundert hat, hat eindeutig zu viel. Es gibt einen Punkt, wo an sich nützliche Sachen überflüssig werden, d.h. unbrauchbar, obwohl sie brauchbar wären. Wo dann das Zeug herumliegt, ohne dass die Eigentümer ihre Dinge auch nur annähernd besitzen könnten. Sie haben etwas, wovon sie nichts haben (sieht man von der symbolischen Bedeutung ab). Besitz kann so gar nicht mehr konsumiert werden, der Gebrauchswert der Ware wird fiktiv: Eine Potenz, aus der nicht geschöpft wird, die aber in den Köpfen der Besitzer wie Nichtbesitzer erfolgreich spukt.

Auch wenn es keine strenge Trennung geben mag, eine begriffliche Unterscheidung zwischen Überfluss und Überflüssigem wäre sinnvoll. Ist Überfluss noch Reichtum, so evoziert Überflüssiges schon Abfall. Überfluss erlaubt Disposition, Überflüssigkeit verursacht Müll. Wir stellen jedenfalls mehr Produkte her, als wir und unser Planet aushalten. Eine Ökonomie der unbenutzten Dinge wäre durchaus von Interesse. Sachen, die zwar produziert und zirkuliert wurden, aber nie konsumiert worden sind, nehmen zu. Wieviel Energie und Anstrengung sind vonnöten, solche Nichtgüter zu erzeugen und zu verkaufen? Indes wieviele Arbeitsplätze gingen aktuell verloren, würde man diesem ökonomisch forcierten Kult des Überflüssigen nicht huldigen?

"In den reichen Ländern wird heute ein Viertel der genießbaren Lebensmittel weggeworfen" (S. 873), lesen wir. Nicht der Produktenrest ist dann Müll, sondern das Produkt selbst. "Die Verschwendung von Lebensmitteln ist nichts Neues. Vielmehr ist sie im Kapitalismus völlig normal (...) Neu an der Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist, dass selbst dann Lebensmittel vergeudet werden, wenn die Nachfrage hoch ist. Der Grund dafür ist, dass nicht zu wenig, sondern zu viel gekauft wird." (S. 873) Nur, wie kommt es zu dieser destruktiven Entwicklung? Aber halt: Eine solche ist bloß gegeben, wenn wir unsere Einwände sinnlich, stofflich und moralisch argumentieren, nicht jedoch ökonomisch. Denn ökonomisch betrachtet ist das durchaus funktional, es ist adäquates, weil marktkonformes Wirtschaften.

Fortan sind zwei Typen vergeudeter Gebrauchswerte zu unterscheiden. Die Frage lautet: Wird ein Produkt vor der Zirkulation liquidiert (Fall Eins) oder erst vor der Konsumtion entsorgt (Fall Zwei)? Das macht schon einen Unterschied: Zwar wird beide Male nicht konsumiert. Beide Male verderben die Produkte, im ersten Fall um den drohenden Abgang zu minimieren, im zweiten Fall ohne den Gewinn auch nur zu schmälern. Hier wird der Tauschwert ja realisiert, lediglich der Gebrauchswert ist obsolet. Ökonomisch ist es nämlich vorerst egal, ob das verkaufte Produkt verzehrt wird.

Im Fall Eins hingegen werden weder der Gebrauchswert noch der Tauschwert realisiert. Der Produzent hat, zumindest auf den ersten Blick, mit einem Verlust zu rechnen. Indes, ist es notwendig, die Marktpreise der Restmengen aufrechtzuerhalten, dann ist die Vernichtung von Teilmengen (Butter- und Schweinebergen) sogar geboten. Was Industrie und Handel interessiert, ist auch nicht der Verkauf jeder einzelnen Ware, sondern die optimale Verwertung ganzer Warenkontingente. Waren müssen also geopfert werden, um die Profite zu sichern.

Konsum und Freizeit

Und auch Zeit muss geopfert werden. Damit ist nicht nur die Ausdehnung und Flexibilisierung der Arbeitszeit gemeint, ein besonders pikanter Fall ist hier die sogenannte Freizeit. Dort ist man ja nicht befreit vom Geschäft, sondern regelrecht dazu angehalten. Es herrscht informeller Kaufzwang. Auch Trentmann schreibt: "Die Abschaffung des Ruhetags bildet den Höhepunkt der Freizeitrevolution." (S. 644) Freizeit wird dezidiert nicht als Ausweitung der Ruhe- oder Feiertage gesehen. Andersrum: Die kulturindustrielle Institutionalisierung der Freizeit durch Urlaub und Spektakel, Shoppen und Unterhaltung, Fernsehen und Internet beseitigt die letzten kommerzfreien Residuen. Freizeit ist nicht befreite Zeit! Freizeit hat nicht kontemplativ zu sein, sondern kompensatorisch, eine ausgleichende und reproduktive Sonderzone der Arbeit, wo deren Produkte unbedingt zirkuliert und unbedingt konsumiert werden sollen. Alles, was das Geschäft beeinträchtigen und begrenzen könnte, steht daher zur Disposition.

Fernsehen etwa ist nach wie vor die verbreitetste Freizeitbeschäftigung. Wobei der Blick auf den Schirm keine Beschäftigung ist, sondern maximal ein Zeitvertreib. Die Zeit, die man hätte, wird auch noch vertrieben. Weniger aus Dummheit als aus Müdigkeit. Man ist zu erschöpft, um noch aktiv sein zu wollen. Nach den Anstrengungen von Arbeit und Alltag, ist jede kreative Fähigkeit auf ein Minimum reduziert. Die ständige Berieselung gleicht einer ideologischen Nachjustierung via Nachrichten und Werbung, Filme und Serien.

Unterhaltung ist naheliegend, sie ist eine sanfte, aber intensive Form der Unterdrückung. Überall macht sie einen an. Die Konsumenten sind ihr permanent ausgeliefert. Nicht restlos und wehrlos, aber doch essenziell. Sich dem zu widersetzen, verlangt schon ein effektives (nicht bloß ein emotionales) Nein. Dieses Contra ist alles andere als aufgelegt. Konsumenten sind auch kaum gegen den Konsum mobilisierbar; wenn sie für etwas mobilisierbar sind, dann für mehr Geld, um sich mehr leisten zu können. Konsumenten sind Funktionäre des Konsums. Gegen Kritik ist die Charaktermaske des Warenkonsumenten resistent. Jenseits punktueller Entrüstung ist da nichts zu erwarten. Die Schwierigkeiten, Konsumenten zu organisieren, nehmen immer mehr zu. (Vgl. S. 748) Mehr als eine Protektion durch Konsumentenschützer scheint nicht möglich. Aufstand hieße, dass Menschen sich ihrer Funktion als Kunde entzögen, gegen sie revoltierten.

Diverse Genüsse sind hingegen nur durch öffentliche Zuschüsse möglich. "Wie viel Zeit würden Menschen mit Schiller oder Brecht verbringen, wenn sie den vollen Preis bezahlen müssten." (729 f.) Zweifellos, die allermeisten könnten sich die Vorstellungen nicht leisten. Aber was heißt das? Doch nur, dass der Markt für gewisse Bedürfnisse nicht sorgen kann, wenngleich Angebot und Nachfrage vorhanden wären. Doch nur, dass ein freier Marktpreis nichts über Notwendigkeit oder Qualität aussagt, dass diese sich nicht gar automatisch aus der unsichtbaren Hand ergeben. Angeleiert und subventioniert werden muss vieles, nicht nur Künstler und ihr Publikum, man denke an die ständig alimentierten europäischen Bauern. Apropos Bauern: Zur Entwicklung der Landwirtschaft findet sich kaum etwas in diesem Wälzer.

Der Staat ist übrigens dem Markt kein Außen, wie der Autor fälschlich annimmt. Ohne Staat würde kein Markt funktionieren. Trentmann schreibt ja selbst, dass der private Konsum auch Folge des öffentlichen Konsums sei. Soziale Transfers sind nicht nur Ausdruck von (begrenzter) Solidarität, sie sind insbesondere auch dazu da, die Absatzmöglichkeiten der Waren zu erhöhen. "Ohne die Unterstützung der öffentlichen Hand befände sich der private Konsum jedoch in einer wesentlich schwächeren Position." (S. 917) Öffentliche Ausgaben stützen und fördern den Konsum der privaten. (Vgl. S. 732 f.)

Affirmative Wissenschaft

Der steile Aufstieg der vielen Dinge ist ohne Kolonialwaren nicht zu denken. Natürlich hat nicht nur im Kolonialismus blanker Raub eine hervorzuhebende Rolle gespielt. Über die ursprüngliche Akkumulation des kapitalistischen Reichtums, die nichts anderes gewesen ist als eine gewaltsame Okkupation, verliert Trentmann keine Zeile. Dafür gibt er nachträglich Tipps, wie der Imperialismus sich schlauer verhalten hätte können: "Afrikaner wurden durch Landraub und Maxim-Maschinengewehre auf den Arbeitsmarkt getrieben und nicht mit Hilfe der Aussicht auf einen Lebensunterhalt gelockt. Dies könnte man als kurzsichtig betrachten. Eine Hochlohnwirtschaft bringt bessere Konsumenten hervor. Wären die europäischen Nationen liberaler gewesen und hätte mehr in ihre Untertanen investiert, hätten sie einen enormen Nutzen davon haben können." (S. 181)

Dass die Afrikaner vielleicht gar nicht wollten, weder das eine noch das andere, scheint kein Problem zu sein, wenn man die Weltgeschichte aus der Perspektive des weißen Akademikers der nördlichen Hemisphäre referiert. Wer Handelnder ist und wer Behandelter, d.h. Untertan zu sein hat, geht nicht nur aus diesen Zeilen unzweifelhaft hervor. Die Frage wie man Untertanen besser nutzt, ist eine Herrschaftsfrage par excellence. Frank Trentmann ist ein Affirmatiker des sich durchsetzenden wie durchgesetzten Konsums und seines jeweiligen Bewusstseins. Diese Geisteshaltung nennt er zünftig einen "historischen Realismus". (S. 915, 919)

Dieser Realismus soll auch weitermachen, vor allem muss das Wachstum aufrechterhalten und angekurbelt werden: "Warum sollten mächtige Eliten im reichen Westen ihren Anteil an Gütern und Diensten aufgeben? Und warum sollten Gruppen mit niedrigem Einkommen sich darüber freuen, dass ein Nullwachstum ihren Anteil an einem kleiner werdenden Kuchen vergrößern würde? (...) Wie soll der Lebensstandard im globalen Süden steigen, wenn die Nachfrage des wohlhabenden Nordens nach seinen Gütern ausbleibt?" (S. 914 f.) Wir haben es hier mit einem klassischen Stück Herrschaftswissenschaft zu tun, die von keiner kritischen Theorie auch nur angekränkelt ist. Als hätte die ideelle Gesamtindustrie eine Legitimationsurkunde bestellt.

