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VORWÄRTS/609: Einen offenen Brief an den Staat der Eidgenossen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 37/38/09 vom 2. Oktober 2009

INLAND
Einen offenen Brief an den Staat der Eidgenossen


sit. Es gibt Geschichten in diesem Land, die Tränen der Wut und der Trauer aufkommen lassen. Es ist ein Land, das einen 17jährigen wegen dem Fehlen eines Stücks Papier einbuchtet und abschiebt. Es ist ein Land, in dem grobfahrlässiges Handeln der Manager geschützt wird. Was für ein verdammtes Land ist so ein Land?


Didier ging als Knirps in den Kindergarten. Juan ging auch als Knirps in den Kindergarten. Didier besuchte danach die Schule. Juan besuchte danach auch die Schule. Didier lernte die Sprache seiner Region und die Kultur des Landes, in dem er lebt. Juan lernte auch die Sprache seiner Region und die Kultur des Landes, in dem er lebt. Didier hatte Träume. Juan hatte Träume. Didier bekam die Chance, seine Träume zu verwirklichen. Juan bekam diese Chance nicht! Didier Burkhalter wurde am 16. September zum Bundesrat gewählt. Juan Jacobo Montana (17) wurde wenige Stunden vor der Wahl von Didier Burkhalter verhaftet. Er sitzt immer noch im Knast, weil er kein Stück Papier hat, das besagt, dass er in diesem Land leben darf. Was ist das für ein verdammtes Land, das wegen einem Stück Papier im Nu die Träume eines Jugendlichen zerstört. Didier wurde mit Pauken und Trompeten gefeiert. Juan wurde gleichzeitig von der Staatsmacht massiv unter Druck gesetzt, bis er seine Wohnadresse rausrückte. Die Polizei verhaftete auch seine Mutter und setzte sie wenigen Tagen später in ein Flugzeug nach Kolumbien. Dort angekommen, schreibt sie einen offenen Brief an die Schweizer Gesellschaft. Berührende Worte, die zum Nachdenken zwingen. Hier der Wortlaut des Schreibens:

"Bogotá, Kolumbien, 22. September 2009. Seit 24 Stunden bin ich wieder im Land, in dem ich geboren wurde. Gestern um 13 Uhr kam ich hier an, von der Schweizer Regierung ausgeschafft, nach zwölf Jahren in denen ich in diesem Land gelebt habe. Ein Land, welches ich lieben gelernt habe, dessen Sprache ich gelernt habe, in dessen Kultur ich mich eingelebt und der ich mich angepasst habe, dem Land, in dem ich meinen Sohn seit dem Kindergarten und bis Sekundarschulabschluss aufgezogen habe. Einem Land, in dem ich mit Disziplin, Aufrichtigkeit und Fleiss gearbeitet habe, ohne je auf die finanzielle Unterstützung von irgendjemand angewiesen zu sein.

Ich kam in die Schweiz als Asylsuchende, denn in meinem Heimatland herrscht Krieg, es ist ausgeblutet von den schweren und gewaltsamen internen Konflikten. Mein Ehemann und seine Familie wurden Opfer von politischer Verfolgung, welche rechtlich nicht geahndet wurde. Nachdem unser Asylgesuch nach einem langen Prozess von Gesuchen und Befragungen abgewiesen wurde, war die Angst, in mein Heimatland zurück zu kehren grösser als die Angst, ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz weiter zu leben.

Am letzten Dienstag, dem 15. September 2009 wurde mein 17jähriger Sohn Juan Jacobo verhaftet. Seither habe ich ihn nicht mehr gesehen. Am Donnerstag 17. September 2009 wurde ich in unserer Wohnung verhaftet, meine Ersparnisse wurden beschlagnahmt und ich wurde wie eine Schwerverbrecherin in eine vier Quadratmeter breite Zelle eingesperrt. Ich wurde ausgeschafft, ohne dass meinem Wunsch, mit meinem Sohn in Kontakt treten zu können, stattgegeben wurde. Mir wurde mein Recht als Mutter, als Inhaberin der elterlichen Fürsorge, als seine gesetzliche Vertreterin abgesprochen. Vor allem aber wurde meinem Sohn das Recht verweigert, welches ihm gemäss den Menschenrechten als Minderjähriger zustehen würde. Mein Sohn ist noch immer inhaftiert.

