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VORWÄRTS/628: Mexiko - "Sie sind Frauen, deshalb werden sie ermordet"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 01/02 vom 8. Jan. 2010

"Sie sind Frauen, deshalb werden sie ermordet"

Von Anna Scherer


Die Anwältin und Menschenrechtsverteidigerin Luz Esthela Castro Rodriguez setzt sich für Familien ein, die von Femizid betroffen sind. Die Morde an den Frauen bleiben dabei oft ungeklärt. Der vorwärts sprach mit der 55-jährigen Aktivistin, die schon mehrmals Morddrohungen bekommen hat.


Seit 1993 sind im nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua über 400 Mädchen und junge Frauen brutal vergewaltigt und ermordet worden, über 600 werden vermisst. Zahlreiche Morde sind bis heute nicht oder nur mangelhaft aufgeklärt, was auf ein Versagen der Behörden hinweist. Anlässlich des Internationalen Menschenrechtstages am 10. Dezember hat Castro Rodriguez zusammen mit Amnesty International zahlreiche Schulklassen in der Schweiz besucht und über ihre Arbeit im "Centro de Derechos Humanos para Mujeres" (Zentrum für Frauenrechte) und bei der Organisation "Justicia para Nuestras Hijas" (Gerechtigkeit für unsere Töchter) berichtet.


VORWÄRTS: Luz, welches sind die Ursachen der Femizide? Wer steckt hinter den Morden?

CASTRO RODRIGUEZ: Sie sind Frauen, deshalb werden sie ermordet. Das ist der Hauptgrund! So wie es gezielte Morde an bestimmten Ethnien gibt, haben wir es bei den Feminiziden mit gezielten Morden an Frauen zu tun. Für die Morde gibt es nicht nur eine, sondern viele Ursachen. Es gibt sowohl Serienmörder als auch Einzeltäter. Teilweise sind die Frauen Opfer von häuslicher Gewalt oder von satanischen Riten. Andere Täter gehören der organisierten Kriminalität an, wie zum Beispiel beim Mord als ein Initiationsritual der Drogenmafia oder beim Frauenhandel. Eine weitere Ursache sind Snuff-Filme, in denen die Vergewaltigung und der Mord an jungen Frauen live aufgezeichnet werden. Diese Videos bringen den Mördern, ähnlich wie bei der Kinderpornografie, riesige Summen ein. Wie gesagt, die Gründe für Feminizide sind vielfältig. Einzig Organhandel konnten wir nicht feststellen, da dafür eine bestimmte Infrastruktur notwendig ist, welche wir bisher nie vorgefunden haben.


VORWÄRTS: Wie hängt der Drogenhandel mit den Morden an Frauen zusammen?

CASTRO RODRIGUEZ: Chihuahua liegt in Bezug auf den Drogenhandel an einem strategischen Ort. Die Grenze zu den USA birgt uns viele Probleme, da sie eine der grössten Drogenumschlagplätze der Welt ist. Chihuahua ist seit zwei Jahren die gefährlichste Gegend der Welt, hier gibt es zwischen 20 und 30 Morde pro Tag. Der Drogenhandel wird in Mexiko seit langem toleriert. Er entwickelte sich sogar vor den Augen der Regierung. Unter der Bekämpfung des Drogenhandels leidet dann vor allem die Zivilbevölkerung. Es ist wichtig zu erkennen, dass die drei Komponenten Drogenhandel, Waffenhandel und Menschenhandel eng zusammen hängen.


VORWÄRTS: Wie erklären Sie sich, dass die Opfer meist sehr jung sind und fast immer aus sehr ärmlichen Verhältnissen stammen?

CASTRO RODRIGUEZ: Die Opfer werden gezielt ausgesucht. Dies ist nur möglich, weil ein Klima der Straflosigkeit herrscht.


VORWÄRTS: Was kann man gegen dieses Klima der Straflosigkeit tun?