Trentmann neigt dazu, viele Geschichten zu erzählen, doch es ist eher ein Schwadronieren als ein Illustrieren. Insbesondere das letzte Kapitel zur Wegwerfgesellschaft, wo eine Anekdote in die nächste mündet, ist ermüdend. Der Inhalt wird vom Stoff regelrecht erdrückt, man wird überfrachtet. Stringenz zeichnet die Studie nicht aus. Dieser Band gleicht der Inventarliste einer akademischen Rumpelkammer. Und selbst in der vorgetragenen Empirie herrscht wenig Systematik. Statistiken und Tabellen funktionieren besser als Piktogramme denn als Stenogramme. Narrative und reflektierte Teile stehen oft unvermittelt nebeneinander. Der Auf bau des Werks ist nicht schlüssig.

Der Autor hat sich schlicht übernommen. Was macht man mit Sätzen wie: "So fanden Amerikanerinnen ebenso wie Französinnen Sex, Sport und Essen weit angenehmer als Arbeit und Kinderbetreuung." (S. 606) In die Klasse elitärer Selbststilisierung fällt auch: "Hochgebildete Akademiker sind die neue arbeitende Klasse mit langer Arbeitszeit und wenig Freizeit, während gewöhnliche Arbeiter die neue müßige Klasse bilden." (S. 625)

Schade auch, dass Pablo Nerudas lebens- und farbenfrohes Gedicht, seine "Ode an die Dinge", die dem Band vorangestellt wurde, gekürzt worden ist. An diesen zwei zusätzlichen Seiten hätte man nicht sparen müssen. Neruda liebt an den Dingen nicht das, was die Waren verkörpern, sondern was die Gegenstände sinnlich vorstellen. Diese Differenz ist Trentmann entgangen. Zumindest in ihrer substanziellen Bedeutung. It's not the same.


Frank Trentmann, Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute.
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt und Stephan Gebauer-Lippert,
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017, 1095 Seiten, geb. ca. EUR 41,20

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2000 Zeichen abwärts

Fülle

Abends schlug ich das Buch "Sonnentage" von Martin Andersen Nexö auf. Er beschreibt darin seine Erkundungen in Andalusien und Nordafrika in den Jahren 1902/1903. Den, aus armen Verhältnissen stammenden, lungenkranken Dänen, dem durch eine überraschende Hilfe die ärztlich empfohlene, überlebensnotwendige Reise in den Süden ermöglicht wird, lässt diese Region nicht mehr los. Sie ist so anders als sein kaltes, nüchternes, protestantisches Land. Auch hat die Industrialisierung, die "Maschinenkultur", wie Nexö sie nennt, mit ihrer "auf die modernen Verhältnisse zugerichteten Sklaverei" um die Jahrhundertwende den Süden Spaniens noch nicht erreicht. Stattdessen begegnet er einer außergewöhnlichen Fülle an Fröhlichkeit und Stolz, an Sorglosigkeit und unbändiger Lebensfreude. "Zucht und Unterwerfung" haben hier keinen Platz. Die Andalusier sind "Epikureer von eigenem Schlag: mit so wenigen Bedürfnissen wie Vater Diogenes selbst". Kinder des Augenblicks. "Die Begriffe Persönlichkeit und Charakter in unserem Sinne" - so überhaupt bekannt - "sind nur Ausdruck einer gestörten Verdauung".

"Sevillas Promenade ist für alle da. Hier promenieren Pracht und Einfachheit und Armut so natürlich Seite an Seite, als hätten sie einander ein Stelldichein gegeben. Hier sind wandelnde Lumpenbündel so stolz, als würden sie einen spanischen Granden verbergen. Sie schleudern der vornehmsten Schönen in dreisten Ausdrücken ihre Bewunderung ins Gesicht, die keineswegs übel aufgenommen wird; und sie saugen den Glanz des Reichtums mit einer Freude in sich ein, als hätten sie das Elend der Armut nie erfahren. Und sie kriechen vor dem Reichtum nicht, er hat keine Macht über sie." - Den Armen wird sogar gegeben. Sie zahlen für alles weniger und bekommen mehr. Ganz selbstverständlich, ohne Gesetze und ohne Bürokratie.

Nexö bezweifelt, dass "ein grauer, nebliger, regenkalter Nordländer überhaupt das andalusische Temperament" begreifen kann. Wie sollte er "den großen Eros des Südens" verstehen können? Die "Sonnenekstase" "schwillt und strahlt in allem Erschaffenen", im ganzen "Sein und Wesen" des Menschen. Hingegen wurden "die Entbehrungen von den anglogermanischen Völkern zu einer ganzen Lehre entwickelt ..." Ihre (Un-)Kultur hat dem Süden auch "alle Grandezza, das überaus Freigebige, die uneigennützige Aufopferung, die stolze Verachtung aller Krämermoral" genommen und "solides, nutzbringendes Moneymaking an deren Stelle gesetzt". So wie es damals bereits im von England besetzten Gibraltar geschehen ist.

M.Wö.

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Robo-Recruiting

von Peter Samol

Roboter und Computerprogramme dringen immer weiter in die industrielle Fertigung vor, schicken sich an, selbstständig Autos zu fahren, treffen automatisierte Investitionsentscheidungen an den Finanzmärkten und sollen zunehmend die Betreuung pflegebedürftiger Menschen unterstützen. Der neueste Trend besteht darin, dass Programme maßgeblich Personalentscheidungen von Unternehmen beeinflussen. Harmlosere Anwendungen bestehen in der Unterstützung bei der Formulierung von Stellenanzeigen; das Programm "Textio" analysiert zum Beispiel Sprachmuster und rät etwa dazu, in den Annoncen auf den typischen Businessjargon zu verzichten, der viele potenzielle Bewerber vergrault.

Ferner gibt es Suchprogramme, die Karrierenetzwerke wie LinkedIn oder Xing nach potenziellen Mitarbeitern für offene Stellen durchforsten (Rudzio 2018, S. 22). Außerdem gibt es noch Chatbots, automatisierte Frage-Antwort-Maschinen, die potenziellen Bewerbern auf Internet-Seiten oder am Telefon rund um die Uhr Auskünfte zu offenen Stellen geben und Termine für Vorstellungsgespräche koordinieren (Backovic 2018, S. 1). Neben diesen vergleichsweise harmlosen Programmen gibt es aber auch welche, die gewichtigen Einfluss auf Personalentscheidungen haben. Um diese soll es im Folgenden gehen.

Personalauswahl durch den Computer

Eine erste Bewerberauswahl leisten Unterlagen-Scan-Programme, die schriftliche Bewerbungen analysieren. Wenn die Formulierungen darin zu sehr von den branchenspezifischen Themenfeldern abweichen oder bestimmte vordefinierte Tabuwörter darin vorkommen, werden die betreffenden Bewerber aussortiert, noch bevor überhaupt ein Mensch die Unterlagen zu sehen bekommt (Leister 2018, S. 12). Bewerbungen, die in die nächste Runde gehen, werden außerdem in eine Rangfolge gebracht. Die vielversprechendsten werden den menschlichen Personalentscheidern zuerst vorgelegt, weniger attraktive Schreiben dagegen weiter hinten einsortiert.

Wenn es um gesprochene Sprache geht, kommt das Programm "Precire" zum Einsatz. Es hat den Anspruch, die charakterliche Eignung von Bewerbern festzustellen, und dient vor allem dazu, die geeignetsten Kandidaten für die höchsten Stellen in Vorstand und Management herauszufinden. Precire wurde in Aachen entwickelt und kommt bereits in über 100 deutschsprachigen Unternehmen zum Einsatz; darunter befinden sich der Flughafenbetreiber Fraport, die Zeitarbeitsfirma Randstad und die Versicherungsgruppe Talanx (Rudzio 2018, S. 22).

Das Programm führt am Telefon ein automatisiertes Interview mit den Bewerbungskandidaten durch, wobei es die Wortwahl sowie die Stimmlage und die Betonung seines jeweiligen Gegenübers auswertet. Dazu stellt es dem Bewerber insgesamt 42 Fragen. Das Interview beginnt, sobald man am Telefon die Raute-Taste (#) drückt. Danach stellt eine aufgezeichnete Stimme eine Frage nach der anderen. Sie lauten: "Bitte beschreiben Sie den Ablauf eines typischen Sonntags", "Erzählen Sie bitte ausführlich von einem positiven privaten oder beruflichen Erlebnis der letzten Zeit" oder "Welcher Urlaub ist Ihnen noch in guter Erinnerung?". Hat man eine Frage beantwortet, drückt man wieder die Raute-Taste, woraufhin die nächste gestellt wird. Rückmeldungen erhält man in der ganzen Zeit nicht, nur am Ende sagt die Stimme: "Wir wünschen Ihnen noch einen schönen Tag", dann ist das "Interview" vorbei (Rudzio 2018, S. 22).

Am Tag darauf kann man im Internet abrufen, was die Maschine über einen herausgefunden haben will. Dort bekommt man Auskunft über die durchschnittliche Länge der eigenen Sätze, die am häufigsten benutzten Worte und erhält eine Einordnung des eigenen Kommunikationsstils (z.B. "emotional offen") in ein vorgegebenes Schema. Auf einer Skala von 0 bis 9 erfährt man außerdem, wie neugierig man ist, wie hoch das eigene Bedürfnis nach Autonomie, wie stark man nach Dominanz strebt, wie risikofreudig man ist und dergleichen mehr (ebd.). All diese Informationen gehen natürlich auch an das Unternehmen, bei dem man sich bewirbt. Das Programm soll aufwendige und zeitraubende Einzel-Assessments (intensive Gespräche und Eignungstests) ersetzen, die normalerweise bis zu fünf Stunden dauern (ebd.). Das Gleiche erledigt die Software in 15 Minuten am Telefon. Dadurch werden zwei Drittel der Kosten eingespart (Leister 2018, S. 12). Immerhin: Die letzte Entscheidung über die Einstellung fällt immer noch ein Mensch (Rudzio 2018, S. 22).

Noch weiter geht das amerikanische Programm "Hire Vue", das unter anderem von der Hotelkette Hilton und dem Drogeriewarenhersteller Unilever eingesetzt wird. Es wertet auf der Grundlage von Videoaufnahmen neben dem Gesagten auch Mimik, Gestik und Augenbewegungen der Bewerbungskandidaten aus und gibt anschließend eine Entscheidungsempfehlung ab (Leister 2018, S. 12). Dabei interpretiert es selbst kleinste Variationen, die ein Mensch kaum wahrnimmt. Es achtet auf Wimpernschläge, Sprünge der Augenbewegungen, das Starren auf einen bestimmten Punkt etc. und hat den Anspruch, anhand dieser Daten Charakterzüge wie emotionale Labilität, Geselligkeit oder Gewissenhaftigkeit zu identifizieren (epd 2018, S. 29). Die Firma Unilever schickt ihre Bewerber gleich drei Runden durch das Programm und lädt erst ganz am Ende eine kleine Gruppe zum persönlichen Gespräch mit einem menschlichen Gegenüber ein (Rudzio 2018, S. 22).