Unsere Ehrlichkeit, unsere Arbeit, unsere Anpassungsleistungen waren nicht ausreichend, um eine Aufenthaltsberechtigung in diesem Land zu erhalten. Und dennoch haben wir die Art und Weise, wie wir jetzt behandelt werden, nicht verdient. Ich fordere die Schweizer Gesellschaft, die Schweizer Regierung dazu auf, darüber nachzudenken, unter welchen Bedingungen und unter welchen Umständen Migration stattfindet und über die Menschen, die Schutz suchen in diesem fremden Land, weil ihr eigenes Land ihnen diesen nicht geben kann. Nachzudenken, jenseits von Grenzlinien und Gesetzen. Die Definition 'Illegale', eine solch unmenschliche Definition, dürfte es gar nicht geben seit es Menschenrechte gibt. Die Schweiz verdient etwas Besseres. Zum Schluss möchte ich der Schweizer Bevölkerung danken, den Menschen und Organisationen, die uns unterstützt und sich für uns eingesetzt haben. An erster Stelle der Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich SPAZ. Euch allen bin ich enorm dankbar. Die Schweizer Behörden bitte ich als Mutter inständig, mich schnellstmöglich wieder mit meinem Sohn zusammen zu führen und seiner emotionalen und körperlichen Integrität grösste Sorge zu tragen. Diese Erfahrungen sind für uns unglaublich schmerzhaft.

Und meinem Sohn sollt ihr ausrichten, dass ich ihn liebe. Und dass wir bald wieder beieinander sein werden. Und dass unsere Träume nicht sterben werden.

Mil abrazos, María Dennis Díaz Montaño"


Fahrlässig Träume kaufen

Am selben Tag, als das Mail von María Dennis eintraf, lehnte es der Nationalrat ab, grobfahrlässige Verletzungen der Sorgfaltspflicht von Geschäftsleitungen wie zum Beispiel in den Fällen von Swissair und UBS strafrechtlich zu ahnden. Eine diesbezügliche Initiative wurde mit 123 zu 42 Stimmen abgeschmettert. Die Begründung ist im Winterthurer Landbote zu lesen. Erstens wäre "die Sanktionierung fahrlässiger Managerentscheide ein Novum". Konservative tun sich eben mit einem Novum sehr schwer, ausser wenn es darum geht, der UBS 68 Milliarde rüberzuschieben. Und zweitens könnte so ein Gesetz "ein Hindernis für erfolgreiches unternehmerisches Handeln" sein. Wie zum Teufel kann die Ahndung von grobfahrlässigem Handeln ein Hindernis für ein gutes Geschäft sein? Oder muss die Sache auf den Kopf gestellt werden? Muss im Kapitalismus grobfahrlässig gehandelt werden, damit viele zu Schaden kommen und dadurch sich ganz Wenige bereichern können? Es ist wohl so, denn die grosse Mehrheit der VolksvertreterInnen in Bern ist der Meinung, dass "die Angst vor strafrechtlichen Folgen Unternehmer am Eingehen von Risiken hindern" könnte.

Am selben Tag war im Tagi-Online zu lesen, dass CS-Chef Brady Dougan in wenigen Monaten 43 Millionen Franken an Boni kriegt. Seine Kumpels aus der Chefetage freuen sich auch: "Im März sollen 300 Banker aus dem Topmanagement der Credit Suisse 1.9 Milliarden Franken an Boni ausbezahlt erhalten". Im Gegensatz zu Juan werden sich die Topmanager ihre Träume kaufen! Und genau deswegen schreien wir: Freiheit für Juan, kein Mensch ist illegal!


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38/2009 - 65. Jahrgang - 2. Oktober 2009, S. 2
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2009