CASTRO RODRIGUEZ: Zuerst einmal muss man erkennen, dass dieses Problem existiert. Die Regierung sollte aber vor allem ihre neoliberale Wirtschaftspolitik überprüfen und eine bessere Sozialpolitik betreiben. Dem Recht auf Schule, dem Recht auf Arbeit und dem Recht auf Gesundheit sollte viel mehr Beachtung geschenkt werden, damit die Jugendlichen nicht in die organisierte Kriminalität abrutschen. Da die jungen Leute keine Perspektiven haben, eben weil sie zum Beispiel arbeitslos sind, werden sie schnell straffällig.


VORWÄRTS: Worin besteht Ihre Arbeit im "Centro de Derechos Humanos para Mujeres"?

CASTRO RODRIGUEZ: Ich bin Anwältin für Frauen in Gewaltsituationen. Unsere Organisation gibt es seit 1993 und wir kümmern uns um Zwangsvertreibungen, um das Recht auf Nahrung und das Recht auf Wohnen. Wir sprechen aber auch Themen wie das Ziel einer unabhängigen und gentechfreien Landwirtschaft an und fordern den Rückzug des Militärs aus der betroffenen Region. Die Frauenrechte stehen jedoch im Zentrum unserer Arbeit. Es ist uns wichtig, dass Frauen lernen, dass sie dieselben Rechte wie Männer haben und dass Gewalt nicht normal ist. Wir bieten emotionale Betreuung für Frauen an und organisieren Workshops für Jugendliche.


VORWÄRTS: Was sind die Anliegen der Organisation "Justicia para Nuestras Hijas", die Sie mitbegründet haben?

CASTRO RODRIGUEZ: Die Organisation kümmert sich vor allem um die Angehörigen von Verschwundenen. Wir leisten Hilfe bei der Suche nach verschwundenen Mädchen und Frauen und organisieren Proteste und Kundgebungen. Dabei sind wir sehr froh, dass wir auch internationale Unterstützung erhalten. So hat uns zum Beispiel Irene Khan, die Generalsekretärin von Amnesty International besucht. (Damals war Irene Khan noch Generalsekretärin, wurde jetzt durch Salil Shetty abgelöst, Anm. d. Red.)


VORWÄRTS: Bis Ende der 90er Jahre waren die Feminizide ausserhalb von Chihuahua wenig bekannt. Dies hat sich geändert, warum?

CASTRO RODRIGUEZ: Dass das Problem auf die internationale Agenda gesetzt wurde, hat in der Tat viel gebracht. Heute beschäftigen sich nicht nur ein paar Menschenrechtler, sondern Anthropologen und Feministinnen und viele andere Intellektuelle mit dem Thema. Zudem haben wir erreicht, dass der Feminizid als ein solcher anerkannt wurde und das war nicht einfach. Zuvor wurden die getöteten Mädchen und Frauen oft einfach als normale Mordopfer klassifiziert und der Hintergrund, dass gezielt Frauen getötet werden, wurde vernachlässigt. Wichtig war es auch zu zeigen, dass dies nicht nur ein mexikanisches Problem ist, sondern eine Realität, der man in ganz Lateinamerika begegnet. Dadurch, dass die Probleme in der Gegend von Juarez international bekannt wurden, gibt es nun vermehrt mexikanische Anthropologinnen, die sich um die Identifikation der Leichen kümmern.


VORWÄRTS: Was erwarten Sie vom Westen und von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International?

CASTRO RODRIGUEZ: Eine Delegation von Amnesty hat Mexiko besucht, aber nur Guerrero, Chiapas und Oaxaca. Leider sind sie nicht nach Chihuahua gekommen. Ich hoffe sehr, dass Amnesty auch den Norden des Landes besuchen wird, damit sie sehen, wie alarmierend die humanitäre Lage dort ist. Eine Beobachtung des Zustandes seitens Amnesty wäre sehr wichtig, denn es ist eine Realität, die man auf den ersten Blick nicht sieht. Es ist eine Angelegenheit, die Frauen betrifft - und Frauen sind am verletzlichsten.


VORWÄRTS: Sie haben mehrfach Morddrohungen erhalten, und Amnesty hat schon Briefaktionen zu Ihrem Schutz lanciert. Woher nehmen Sie den Mut und die Kraft, weiterzumachen?