Diskussion

Die Unternehmen sparen durch den Einsatz solcher Programme viel Zeit und Kosten. Befürworter dieser Verfahren betonen außerdem die höhere Objektivität, die den automatisierten Verfahren angeblich innewohnt. Ihrer Ansicht nach kennen die Programme keine unbewussten Vorurteile, wodurch sich Chancen für Menschen eröffnen, die sonst wegen ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe oder ihrer Herkunft diskriminiert werden. Das mag zwar auf den ersten Blick stimmen, ist aber nicht unstrittig. Tatsache ist, dass die Software in einem Gespräch mehrere Zehntausend Datenpunkte verarbeitet, während ein Mensch zwischen 50 und 100 Eindrücke und Merkmale berücksichtigt (Backovic 2018, S. 4). Aber ist sie deswegen wirklich vorurteilsfrei?

Die genannten Programme fungieren als neuronale Netzwerke. Das sind selbstlernende Systeme, die nicht durch einen fest einprogrammierten Algorithmus gesteuert werden, sondern trainiert werden müssen und dabei ihre eigene Struktur verändern. Dieser Umstand sollte allerdings nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass es sich bei neuronalen Netzen um "künstliche Intelligenz" handelt. Intelligenz zeichnet sich unter anderem dadurch aus, eigene Ziele bzw. Zwecke setzen und Dinge kritisch hinterfragen zu können. Beides können neuronale Netze nicht. Was sie jedoch extrem gut können, ist Muster zu erkennen und diese zu sortieren. Darin sind sie in der Tat sehr viel besser als jeder Mensch.

Neuronale Netze bestehen aus hunderten oder sogar tausenden Schichten simulierten Nervengewebes. Von außen sind nur die oberste (die Eingabestelle) und die unterste Schicht (die Ausgabestelle) einsehbar. Was dazwischen (in den sogenannten "verborgenen Schichten") stattfindet, entzieht sich - nicht zuletzt aufgrund seiner extrem hohen Komplexität - dem Betrachter. In den verborgenen Schichten werden die eingehenden Informationen zu Mustern zusammengesetzt und sortiert. Weil neuronale Netze das so gut können, kommen sie unter anderem auch in der Medizin zum Einsatz; dort unterscheiden sie beispielsweise Hautkrebs von harmlosen Pigmentflecken, worin sie mittlerweile bedeutend treffsicherer sind als selbst Hautärzte mit jahrzehntelanger Berufserfahrung.

Neuronale Netze müssen vor ihrem Einsatz trainiert werden. Im Fall von Precire geschah dies folgendermaßen: In den Jahren 2013 und 2014 absolvierten rund 5200 Personen eine Reihe psychologischer und linguistischer Tests, aufgrund derer Persönlichkeitsprofile der Versuchspersonen entwickelt wurden. Außerdem wurde von den Testpersonen eine Sprachprobe aufgenommen. Dann stellte das Programm für jede einzelne Testperson eine Verbindung zwischen dem jeweiligen Persönlichkeitsprofil und der Sprachprobe her (Rudzio 2018, S. 22). Dabei waren die vorgegebenen Persönlichkeitsprofile die Muster, die das Programm in jeder Sprachprobe wiedererkennen und einordnen sollte. Mit der Analyse jedes Kandidaten wurde das Programm klüger und treffender (Leister 2018, S. 12).

Solch ein "Lernprozess" ist allerdings ein reiner Anpassungsprozess an vorgegebene Zwecke, die ein neuronales Netzwerk nicht hinterfragen kann. Im Gegensatz dazu haben Menschen über das von ihnen - etwa im Bildungswesen oder im Beruf - Verlangte hinaus immer auch eigene Bedürfnisse sowie etliche weitere Zugänge zur Welt, in der sie leben. Dabei entstehen unvermeidlich selbst gesetzte Ziele und Wahrnehmungen, die im Widerspruch zu den vorgegebenen Mustern stehen. Auf dieser Grundlage können Menschen auch Vorgegebenes infrage stellen und völlig neue Denkansätze entwickeln. Das kann ein neuronales Netz nicht, denn es hat über das Training hinaus keinen eigenen Zugang zur Welt, auf dessen Grundlage es die gegebenen Zwecke infrage stellen könnte. Stattdessen ist es dem Zweck, zu dem es geschaffen und auf den es trainiert wurde, vollkommen untergeordnet. Daher kann ein neuronales Netzwerk immer nur so "objektiv" sein wie der Datensatz, mit dem es gefüttert wird. Enthält dieser diskriminierende Momente, dann wird es diese reproduzieren.

Bei all dem darf man nicht vergessen, dass Precire, Hire Vue und Co. von Firmen angeboten werden, die ihr Produkt verkaufen bzw. für Geld zur Verfügung stellen wollen. Um dieses marktfähig zu gestalten, muss es den Anforderungen des allgemeinen Verwertungsgeschehens entsprechen. Daher ist zu erwarten, dass die Wertungen der Programme ständig mit den tatsächlichen Einstellungen der Firmen abgeglichen und entsprechend angepasst werden. Wenn die Unternehmen aber am Ende Männer, Weiße und Herkunftsdeutsche bevorzugen, dann könnten entsprechende Muster doch wieder Einzug in das Training der neuronalen Netze halten. Damit nicht genug, könnten auf diesem Wege sogar neue Vorurteile generiert werden. Wenn sich etwa herausstellt, dass Menschen, die sonntags in die Kirche gehen, im Schnitt zuverlässiger arbeiten als andere, dann könnten die Programme künftig darauf trainiert werden, Kirchgänger zu bevorzugen (Rudzio 2018, S. 22).

Selbst wenn es gelänge, die Reproduktion bzw. Generierung solch simpler Vorurteilsstrukturen zu vermeiden, so wird doch auf jeden Fall eine ganz bestimmte Personengruppe bzw. Subjektform bevorzugt. Nämlich die des fleißigen und produktiven Mitarbeiters, der am besten dazu geeignet ist, den Gewinn des einstellenden Betriebs durch seinen Beitrag zu maximieren. Auf diese Weise werden ganz bestimmte Verhaltensweisen und Persönlichkeitsausprägungen bevorzugt. Die Menschen müssen sich dann entsprechend anpassen oder werden aussortiert. Auf diese Weise droht die weitere Zementierung eines starren Verhaltensrahmens, der wirklichen menschlichen Fortschritt verzögert und emanzipatorische Bestrebungen enorm behindert.


Literatur

Backovic, Lazar: Robo-Recruiting - 5 wichtige Fragen verständlich beantwortet, in: Handelsblatt, 27.05.2018.

epd: Schau mir in die Augen, Roboter! Computerprogramm erkennt Persönlichkeit an den Augenbewegungen, in: Frankfurter Rundschau 16.08.2018.

Leister, Annika: Vorstand von Computers Gnaden. Viele Unternehmen lassen Bewerber für Spitzenposten erst einmal mit einer hochintelligenten Software telefonieren, in: Frankfurter Rundschau 26.05.2018.

Rudzio, Kolja: Wenn der Roboter Fragen stellt. Vorstellungsgespräch bei einer Maschine, in: Die Zeit 23.08.2018.

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Kategoriale Utopietheorie

von Simon Sutterlütti und Stefan Meretz

Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Buch "Kapitalismus auf heben. Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken", erschienen im VSA-Verlag. Online frei erhältlich unter commonism.us. Sutterlütti und Meretz fassen Utopie in ihrem Buch als Raum menschlich-gesellschaftlicher Möglichkeiten, der historisch noch nicht ausgeschöpft wurde. Im folgenden Auszug begründen sie, warum und wie Utopie jenseits von "Bilderverbot" und "Auspinselei" wissenschaftlich entwickelt werden kann.

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

Der Artikel kann nachgelesen werden unter commonism.us
oder in der PDF-Ausgabe der Streifzüge Nummer 74, Herbst 2018 unter:
https://www.streifzuege.org/wp-content/uploads/2018/12/streifz%C3%BCge_74-hp.pdf

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Optimierung und Verwertung

von Franz Schandl

Um in der Ökonomie überleben zu können, müssen wir schneller, eifriger, umtriebiger, verschlagener, effektiver sein. Alle Kompetenzen sind diesen Imperativen unterzuordnen. Die Frage Was will ich? geht in der Frage Was muss ich? unter. Wir haben zu müssen. Darin liegt unsere Freiheit. Sich am Markt zu verdingen. Wir agieren in diesem Betriebssystem, nicht immer freiwillig, aber doch willig. Der Zwang zum Komparativ ist konstitutionell und konventionell. Das Mehr ist hier eine Frage des Prinzips und nicht der jeweiligen Situation. Dieser Zwang zum Mehr nimmt Größe nicht in ihren sozialen oder ökologischen Kontexten wahr, sondern ist fixiert auf Wachstum. Es gilt Absätze zu steigern und Gewinnspannen zu erhöhen. Das Quantum folgt den Kriterien des Kommerzes.

Klar und deutlich ist die Vorgabe: Wir haben uns zu verwerten. Dazu ist es nötig, sich permanent zu optimieren, zu bestehen im Kampf gegen die anderen. Wollen wir den Arbeitsplatz, den Standort oder die Kundschaft erhalten, haben wir uns entsprechend zu verhalten. Andauernd müssen wir uns upgraden und updaten, um auf dem erforderlichen Level mitspielen zu dürfen. Selbstoptimierung wird zur Pflicht. Sie ist nicht innerer Modus sondern äußerer Stachel. Es gilt konkurrenzfähig zu werden oder zu bleiben. Du hast alles aus dir rauszuholen! Ausschöpfen ist angesagt. Dafür burnen wir, gelegentlich, ja zunehmend bis zum Out.

Drangsalieren

Der Taylorismus regiert ungebrochen. Was die Effizienz stört, stört. Optimiert heißt etwa für eine Verkäuferin in ihrem Job keine Stehzeiten oder Ruhephasen mehr zu kennen, optimiert heißt, dass ihre Arbeit sich stets verdichtet. Jede Minute wird ausgenützt, d.h. die Arbeitskraftträgerin wird voll ausgenutzt. Von dem will die Ökonomie nichts wissen, Folgeschäden werden externalisiert, sind keine unmittelbaren Produktionskosten, sondern Reproduktionskosten.

Diese Direktiven erhöhen allerdings nicht bloß die allseits glorifizierte Leistung, den Ausstoß, die Anstrengung, nein sie erhöhen auch Blutdruck und Blutzucker, multiplizieren Arztbesuche, Drogenzufuhr und Alkoholkonsum, lassen Leberwerte steigen, führen zu Stress, Angst und Durchfall, zum Verlust der Lust und der Potenz. Kurzum sie entziehen Lebenskräfte durch Subordination unter die Erforderlichkeiten des Marktes. Betrachten wir es von dieser Seite, sprechen wir also an, was sonst vergessen wird, dann sieht das "Mehr" auf einmal ziemlich irr aus.

Wir leben in Zeiten eines "Bewertungskults", einer "umfassenden Quantifizierung des Sozialen". Kennzeichen ist die "Universalisierung von Wettbewerb", Modus die "Dauerinventur". Das schreibt Steffen Mau in seinem lesenswerten Band "Das metrische Wir" (Suhrkamp 2017). Ranking und Rating sind logische Konsequenzen. Man nimmt teil, ob man will oder nicht. Man spielt nicht bloß mit, es wird einem mitgespielt. Verbunden sind Ranking und Rating mit Blaming und Shaming. Fordern geht vor Fördern.

Wer stets unter Druck ist, wird unterdrückt. Vor allem erzeugt diese Drangsalierung unleidliche Exemplare der Spezies. Empathie ist da fehl am Platz. Die mentale Grundhaltung des Misstrauens lässt jeden anderen als potenziellen Gegner erscheinen. Antipathie ist vorgegeben. Konkurrenz schlägt Solidarität, Feindseligkeit besiegt Freundschaft. Anerkennung erfolgt also nicht auf direktem Wege - so von Du zu Du - sondern auf kommerziellem Umwege. Wichtig sind Fixierungen oder Fiktionen auf den Skalen durch ständige Beobachtung und Bewertung. Man kommt dem nicht aus. Gesagt ist damit nicht (obgleich unterstellt) was gut ist, sondern primär was geschäftstüchtig und geschäftsträchtig sein könnte. Wir, die bürgerlichen Subjekte sind Träger unserer Geschäfte, profan ausgedrückt durch lebenslängliches Kaufen und Verkaufen.

Verwerten

Natürlich geht es den neoliberal formierten Exemplaren um die permanente In-Wert-Setzung ihres Humankapitals. Dazu sind wir bestimmt. Akzeptiert wird, wer und was sich verwertet. Das Selbstwertgefühl sinkt rapide, werden Individuen am Markt nicht anerkannt. Wehe denen! Nicht nur Arbeitslose spüren das, die aber ganz besonders. Dass zu Wert immer Mehrwert und Minderwert(igkeit) gehören, versteht sich von selbst, muss aber eigens erwähnt werden.

Hinter den Werten verbirgt sich die Verwertungspflicht. Es ist der Wert, der die Werte setzt. Bürgerliches Selbstbewusstsein verläuft auf einer Skala der Ab- und Aufwertung am Markt. Das jeweilige Einkommen regelt die Zugangs- und Beteiligungsmöglichkeiten, die auch über Integration und Desintegration entscheiden: Was haben? Wo dabei sein? Wie viel dürfen? Was darstellen? Die Bedingung etwas haben zu dürfen, heißt zahlen zu können.

Im Wert steckt auch alles drin, was uns so gespenstisch vertraut ist: die Konkurrenz, das Wachstum, das Ranking, der Preisvergleich und schließlich der Preis selbst. Der Wert ökonomifiziert das Vokabular und bestimmt dadurch unser Vorstellungsvermögen. Wir lassen das nicht nur zu, es fällt gar nicht als Besonderheit auf. So zu sprechen erscheint uns als selbstverständlich. Wir haben keine andere Sprache.

Warum soll etwas einen Wert haben? Woher kommt dieser Begriff überhaupt? Und warum hat er sich in den verschiedensten Varianten gesellschaftlich durchgesetzt. Zufall kann es ja nicht sein, dass wir dauernd von Wert und von Werten sprechen als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Doch das ist geworden, nicht immer schon gewesen. Tatsächlich legt der Singular offen, was der Plural verschweigt. Die Kategorie des Werts hat sich ausgehend vom ökonomischen Sektor in alle gesellschaftlichen Bereiche gebohrt. Vor 200 Jahren hat das begonnen. Wert ist zu dem substanziellen Terminus geworden.

Schlimmer noch als, dass Menschen nichts wert sind, ist, dass Menschen überhaupt etwas wert zu sein haben. Anerkennung und Wertung sollte man sorgfältig auseinander halten.

*

Vorschule der Dialektik

von Hermann Engster


Ein Kinderpalaver über Brechts Kindergedichte moderiert und dann textlich destilliert

Das Problem: Ich wollte herausfinden, ob Brechts Kindergedichte auch in der Schulpraxis funktionieren.

Die Versuchsanordnung: drei Grundschulen in Göttingen, vier vierte Klassen an jeweiligen Terminen, Buben und Mädchen im Alter von neun bis zehn Jahren, jeweils im Hintergrund eine Lehrerin für pädagogische Notfälle.

- Ich: Liebe Schülerinnen und Schüler, ich danke eurer Lehrerin, dass ich euch heute einen Dichter vorstellen darf. Ich nehme an, ihr wisst, was ein Dichter ist? Was macht der denn so?
- Kinder: Der überlegt und schreibt, Theater, Gedichte ...

- Was ist denn Besonderes an Gedichten?
- Die reimen sich.

- Und wozu sind diese Reime gut?
- Dann hört sich das schöner an.

- Richtig! Und solche Gedichte möchte ich euch heute vorstellen. Die stammen von einem sehr berühmten Dichter. Der wurde vor rund hundert Jahren geboren und heißt Bertolt Brecht.
Hier zeige ich euch ein Foto von ihm, da war er etwa 50 Jahre alt. (Ich zeige auf Folie das bekannte Foto von dem etwa 50-jährigen Brecht.) Könnt ihr euch den als euren Opa vorstellen?
- Ja, der guckt ganz nett.

- Und hier ist ein Foto, da ist er viel jünger. (Brecht, Mitte zwanzig, in einem Ledermantel, fläzt sich lässig grinsend auf einem Stuhl.) Und wie findet ihr den?
- Cooler Typ!
- Wie der guckt!

- Also dieser Brecht schrieb spannende Theaterstücke und auch viele Gedichte. Und da er Kinder sehr ernst nahm, schrieb er auch Gedichte extra für Kinder. Als Brecht ein junger Mann war und mit seinen Theaterstücken Geld verdient hatte, da hat er sich ein Auto gekauft. Na, die waren damals nicht so toll wie heute, manchmal sieht man so ein Auto noch, die heißen dann Oldtimer, also alte Autos. Viele Autos wurden in Amerika hergestellt, und der größte Autobauer hieß Henry Ford. Berühmt ist sein Ford Lizzie. (Ich zeige ein Foto davon.)
- Hä, was'n das für 'ne Blechkiste?
- Is das'n Transformer?

- Also Brecht hatte dafür viel Geld bezahlt und war oft nicht zufrieden mit dem Auto. Also setzte er sich hin und schrieb ein Gedicht, um seinen Ärger rauszulassen:

Ford hat ein Auto gebaut,
das ist ein wenig laut,
es ist nicht wasserdicht
und fährt auch manchmal nicht.

- Eure Eltern haben sicher auch ein Auto. Macht das auch solche Probleme?
- Nee, mein Papa hat einen Suff.

- Einen Suff?
- Ja, so 'nen großen, hohen.
- Er meint einen Essjuwie.

- Aha, einen Geländewagen.
- Ja, und mit dem ist er mal ganz schnell durch 'ne Riesenpfütze gefahren, da ist aber nichts reingekommen.

- Und wie laut ist denn euer Auto?
- Eigentlich gar nicht, man kann sich drin gut unterhalten.

- Nun schaut euch mal an, wo im Gedicht die Reime sind! Die sind immer am Ende jeder Zeile.
(Die Kinder nennen die Reime.)

- Ich lese euch mal dasselbe ohne Reime vor: "Das Auto vom Ford ist etwas laut, es kommt Wasser rein, und manchmal fährt es auch nicht." Gefällt euch das besser als das Gedicht?
- Klingt langweilig.

- Da seht ihr, wie Reime alles viel interessanter machen. Wer will mal vorlesen?
- (Viele Hände gehen hoch. Einige lesen vor.)

- Nun schaut euch mal an, wie Brecht den Inhalt des Gedichts aufgebaut hat! Was, meint ihr, sind besonders schwere Mängel am Auto, und welche sind nicht so schwer?
- Na, am schlimmsten ist es wohl, wenn das Auto gar nicht fährt. Wir mussten mal sogar abgeschleppt werden, mitten auf der Autobahn, das war ganz schön blöd.
- Dass es laut ist, ist aber auch nicht gut.
- Aber wenn es regnet und Wasser reinkommt, das ist schlimmer.

- Nun seht mal, wie Brecht hier Spannung in die Sache bringt: zuerst der kleine Mangel, dass das Auto zu laut ist; dann der größere, dass Wasser reinkommt; den größten aber hat er bis zum Schluss aufgehoben. Das entscheidende Wort nicht steht ganz am Schluss, und es reimt sich auch noch. Da merkt jeder, das ist der Höhepunkt vom Ärger. Das muss man nun beim Lesen herausbringen. Gedichte muss man mit Gefühl lesen. Hier ist das Gefühl "Ärger über ein schlechtes Auto". Zuerst stellt Brecht nur etwas fest: Ford hat ein Auto gebaut. Das liest man ganz normal. Dann aber kommt der Ärger. Zuerst mit etwas stärkerer Stimme, dann noch stärker, und beim größten Ärger ganz laut. Wer möchte das mal ausprobieren, so richtig gut mit Betonung?
- (Einige Kinder lesen vor und kommen zunehmend aus sich heraus.)
- Weil nicht jeder drankommen kann, lesen wir alle zusammen im Chor: - Ford hat ein Auto gebaut ... (Der letzte Vers gipfelt in einem allgemeinen Wutschrei mit anschließendem Gelächter.)
(Vorlesen einzelner und im Chor auch bei den folgenden Gedichten.)

- Brecht hat aber nicht nur lustige Gedichte geschrieben, sondern auch solche, bei denen man scharf nachdenken muss, was die eigentlich meinen. Bei einem Gedicht treffen sich ein Kanarienvogel, auch Kanari genannt, und ein Rabe. Habt ihr schon mal einen Kanarienvogel gesehen? (Einige Finger erheben sich.) Wie sehen die denn aus?
- In einem Käfig war der, knallegelb, und klein.

- Und können diese Vögel auch singen?
- Ja, richtig flöten und trillern tun die.

- Hier zeige ich euch einen Kanari (Folie). Und einen Raben habt ihr bestimmt auch schon mal gesehen. Hier in der Stadt sind viele Krähen, die gehören auch zu den Rabenvögeln. Aber die richtigen Raben sind die Kolkraben, die sind groß, gucken stolz und haben ganz schwarze Federn und einen schwarzen Schnabel, darum sagt man auch, wenn etwas total schwarz ist, "rabenschwarz". Hier zeige ich euch ein Bild von einem Raben. (Folie) Können Raben denn auch singen?
- Nee, die machen nur laut krah! krah!
- Hört sich furchtbar an.