CASTRO RODRIGUEZ: Die Frauen, die sich wehren und Gewaltverbrechen anzeigen, geben mir Kraft. Wie soll ich sie alleine lassen? Ich habe eine akademische Ausbildung und dadurch viele Möglichkeiten erhalten. Man muss sich die Frage stellen, wie man sein Leben verbringen möchte. Einige möchten viel Geld verdienen oder sich im Fitnessstudio anstrengen. Ich möchte mein Leben verbringen, indem ich Frauen helfe. Sie haben mich gelehrt zu schätzen, was ich besitze. Kraft geben mir aber nicht nur die Frauen in Mexiko, sondern alle Frauen der Welt, die kämpfen und alle Frauen der Geschichte, die für etwas gekämpft haben. Dazu gehören auch Philosophinnen und Theologinnen, Anwältinnen und natürlich solche, die sich dafür einsetzen, dass es bessere internationale Instrumente und Mechanismen zum Schutz von Frauen gibt. Das bewundere ich sehr.


VORWÄRTS: Während der letzten Woche haben sie zahlreiche Schulen in der ganzen Schweiz besucht und dort Vorträge gehalten. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht und wie waren die Reaktionen der Jugendlichen?

CASTRO RODRIGUEZ: Ich bin glücklich und sehr zufrieden, dass ich die Herzen vieler Menschen erreichen konnte. Ich habe viele Kinder und Jugendliche getroffen, die vorher keine Erfahrungen mit Amnesty und deren Anliegen hatten. Ich glaube, es ist ein Mythos, dass junge Leute unverantwortlich sind und es sie nicht interessiert, was in der Welt passiert. Zum Beispiel war ich in einer technischen Schule für Jugendliche mit Lernschwierigkeiten. Diese jungen Leute werden von der schweizerischen Gesellschaft als rebellisch und schlecht integriert angesehen. Aber gerade diese Jugendlichen waren sehr interessiert, mir wurden viele sensible Fragen gestellt, die von Herzen kamen. Ich war aber auch in internationalen Schulen mit Kindern aus reicheren Familien sowie in Primarschulen. Die Kinder einer Primarschulklasse wurden von den Lehrern als aufmüpfig und unruhig beschrieben. Auch sie haben sehr viele Fragen gestellt. Dankbar bin ich auch den Leuten von Amnesty Schweiz, die mich diese Woche begleitet haben, und natürlich meinem Übersetzer Juan.


Anna Scherer studiert Politikwissenschaften und ist seit Jahren in der Amnesty Jugendgruppe Baden aktiv.


FEMIZID

Das weltweit grassierende Phänomen wird auch mit "Femizid" umschrieben, einem Begriff des Feminismus für die staatlich geduldete oder geförderte Tötung von Frauen, oft aufgrund ihrer untergeordneten Rolle in der Gesellschaft. Dieses systematische Morden entsteht durch das ideologische und soziale Umfeld des Machismo und der Frauenfeindlichkeit, der alltäglichen Gewalt gegen Frauen und durch die Existenz rechtsfreier Räume.

In Guatemala allein sind seit 2001 über 2000 Frauen und Mädchen ermordet worden - die Fälle sind ungelöst geblieben. Zwar hat die guatemaltekische Regierung 2006 ein nationales Institut für forensische Wissenschaft gegründet, aber der Kongress des Landes hat das INACIF weder mit einem Budget noch mit Personal dotiert, trotz grosszügiger Anfangsfinanzierung der USA.

Allein in den Jahren 2003 und 2004 sind 373 ungelöste Fälle von Frauenmorden in Bolivien registriert worden, 143 in Peru im Jahre 2003. In Kolumbien wird schätzungsweise alle sechs Tage eine Frau von ihrem Ehemann oder Ex-Mann umgebracht. In Mexiko hat die Stadt Ciudad Juarez im Bundesstaat Chihuahua dem Phänomen der Frauenmorde den Namen gegeben, denn gemäss Medien und anderen Quellen mussten seit 1993 rund 400 Frauen ihr Leben lassen , etwa 600 sind verschwunden - unter sogenannt "ungeklärten Umständen".


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 01/02 - 66. Jahrgang - 8. Jan. 2010, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Februar 2010