- Also über einen Kanari und einen Raben hat Brecht ein schlaues Gedicht gemacht. Das Gedicht geht so (Folie):

Es war einmal ein Rabe,
ein schlauer alter Knabe,
dem sagte ein Kanari, der
in seinem Käfig sang: "Schau her!
Von Kunst hast du keinen Dunst."
Der Rabe sagte ärgerlich:
"Wenn du nicht singen könntest,
wärst du so frei wie ich."

- "Von Kunst hast du keinen Dunst", damit meint der Kanari: "Du hast keine Ahnung von Kunst." Wie findet ihr denn das, was der Kanari sagt?
- Ziemlich eingebildet.
- Aber singen kann er!
- Ja, aber damit muss er nicht so angeben.
- Klar, dass der Rabe sauer ist.

- Überlegt mal: Wo sitzt denn der Kanari?
- In einem Käfig.

- Wer hat ihn denn da eingesperrt?
- Na, der Mensch, der ihn gekauft hat.

- Und warum?
- Damit er nicht weg fliegt und abhaut.

- Und warum darf er das nicht?
- Na, weil er so schön singen kann und hierbleiben muss. Der gehört ja jetzt dem Mann, der für ihn Geld bezahlt hat, damit er schön singt.
- Für einen Raben gibt keiner Geld aus. Der macht ja nur krah! krah!

- Und hat es der Kanari gut in seinem Käfig?
- Ja, der lebt prima, kriegt essen und trinken.
- Und wenn er mal krank wird, geht er zum Tierarzt.

- Und wie ist es beim Raben? Sorgt da jemand für ihn?
- Nein, keiner, der muss sich sein Futter selber suchen.
- Und wenn er krank wird, muss er selber klarkommen.
- Aber dafür kann er hinfliegen, wo er will.

- Jetzt sagt mal, was ist euch lieber: In einem Käfig schön singen und versorgt sein oder frei herumfliegen?
- Beides.

- Nein, nein, ihr könnt nur eins von beidem haben: In einem Käfig singen oder frei herumfliegen. Denn wenn ihr frei seid und dabei schön singt, fangen euch die Menschen, um euch zu verkaufen. Also? Was von beidem?
- Ich würde lieber frei sein.
- Aber dann musst du auch für dein Essen sorgen und aufpassen, dass dich die Katze nicht frisst.
- Na ja, auch wahr. So gesehen, ist es schon bequemer, in einem Käfig zu sitzen, und einer sorgt für mich.
- Aber dafür bist du immer eingesperrt und kannst nicht rumfliegen.
- Bei uns im Nebenhaus wohnt einer, der ist schon ziemlich alt, mindestens fünfundzwanzig, der wohnt immer noch bei seiner Mutter, der will gar nicht weg. Find ich blöd.

- Wie sieht das denn der Rabe?
- Der ist froh, dass er nicht singen, sondern nur krah! krah! machen kann.
- Ja, aber dafür kann er hinfliegen, wo er will, und wird nicht eingesperrt.
- Den würde auch kein Mensch fangen, weil kein Mensch ihn kaufen würde, für Geld. Der ist ja uninteressant.

- Und warum wird er im Gedicht "schlau" und "alt" genannt?
- Na ja, der ist viel rumgekommen in der Welt, und wenn er wirklich singen könnte, dann zeigt er's nicht ... schlau von ihm!

- Also wir haben hier einen Widerspruch: entweder Sicherheit, dafür steht der Kanari, oder Freiheit, dafür steht der Rabe. Lasst uns mal abstimmen: Wer würde lieber ein Kanari sein, wer ein Rabe? (Die Abstimmungen in den Klassen zeigten große Unterschiede: von Hälfte-Hälfte bis zu einstimmiger Wahl für den Raben.)

- Ein weiteres Gedicht möchte ich euch vorführen. Hauptperson ist da ein Adler. Die gibt es hier bei uns nicht, sondern in den Alpen als Steinadler oder an der See als Seeadler. Ich habe euch mal Bilder von einem Adler mitgebracht. (Ich zeige ein Foto von einem Weißkopfseeadler.)
- Oh, den kenn ich, das ist das Logo von den Amerikanern!

- Ja, man nennt das ein Wappentier. Viele Länder haben eindrucksvolle Tiere als Wappentiere, die Franzosen einen stolzen Hahn, Engländer einen Löwen. Sowas haben wir Deutsche auch, im Bundestag hängt hinter dem Rednerpult an der Wand ein großer Adler. Ich zeige euch mal einen Adler in Nahaufnahme, und ihr sagt mir, was ihr so fühlt und denkt, wenn ihr euch das Gesicht vom Adler anschaut. (Ich zeige ein Bild vom Profil eines Adlers.)
- Ui, was hat der für einen Schnabel!
- Und die Augen: Richtig gefährlich guckt der!
- Und mächtig stolz.

- Ihr seht, das ist ein großer und stolzer Vogel. Dieser Adler gerät nun in eine Versammlung von Tieren, die ihn arg tadeln. Das Wort "tadeln" bedeutet kritisieren oder schlecht über jemanden reden. Und darüber hat Brecht ein Gedicht gemacht, hier seht ihr es:

Es war einmal ein Adler,
der hatte viele Tadler,
die machten ihn herunter
und haben ihn verdächtigt,
er könne nicht schwimmen im Teich.
Da versuchte er es sogleich,
und ging natürlich unter.
(Der Tadel war also berechtigt.)

- Was meint ihr: Warum ist der Adler in den Teich gesprungen? Wusste er denn nicht, dass er nicht schwimmen kann?
- Vielleicht wusste er es nicht.
- Aber Adler sind ja nicht doof, der muss doch wissen, was er kann und was nicht.
- Wenn er gesehen hat, wie andere Vögel schwimmen, also Enten, dann wird er's sicher auch mal probiert haben, und dann war's ihm klar.
- Ich glaub, nicht mal das. Vögel haben ja Instinkt, und der sagt ihnen das Richtige.

- Also wenn ihr meint, der Adler weiß, dass er nicht schwimmen kann, warum hat er's dann trotzdem versucht?
- Hm, keine Ahnung ...
- Vielleicht hat er gedacht, er kann's doch und wollt' es beweisen?
- Das ist doch Quatsch! Wenn er weiß, dass er's einfach nicht kann, wie will er denn beweisen, dass er's doch kann?

- Nun ja, aber Tatsache ist: Er hat es getan. Warum eigentlich? Was hat ihn dazu gebracht?
- Die andern.

- Was meinst du mit "die andern"?
- Na, die andern Tiere, die haben Druck gemacht.
- Ja, glaub ich auch. Er hat sich vielleicht nicht getraut zuzugeben, dass er etwas nicht kann.

- Wie seht ihr denn die andern Tiere? Die wissen doch auch, dass der Adler nicht schwimmen kann. Warum verlangen sie es dann von ihm?
- Die sind einfach fies!
- Die sind neidisch, weil der Adler so toll aussieht und sie nicht. Eine Ente und ein Adler - da siehst du gleich, was für'n Unterschied das ist.
- Die haben ihm eine Falle gestellt.

- Und in die ist er gradewegs hineingetappt, obwohl er wissen musste, dass das mit dem Schwimmen nicht funktioniert. War das denn klug von ihm?
- Nee, das war ganz schön dumm.
- Total uncool.
- Und feige.
- Und alle lachen über ihn.
- Wie peinlich ist das denn!

- Da seht ihr also, dass tolles Aussehen und Größe nicht immer mit Klugheit zusammengehen.
- Am Schluss heißt es in dem Gedicht: Der Tadel war also berechtigt. Haben die Tiere den Adler also zu Recht getadelt?
- Na ja, schon, er kann ja wirklich nicht schwimmen.
- Aber man kann einen ja nicht dafür tadeln, weil er etwas wirklich nicht kann.
- Das ist so, wie wenn einer mich tadelt, weil ich nicht fliegen kann.

- Was hättet ihr denn anstelle des Adlers gemacht?
- "Ich hätte ..., ich wäre ..., ich würde" ... (Allgemeines Palaver)

- Also jetzt mal genau überlegt: Der letzte Vers steht in Klammern. Da spricht der Dichter selber. Und meint er wirklich, dass der Adler dafür getadelt werden muss, weil er nicht schwimmen kann - oder vielleicht für etwas ganz anderes?
- Vielleicht weil der Adler feige war.

- Feige warum?
- Weil er sich nicht getraut hat zuzugeben, dass er etwas nicht kann.
- Ja, und da hat er sich ganz schön blamiert!
- So groß und stolz - und dann das! Wie peinlich ist das denn?

- An dem Gedicht könnt ihr sehen, wie Brecht denkt. Er zeigt, dass die Sachen nicht so sind, wie es zuerst aussieht, und dass man genau hinschauen muss, weil da Widersprüche sind. Und das habt ihr nun getan. - Ganz raffiniert ist ein anderes Gedicht, das sich auch um einen Widerspruch dreht. Es handelt von einem armen und einem reichen Mann, die sich gegenüberstehen.

Reicher Mann und armer Mann
standen da und sahn sich an.
Und der Arme sagte bleich:
"Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich."

- Der Arme ist also betrübt darüber, dass er arm ist. Warum ist er arm? Wem gibt er die Schuld daran?
- Ist doch klar: dem Reichen.
- Seh ich auch so: Weil der andere Mann reich ist, darum ist der arme Mann arm.
- Der Reiche ist schuld.

- Ja, so scheint es. Aber seht euch mal genau an, was der Arme sagt. Er sagt nicht (Folie):
Wärst du nicht reich, wär ich nicht arm
sondern er sagt:
Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.
Seht ihr da einen Unterschied?
- ???

- Schaut mal auf die Worte "ich" und "du"! In welcher Reihenfolge stehen die in der ersten und in welcher in der zweiten Fassung?
- Die sind nun andersrum.
- Vorher war "du" und dann "ich", und jetzt "ich" und dann "du".
- Ja, erst sagt er von sich selbst, dass er arm ist, und dann redet er zum Reichen.

- Und jetzt kommt eine ganz schwierige Frage: Wem gibt der Arme die Schuld?
- Also er sagt jetzt zuerst, dass er arm ist, und dass der andere deshalb reich ist, weil er selbst arm ist.

- Und wer ist nun schuld daran?
- Der ... Reiche ... ?
- Nee, der Arme gibt sich selbst die Schuld daran, dass er arm ist.

- Und woran liegt das?
- Viele haben wenig, und wenige haben viel.
- Das ist nicht gerecht.
- Das muss man ändern.

- Und wer soll das tun?
- Die Politiker.

- Und wenn die zu wenig tun oder es nicht können, wer sollte es dann tun?
- Na, der Reiche wohl nicht. Vielleicht gibt der ihm 'nen Euro.
- Der Arme selber ...?

- Das wäre die andere Möglichkeit. Aber nun schaut mal, in der Zeile davor heißt es: Und der Arme sagte bleich. Warum ist der Arme bleich?
- Weil er arm und nicht gesund ist.

- Das kann sein. Aber dann ist man eher grau im Gesicht. Ihr kennt doch sicher die Redewendung "Er wurde plötzlich kreidebleich im Gesicht" oder "totenblass". Wann passiert denn sowas?
- Wenn man plötzlich was ganz Schlimmes hört.
- Als meine Schwester einen Unfall hatte, da wurde meine Mama ganz blass im Gesicht.

- Könnte es nicht sein, dass der Arme deshalb plötzlich bleich im Gesicht wird, weil ihm klar wird, er selbst muss etwas tun, und dass das unangenehm und schwierig sein wird?
- Ja, vielleicht.
- Kann sein.
- Aber was soll er machen?
- Wissen Sie's?

- Nein, das kann ich jetzt auch nicht so einfach sagen. Man muss sich das erst mal genau anschauen, also: wieso der Arme arm und der Reiche reich ist. Aber immerhin hat der Arme erkannt, dass er selbst was tun muss, und das wäre schon ein erster Schritt. - Ihr habt nun gesehen, wie vertrackt Brecht seine Gedichte macht. Da hat er viele Widersprüche eingebaut, und über die muss man nachdenken. Das hat Brecht mit Absicht so gemacht, und er will, dass ihr selbst drauf kommt. Und das habt ihr sehr gut hingekriegt. Brecht hat für das Denken in Widersprüchen ein Lieblingswort, er nennt es "dialektisch". Ein schwieriges Wort, aber wert, es sich zu merken. Wer traut sich, es einmal nachzusprechen: dialektisch? (Viele melden sich.) Und nun im Chor: dialektisch!

So, jetzt geb ich euch die Gedichte mit den Bildern nach Hause mit, und ihr könnt mal nachprüfen, was eure Eltern rauskriegen. Und danke für die Stunde!

Ergebnis der Versuche: Es funktioniert.

*

Eine Menge Frust für ein Quäntchen Lust
Zum Lehren, Lernen und Arbeiten in einer Zeit des Niedergangs

von Lorenz Glatz

Bei Begriffen, die im Alltag wie in der Wissenschaft eine lange und verschlungene Tradition haben, ist es manchmal durchaus fruchtbar, auf frühe Konzepte zurückzugehen. Im Falle der Lust auf Epikur, auf seine "negative" Darstellung, dass Lust grundsätzlich die Abwesenheit von Schmerz bedeute, die Erregung der Sinne, die Befriedigung der Begierden hingegen (durchaus auch problematische) Accessoires sind, die rasch an ein Genug gelangen können. Das Streben nach so verstandener Lust sieht Leben selbst also als mögliches Glück an, als ήδoνή - Lust im Sinne von Gefallen und Wohlbefinden, als voluptas - das, was eins will und mag in einem Leben mit uns selber, unsereinem und "the-more-than-human-world" (David Abram, The spell of the Sensuous), als ein Glück, das vor Störungen durch Lebenskunst so weit möglich bewahrt werden soll.

"Erziehung" und "Bildung" ...

Solche Lust geht mit einer Erfahrung vom Anbeginn der Erinnerung an schwer zusammen, mit Erziehung und dann Bildung. "Erziehen" ist von seiner Wortbedeutung und Syntax her eine zielgerichtete Handlung, die jemand an jemandem anderen verrichtet. Eins zieht und lenkt den "Zögling" - auch gegen eventuellen Widerstand - auf ein bestimmtes Ziel hin. Lateinisch educare und seine romanischen Abkömmlinge sind für das Wort Vorbild, "erziehen" ist eine Lehnübersetzung. Auch "bilden" führt in eine ähnliche Vorstellungswelt. Etwas Formlosem, Rohem soll Gestalt gegeben werden. Das harmlos klingende griechische Wort παιδεύειν macht doch das Kind (παίς) einer Tätigkeit, die im klassischen und hellenistischen Sprachgebrauch "erziehen" und "lehren" so gut wie "züchtigen" bedeutet, im Neugriechischen gar schon schlicht "quälen" meint. Und in einer dem Komödiendichter Menander zugeschriebenen, berühmt gewordenen Sentenz wird auch die Voraussetzung des Glückens von Erziehen formuliert: "Der Mensch, der nicht geschunden wird, wird nicht erzogen." In der eigenen Haut und ohne Schmerzen sind Erziehung und Bildung hier nicht zu haben.

Die Beziehung zwischen dem Kind und seinen Pfleger-innen ist nicht selten von Fürsorglichkeit, Anhänglichkeit und Zuneigung in einer Gemeinschaft freundlicher Menschen geprägt und mag dort auch glücken. Das Einsetzen von "Erziehung", wie es Menander sagt, ist dann jedoch regelmäßig ein traumatisches Fremd-Werden eben noch vertrauter Menschen, ein befremdlicher, ja feindlicher Eingriff. Einem Menschenwesen, das in das Leben einer Gesellschaft hineinwachsen soll, die ja in der großen Mehrzahl aus einander fremden Menschen besteht, muss "Erziehung" und "Bildung" freilich angetan werden, weil es als das, zu dem es von sich aus und für sich, in seiner eigenen Haut also, würde, nicht "gesellschaftsfähig" ist. Seine Haut muss ihm erst ab"er/gezogen", es muss um-"gebildet", erst dafür ab- und zugerichtet werden, ein "brauchbares Mitglied der Gesellschaft" abzugeben.

... für die "Gesellschaft"

Die historischen Gesellschaften sind kein Netzwerk persönlicher Lebensgemeinschaften direkter menschlicher Verbundenheit, sondern sie funktionieren an solchen Gemeinschaften vorbei, sie brechen durch sie durch oder machen sie sich untertan. Sie sind nicht die unproblematische Form unseres Zusammenlebens, sondern sie "gesellen" uns nicht im Bereich der persönlichen Begegnung mit der Welt, den sinnlichen Lüsten und Schmerzen, den Zu- und Abneigungen und deren Pflege oder Heilung, sondern in einem großen, nicht erlebbaren und gemeinschaftlich nicht direkt regulier- und korrigierbaren, sondern nur beherrschbaren Feld. Auf diesem werden die im Lauf der Geschichte zunehmend isolierten Einzelnen auf abstrakte, den Menschen in ihren konkreten Nöten und Erkenntnissen nicht mehr zugängliche Prinzipien ausgerichtet. Diese beruhen auf "ewigen", aus den Notwendigkeiten der herrschenden Ordnung abstrahierten Wahrheiten, von Göttern und Gottkönigen als "Gerechtigkeit" verhängt oder später dann von innerweltlichen "Naturgesetzen" abgeleitet oder gar - auf dem vorläufigen Höhepunkt der Unterwerfung unter Abstraktionen - als "Volkeswille" deklariert. So tief sind die jeweils geltenden abstrakten Ordnungsprinzipien in Herz und Hirn verankert, dass kaum etwas mehr schrecken kann als der Zusammenbruch der geltenden Ordnung. Selbst angesichts des aktuellen Widersinns der Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum und Geldvermehrung als Grundlage unseres Lebens fürchten die meisten Menschen kaum etwas mehr als den Zusammenbruch der darauf beruhenden Ordnung unseres Lebens.

Priester, Vasallen, Beamte und sonstiges sich stets vermehrendes Personal von Experten haben seit Langem die Prinzipien in "Schriftsprache", in Gesetzesform gegossen und auf die Subjekte im Wortsinn als den Gesetzen Unterworfene "angewandt", ja nach ein paar tausend Jahren der Entfaltung solcher Ordnungen gilt es als Fundament der Gerechtigkeit und jeder freien Gesellschaft, dass alle "ohne Ansehen der Person" "vor dem Gesetze gleich" sind. Die unangefochtene "Herrschaft des Rechts", gleich welchen, gilt als der Garant des Friedens nach innen wie nach außen. Alles andere ist Willkür und Korruption. Alle Emotionen, Freundschaft, Liebe, Mitleid so gut wie Zorn und Hass finden sich hier zusammen. Nur eine Gesellschaft erfolgreich sedierter Menschen funktioniert rechtsgemäß reibungslos.

... und die "Weltherrschaft"

Diese Unterwerfung der Menschheit war der andere Teil des Doppelschritts von Herrschaft. Der eine war es, sich "die Erde untertan" zu machen, theologisch dann "dominium terrae" genannt, Herrsein über die Sklavin Erde. Es ist ein Doppelschritt, weil der eine sich aus dem jeweils anderen ergibt. Die Anmaßung der Tierart Mensch, sich über den Rest der Welt zu stellen, setzt dieselbe Ordnung unter den individuellen Tieren selbst voraus und umgekehrt. Das Prinzip der Herrschaft, ihr Recht über das Leben und die Welt zu stellen, ist nicht einzudämmen, es ist ein Spaltpilz, der auf Dauer vor nichts haltmacht, was sich durchbrechen lässt.

Unter den Menschen verwirklicht sich dieses Prinzip im Einzelnen zwischen der Figur der Selbst-Herrschaft (des Autokrators als Garant des Rechts über alle-s) und der Selbst-Beherrschung (Umsetzung des Rechts im Individuum an sich selbst). Herrschaft und ihr Recht sind instabil, weil sie eine Anmaßung und dem Fluss der Welt nicht angemessen sind. Sie sind ein endloser Machtkampf, in dem die etablierte Herrschaft und der Widerstand dagegen ab- und zunehmen und die Plätze wechseln. Die Menschen aber werden so "zwischen Unrecht tun und Unrecht leiden zerfetzt" (Cicero, De re publica). In der "mehr-als-menschlichen Welt" prozessiert das Prinzip Herrschaft in der Moderne schließlich als die Wissenschaft und Technik der grenzenlosen Welterforschung und -ver-nutzung. Getrieben vom weltfremden Sachzwang endloser Verwertung investierten Gelds muss der Homo sapiens auf diesem Weg an der Welt unfehlbar scheitern, weil sich, wie in unseren Tagen offenkundig wird, die Welt durch sein Tun für ihn unlebbar macht.

"Life long learning"

In solchen Widersprüchen heranzuwachsen braucht mehr denn je den Eingriff der Experten. Lange Zeit war es ein Erwachsen-Werden, ein mühevoller und oft gescheiterter Durchgang von Lehr- zu Herrenjahren, von Befehlsempfängern zu Anschaffern, von Ungeschickten zu Experten. Jedenfalls konnten sich viele nach dem Durchgang niederlassen, näher oder ferner den Benefits der alle beherrschenden Prinzipien, als größere oder kleinere Teilhaber an der Weltherrschaft und Selbstbeherrschung des Menschen.

Das Heranwachsen jedoch ist selbst immens gewachsen und damit das soziale Feld der Theorie und Praxis von Pädagogik. An die Aufzucht in den Familien oder sonstigen Heimen schließt sich nahtlos das Bildungswesen aller Stufen, wie sie von den Staaten organisiert und unter Aufsicht gestellt sind. Darüber hinaus aber wuchert der pädagogische Betrieb weiter in der Arbeitswelt, setzt sich fort in Weiter-Bildungs- und Umschulungsmaßnahmen der Betriebe, Behörden und Arbeitsämter, in Bildungskarenzen zum Zukauf mannigfacher Fertigkeiten, Kenntnisse und Qualitäten, die auf dem Markt angeboten werden, ja derlei gilt vielen auch noch nach dem Arbeitsleben als Sinn des Lebens, das noch bleibt.

In der Psychotherapie hat sich eine der Pädagogik eng verwandte Disziplin und Praxis zu einer boomenden Industrie zur Reparatur und Nach- wie Aufrüstung des strapazierten, den Anforderungen nicht mehr gewachsenen seelischen Apparats entwickelt. Bildung, Therapie und Arbeit verschmelzen zu einem das ganze Leben durchdringenden, ja ihm Sinn gebenden, es lebbar haltenden Komplex. Die Kluft zwischen dem, was Menschen möglich ist und vielleicht - das Gefühl dafür ist arg bedroht - sogar gut tut, und dem, was die Gesellschaft fordert, wächst an. Erwachsensein im Sinne abgeschlossener Bildung und ausreichender physischer, geistiger und seelischer Fähigkeiten, um seinen "Platz im Leben" unangefochten zu behaupten, ist schwer bis unmöglich geworden, "Life long learning" ist angesagt und soll wie "ewig jung sein" klingen.

"Es muss Spaß machen"

Wo haben da Lust, Freude, Wohlbefinden einen Platz im Lernen und Arbeiten? Der schon 1941 gestorbene Dichter Rabindranath Tagore ließe sich hier als tragischer Prophet eines pädagogischen Programms zitieren: "I slept and dreamt that life was joy. I awoke and saw that life was service. I acted and behold, service was joy." (brainyquote.com) Tatsächlich setzen ja Erziehung, Bildung und ihre Kunst und Theorie als Pädagogik und auch als Seelsorge und Psychotherapie mehr oder weniger deutlich die Möglichkeit voraus, service und joy durch Handeln in Gesellschaft und Welt vereinen zu können.

Das Problem stellt sich schon früh im Leben. Am Anfang geglückter Welterfahrung von uns Menschen, am Beginn des Lernens steht ja keine Dienstverpflichtung. Kinder wollen es von sich aus, haben Lust daran, "dabei" zu sein, lateinisch: "interesse", müssen nicht dazu erst angehalten werden. Wenn aber die Schulpflicht die Kleinen erreicht, den Kindern nicht selten als der Anfang des "Ernsts des Lebens" angekündigt, zeigt sich, wie wenig sich Interesse, Freude und Lust am Neuen als Pflichterfüllung entfalten mögen. Soweit jene am Beginn der Schulpflicht noch vorhanden sind, nehmen sie beim größten Teil der Pflichterfüller mit der Zeit nicht zu, sondern ab. Folgerichtig wird für den Lehrberuf als eine Kernkompetenz die Fähigkeit verlangt, die jungen Leute zu ihrem "Interesse" "motivieren" zu können. Wobei in der bildungsfernen Not des Alltags diese Motivierung regelmäßig bei den Erziehern wie bei den "Zöglingen" selbst durchaus extrinsisch, gewissermaßen "bodenständig" wird: Man hat sich "schinden" zu lassen, damit eins "etwas wird ...", es "zu etwas bringt im Leben", zu einer guten Stellung, zu Geld kommt und davon - hoffentlich lustig - leben kann. "Per aspera ad astra" lernen die Lateinschüler als Sinn der Bemühung, doch ist hier schon nicht von arglosem Wohlbefinden eine Ahnung, sondern eher vom Herabschauen auf jene, die in den Dornen hängen geblieben sind.

Und doch: Die Freude, die Tagore als Ergebnis seines eigenen souveränen "acting" entdeckt, dass ihm also das eigene In-Dienst-genommen-Sein "joy" bereitet, das verlangt die zeitgenössische Bildungs- und Arbeitswelt ihren "Service"-Leistern und (Weiter-)Bildungswilligen oft schon als Pflicht ab: Lernen und Arbeiten "muss Spaß machen", muss mit Lust und Freude geschehen. Was die Tätigkeiten anbelangt, kommt das ja manchmal noch von selbst. Vom Ablauf, von der Handhabung und "Technik", von den Problemstellungen und Methoden, auch von der Kooperation mit anderen her wecken nicht wenige Lern-, Studier-, Produktions- und Dienstleistungsfelder Neugier und Kreativität.

Aber selbst wenn Spaß und Freude von selbst nicht kommen, tut eins gut daran, sich darum zu bemühen, auch wenn es ein Unterfangen zu sein scheint wie "sich zur Freiheit zwingen". Es geht schließlich bei alledem zuletzt nicht um den Spaß am Werken und den Werken, sondern darum, dass das Produkt, der Dienst, der Lernerfolg mithalten kann in der Konkurrenz um den Verkauf, in der sie in Geld "umschlagen" müssen oder "Ladenhüter" werden. Ja, die ganze Veranstaltung kommt nur zustande, das Lernen wie das Arbeiten, wenn sie direkt oder indirekt dem heiligen (wie die Allgegenwart Gottes oft unspürbaren) Zweck der Geldvermehrung dienen. Die Banken, Anleger, "Märkte" und ihr zahlreiches Personal gingen Bankrott, würden sie ihr Geld nicht dort investieren, wo sie erwarten können, dass mehr davon herausspringt, und der Arbeitsmensch, der seine Zeit, Kraft und Fähigkeiten verkaufen muss für Geld zum Leben, verwendet auch nicht zu viel Spaß auf Mühe, die sich nicht "lohnt". Von der Verkäuferin bis zum Konzernchef ist es schon eher eine "Frage des Überlebens", mit Engagement, Esprit, Spaß und Freude an die ihnen bestimmte Form des Handeln, des Kaufens und Verkaufens, heranzugehen. Sich gut verkaufen zu können, ist heute nicht bloß Erfolg am Straßenstrich, sondern eine hohe Tugend in jedem Rang und jeder Art Erwerb. Auf Dauer aber hält es die Neugier und die Kreativität in eher engen Grenzen, wenn es am Ende immer nur um Geld und nichts als Geld geht.

"Da hört sich der Spaß auf"

Selbst Patienten im Krankenhaus und Schülerinnen werden als Kunden bezeichnet, Ärzte und Lehrer sind Verkäufer, Gesundheit und Bildung käufliche Ware. Kaufen und (sich) Verkaufen sind drauf und dran, als grundlegende menschliche Beziehung definiert und erlebt zu werden. Das Wort Markt hat sich durchgeätzt von den Sachgüter-, den Lebensmittel- und den Arbeitsmärkten bis zu Heirats-, Beziehungs-, ja Liebesmärkten. Geld ist das dominante Medium unseres Umgangs miteinander. Möglichst wenig geben, möglichst viel bekommen, ist das Erfolgsrezept. Es ist die "unpersönlichste praktische Lebensbeziehung, in welche Menschen miteinander treten können", in der wir uns da täglich üben, "spezifisch sachlich, am Interesse an den Tauschgütern [Geld und Ware] und nur an diesen, orientiert", "nur Ansehen der Sache, kein Ansehen der Person" (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft Teil II, Kap.VI auf Zeno.org). Emotionen werden theatralisch, echte stören leicht das Kalkül und damit den Erfolg.

Ein Manager, das Leitbild der Gesellschaft, ist cool. Sein Verhalten "rechnet sich", man kann damit vor allen Sorten Kunden und Verkäufern brillieren, in Schulen als Lehrer glänzen, als Schüler gute Noten haben, in Universitäten und Konzernen Karriere machen und Klunker, Häuser, Luxuswaren, Sex, Sedativa, andere Drogen und jede Menge Surrogate und "Prothesen" kaufen, aber Freude, Lust, Wohlbefinden, sich bei seinen Mitmenschen angenommen zu fühlen, gar herzlich geliebt zu werden kaum. "Nur Ansehen der Sache, kein Ansehen der Person" ist auf Dauer kaum einem Menschen zuträglich, der die Bedürfnisse und Gefühle hat, die uns die Evolution bis heute "angemessen" hat. Hier scheitert leicht, wer es bis hierher geschafft hat, nach dem Scheitern derer, die auf dem Weg nicht so weit gekommen sind. Der Spaß hört auf. Dass Burnout und Depression in unseren Gesellschaften epidemisch werden, scheint dies nur zu bestätigen.

"Nach uns die Sintflut!"

"Sachlich" spricht in solcher Art Beziehung der Menschen zueinander alles dafür, dass eins sich statt zu tauschen listig oder gewaltsam einfach nimmt, wenn es "sich rechnet" oder sich zu rechnen scheint. Thomas Hobbes hat diese moderne Art Gesellschaft als eine von Wölfen, die einander anfallen (homo homini lupus), schon an ihrem Beginn gezeichnet, und sie hat seitdem gezeigt, zu welchen Orgien von Gewalt sie hindrängt, allerdings nicht so sehr aus der menschlichen "Natur" heraus, sondern viel eher, weil ihr Ordnungsprinzip der Geldvermehrung Betrug und strukturelle wie manifeste Gewalt im Standardrepertoire ihrer Mittel hat.

Voll durchgesetzt hat sich die rein "sachliche" Beziehung im Naturverhältnis der Menschheit. Mathematik als "die Sprache der Natur" (Galilei) und das Experiment als ihr peinliches Verhör zum Erzielen von Erkenntnissen (Bacon) bahnten den neuzeitlichen Weg zu ihrer "Ausbeutung", was in diesem Zusammenhang bis heute weithin durchaus den Klang angemessenen "Gebrauchs" hat und zugleich der wissenschaftlich-technischen Bildung und Theorie den Konnex zur Praxis gibt. Natur ist als unerschöpflicher Rohstoff imaginiert. Maßstab für das Ausmaß seiner Ausbeutung ist technische Fähigkeit und zahlungskräftiger Bedarf.

Angesichts der ökologischen Verwüstungen und des drohenden Klimawandels ist seit Jahrzehnten von Beschränkungen im Zugriff auf die Natur die Rede. Die Ordnung unseres Lebens aber kennt dafür höchstens eine Verlagerung des für ihr Bestehen weiter wachsenden Geschäfts. Alles andere ist systemwidrig, denn irrsinnigerweise hängt unser alltägliches Leben daran, dass wir mit seiner Zerstörung weitermachen. Wo Regulierungen drohen, werden sie bekämpft, wo sie bestehen, so gut es irgend geht, umgangen, das Gift, der Dreck, die Schäden, die kriegerische Gewalt werden aus den Metropolen in die "Entwicklungsländer"exportiert. Die Natur kann aber nicht beherrscht, auch nicht "aus dem Gleichgewicht gebracht" werden, sie ist das Ganze und hat auf jede Aktion der Tiere ihre Antwort. Dem ephemeren Homo oeconomicus bleibt bei seinem autodestruktiven Treiben daher schließlich nur die zynische Losung, "der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation": "Après moi le déluge!" (Marx, Kapital I).

Auf dem Weg zu "Lust"?

An alledem mitzuwirken, dazu beizutragen, dass die zu Belehrenden und zu Erziehenden in dieser Art von Leben unverdrossen ein gutes suchen, ist keine Lust, das Personal erwartet auch selbst am Ende meist nur die Bezahlung. Und die "Kunden" werden, wenn alles klappt, mit Illusionen aufgepeppt und qualifiziert fürs Leben in Arbeit und Freigang und im Staat. "Vermeidung von Schmerz und Unlust" werden beide, wenn etwas dran ist an dem, was hier zuvor geschrieben steht, nicht leicht erwarten können.

Und um bei Epikur zu bleiben: In der Gesellschaft und ihrem Staat und anderen Institutionen ist kaum Platz dafür. Der Philosoph war desillusioniert von Gesellschaft im Großreich wie im Stadtstaat, von Monarchie, Aristokratie und Demokratie. Er sah schon im zeitgenössischen Kampf der Diadochen des "großen" Alexanders wenig Möglichkeit für ein gelingendes Leben in ήδoνή, erst recht kann unsereins heute mit einem Blick über den Gartenzaun des "Uns geht's doch noch gut" eine sehen im Geraufe der "Standorte" um die Gunst der globalisierten "Märkte", im Agieren der Mächte und Staatenbünde in den Kriegen um die verwertbaren Trümmer der sich vermehrenden "failed states" und am wohl dramatischsten in der Schädigung der Biosphäre des Planeten.

Wir sind zueinander und zur Welt falsch aufgestellt. Ausbeutung der Natur und die Unterwerfung unter den lebensfeindlichen, von jeder Realität abstrahierenden Zwang zur Kapitalsverwertung sind nicht zu reformieren, sondern abzuwickeln. Ηδoνή ist nicht "ohne Ansehen der Person", rein "sachlich" und nicht von Einzelnen für sich zu haben, sondern nur in Verhältnis von φιλία, Freundschaft, freundsen von icher Zuwendung und Rücksichtnahme. Epikur meint nicht die "amicitia forensis" (Hobbes, De cive), die im Bündnis gegen Dritte besteht und von der Art ist, wie Gesellschaft Freundschaft sich einverleiben kann, sondern Freundschaft als Praxis erlebter menschlicher Gemeinschaft. Diese, so lässt sich anschließen, kann mit vielen weiteren ein Netzwerk von Austausch, Kooperation, Versorgung und Frieden bilden, es könnte und sollte daraus ein Gegenentwurf zu Gesellschaft werden.

Es geht um eine Abwicklung von weiterwirkenden Features historischer Herrschaftslogik wie dem Patriarchat und dem Rassismus und den in den letzten Jahrhunderten Herz und Hirn zersetzenden Regeln des Werts und seiner ewigen Verwertung, gegen eine Lebensordnung von Herrschaft und Macht, die ihrem Untergang entgegengeht. Dieser wird die Folge ihres Umgangs mit der Welt sein. Er wird schrecklich sein, ist er nur das. Hoffentlich ist er aber auch ein Werk der von Menschen gestalteten und durchgesetzten lebensfreundlichen Alternativen. Sie sind schwach entwickelt, sie suchen und gewinnen jedoch an Kontur.

Sich an diesen zu beteiligen, ist im Wortsinn radikale, an die Wurzel gehende Kritik dessen, was da starrsinnig und gewalttätig seinen Niedergang verleugnet. Eins führt da ein Doppelleben. Wir werden alltäglich mitgezogen in eine destruktive Praxis der Konkurrenz, der Schädigung dessen, wovon wir leben, des Weg-Schauens, Schweigens und Im-Mainstream-Schwimmens. Wir werkeln aber zugleich daran, diese Praxis uns und anderen bewusst, die Zusammenhänge klar zu machen, ein Stück weit solidarisch unser Leben in die Hände zu bekommen, freundschaftlich-kooperativ zu handeln, Neues, uns und der Mitwelt Zuträgliches zu erproben, das Alte geistig und praktisch zu derangieren. Und wir sollten dabei nie vergessen, wo die Macht und die Gewalt wohnt, mit der sich infiziert, wer ihr auf ihrer Ebene entgegentritt, entgegentreten muss und Heilung braucht. Dazu noch ein letzter Ratschlag des alten Griechen: λάθε βιώοας - Entgeh' ihnen und lebe! Das ist schon Lust. Und wenn es zunächst auch nur ein Quäntchen ist.

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Rezens

Julia von Lucadou: Die Hochhausspringerin.
Hanser-Verlag 2018, 288 Seiten, ca. 19 Euro

Dieser Roman spielt in einer Stadt in der nahen Zukunft. In ihr werden die Häuser zum Zentrum hin immer höher, die Wohnungen darin luxuriöser. Am Rand herrscht das nackte Elend. Dort leben die Minderleister. Wer von dort in die Stadt gelangen will, muss bei einer Casting-Show gewinnen. In der Stadt steht man allerdings unter ständiger Erfolgskontrolle. Jeder muss einen "Activity Tracker" tragen, der alles registriert. Aus Einkommen, Fitness, Sozialverhalten etc. berechnet er einen "Credit Score". Steigt er, bekommt man eine bessere Wohnung. Fällt er, droht als letzte Konsequenz die Ausweisung aus der Stadt. Es ist eine sterile und kalte Welt, in der alle emsig daran arbeiten, ihre eigene Persönlichkeit zu verkaufen. Riva, eine gefeierte Berühmtheit, will das nicht mehr mitmachen. Kurz nachdem sie ein Presseinterview mit den Worten "Fuck winning" beendet hat, sitzt sie nur noch untätig zu Hause. Eine Psychotherapeutin wird eingeschaltet, die im Fall ihres Versagens selbst aus der Stadt ausgewiesen wird. Sie lässt daher nichts unversucht, aber Riva lässt sich nicht umstimmen.

Der böse Traum des Neoliberalismus geht hier mit einem Sozialpunktesytem für gutes Verhalten zusammen, wie es in China geplant ist. Erfolg ist alles, was zählt. Die Sprache des Buchs ist voller Vokabeln aus der Business-Sprache, was die allgemeine Geschäftigkeit noch unterstreicht. Es ist die lange schon überfällige Dystopie auf eine Welt, die alle Menschen auf ihre Leistungsfähigkeit reduziert.

P.S.

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Auslauf

von Petra Ziegler

Nicht festhalten!

Loslassen!? Bloß nicht loslassen! Eher noch macht unsereins den Klammeraffen, als mal was sausen zu lassen. Eine Gelegenheit zum Beispiel, die uns ganz unvermutet winkt. Was sich im warenproduzierenden Alltag eben so bietet. Eine Chance, eine echte Herausforderung, in die eins sich verbeißen kann. Da heißt es zuschnappen, zugreifen, die Zähne reinhauen. Die eigene Kraft spüren, da lebt manchereins auf, aber richtig. Oder wir jagen nach Schnäppchen. Gleich ist die Gelegenheit am Schopf gepackt, noch vor allen anderen. So ein schickes Tablet hat gerade noch gefehlt, das vierzehnte Paar Jeans (aber echt bio) ist im Kasten, und die neue Eismaschine bereichert funkelnd den Hausrat. Der Nachbar trumpft mit seiner ausgesucht exquisiten Auswahl später Burgunder auf. Bestellt wird so eine Rarität auf Jahre im Voraus. Wir sammeln und wir jagen, scheinbar aus uralter Gewohnheit. So sind wir, kann doch keiner aus der eigenen Haut. Und nie genug kriegen wir, so nimmersatt und voller Gier ist der Mensch. Das weiß der gemeine Volksmund, so wie er für alles den richtigen Spruch und Glauben parat hält.

Wir hüten und mehren unser Hab und Gut, auch wenn die Seligkeiten immer nur kurz währen, während die Angst vor Verlusten die Stimmung noch zusätzlich drückt. Eigentlich alles recht belastend - auch so eine Weisheit, die es zu bedenken gilt. Es empfiehlt sich, von Zeit zu Zeit auszumisten und wieder Platz für Neues zu schaffen. Besitz beschäftigt - ob eins welchen hat oder emsig danach strebt. Daneben bleibt gerade noch so viel Energie, die Verhältnisse zu beklagen, die wir fortgesetzt stabilisieren, am laufenden Band, mit Hirnschmalz, Fleiß und gehöriger Ausdauer.

Wir halten uns an das, was wir haben. Auch und erst recht an das, was wir im Kopf haben, an unsere Erwartungen, Überzeugungen und gewohnten Denkmuster. Geradezu süchtig nach Bestätigung scheinen wir. Was nicht ins eigene Weltbild passen mag, sieht eins erst gar nicht, da kann es noch so deutlich vor Augen stehen. Dabei ist das weniger böse Absicht denn schlichte Folge selektiver Wahrnehmung. Dank Confirmation Bias - eine Art Aufmerksamkeitsfilter - dringt nur durch, was unsere eigenen Ansichten stützt. Das funktioniert ganz ohne bewusstes Zutun. Durchaus praktisch, eins würde bei all der pausenlosen Reizüberflutung sonst glatt untergehen. Unser Festhalten am Erprobten hat freilich seine Schattenseite: Von vorgefassten Meinungen rücken wir nur schwer wieder ab, von unseren Glaubenssätzen und Ressentiments, stereotypen Vorstellungen, Konventionen und überhaupt von so ziemlich allem, was der "gesunde Menschenverstand" so gebietet. Mit Argumenten ist der unbewussten Präferenz für das Bestehende jedenfalls kaum beizukommen. Verstärkend wirken in jüngerer Zeit noch diverse Internetsuchmaschinen, die vermittels Algorithmen in die immer gleichen Kanäle leiten.

Das Vertraute scheint sicher, im alltäglichen Trott wie im großen Ganzen. Dazu gehören die unhinterfragt vorausgesetzten Selbstverständlichkeiten des bürgerlichen Daseins: Privateigentum, Geld und Tausch. Woran wir gewöhnt sind, das lässt uns kaum gruseln. Das Leben unter den Bedingungen des Werts erscheint den meisten keineswegs absonderlich oder gar skandalös. Abseitige Gedanken werden - wenn überhaupt - als störend registriert.

Selbst noch in der Krise und angesichts bereits handfester Auswirkungen der sich anbahnenden Klimakatastrophe ändert sich wenig am Verhalten, das marktwirtschaftliche Konkurrenzsystem lässt uns freilich kaum Spielraum. Daran festzuhalten ist nichts anderes als fatal.

Der Klammeraffe übrigens, der für all das nichts kann, ist ein in Süd- und Mittelamerika lebender Baumbewohner, tagaktiv. Er bewegt "sich geschwind und agil durch das Geäst, entweder vierbeinig oder schwinghangelnd", erfährt eins bei Wikipedia. Aufgrund ihres Fleisches werden die Klammeraffen auch bejagt, die Abholzung der Regenwälder lässt ihren Lebensraum schwinden, sie gelten demnach als gefährdet. Zwei der sieben bekannten Arten sind akut vom Aussterben bedroht.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2019

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