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VORWÄRTS/645: Repression gegen revolutionäre Politik


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 18/19 vom 14. Mai 2010

Repression gegen revolutionäre Politik

Von Lukas Arnold


Dass die Polizei dem 1. Mai in Zürich mit Repression begegnet, ist nichts Neues. Die Mittel, mit welchen sie ausgeübt wird, dieses Jahr teilweise schon: Neben weitläufigen Verhaftungen wurde erstmals am 1. Mai der Wegweisungsartikel angewandt.


Gut 360 Verhaftungen und ähnlich viele Wegweisungen aus dem Zentrum der Stadt Zürich. So sieht aus Polizeisicht die Bilanz des diesjährigen 1. Mai in Zürich aus. "Die Polizei hat entgegen früherer Jahre sofort und konsequent durchgegriffen und zahlreiche Chaoten verhaftet", lobt die lokale FDP ihren, für den 1. Mai zuständigen, Stadtrat Andres Türler. Konkret heisst dies: Hektische, wilde und zahllose Verhaftung von Menschen, die sich am Nachmittag politisch betätigen wollten, fanden statt.


Verhaftungen, Wegweisungen

Am morgendlichen Umzug nahmen etwa 8000 Menschen teil. Es herrschte trotz Regen durchwegs gute und kämpferische Stimmung; es gab Aktionen und Strassentheater, auch Arbeiterlieder wurden gesungen. Als sich jedoch im Anschluss an den Umzug eine Gruppe von 200 Personen absetzte, um auf dem Paradeplatz wortwörtlich die rote Fahne zu hissen, wurden sie von einem Grossaufgebot der Polizei - samt Wasserwerfer - gestoppt. Ob die Symbolkraft einer roten Fahne auf dem Banken- und Finanzplatz dem freisinnigen Türler so viel Angst eingejagt hat? Oder die offensive Antwort auf den Beschluss der Gewerkschaften, den Paradeplatz auf der diesjährigen Umzugsroute auszulassen?

"Auf einer Demo werden politische Anliegen auf der Strasse sichtbar gemacht. Das geschieht mit Reden, Transparenten, Parolen. Aber die wohl wichtigste Botschaft einer Demo ist die Demonstration selbst: mit einer Demo eignen wir uns den öffentlichen Raum an. Die Strasse wird dabei zum Ort der Politik", so der Revolutionäre Aufbau in seinem Manifest zum 1. Mai.

Mit "öffentlichen Raum aneignen" war dabei offensichtlich nicht nur das Kultur- und Politprogramm am Nachmittag auf dem Kanzleiareal gemeint: Kurz nach drei Uhr startete die Nachdemonstration auf dem Helvetiaplatz. Umgehend wurde diese aber von der Polizei angegriffen. Mit Gummischrot zum einen, aber auch durch bereitstehende zivile "Greifertrupps" der Polizei, deren brutales Vorgehen zahlreiche Verletzte forderte.

Unmittelbar nach dem Beginn der Nachdemonstration kesselte die Polizei den Helvetiaplatz und das Kanzleiareal ein. Fast alle sich darauf befindlichen Personen wurden verhaftet und anschliessend weggewiesen - einzig aufgrund der Tatsache, dass sie sich in oder in der Nähe einer Örtlichkeit befanden, in welcher revolutionäre Politik, sei es zum Beispiel auch nur in der Form von Konzerten, praktiziert wurde. Die zahllosen Verhaftungen hatten nicht den Anspruch, Strafverfahren einzuleiten, sondern sind wohl eine Folge der Konzeptlosigkeit der Polizei, die mit einem hektischeren und harscherem Vorgehen kompensiert werden sollte.

Eine besondere Rolle spielten die Wegweisungen. Diese wurden mit dem neuen Zürcher Polizeigesetz von 2007 eingeführt und ermöglichen es der Polizei, Personen für eine bestimmte Zeit aus einem Gebiet wegzuweisen. Sollte man sich trotz Wegweisung im betreffenden Gebiet aufhalten, droht Strafe.

Den Verhafteten des 1. Mai, ob sie nun Passanten, Demonstranten, Konzertbesucher oder in der Nähe Wohnhafte gewesen sind, wurde untersagt, sich in den Kreisen 1, 3, 4 und 5 aufzuhalten. Am 1. Mai hat sich exemplarisch gezeigt, wie der Wegweisungsartikel dazu gebraucht wird, den öffentliche Raum von "staatsgefährdender", revolutionärer Politik zu säubern. Den öffentlichen Raum, auf dem eben aufgrund seiner Öffentlichkeit politische Kämpfe einen gesellschaftlichen Charakter annehmen - und es wohl für den Staat deshalb so wichtig ist, ihm diesen Charakter zu nehmen.


Drei politisch Aktive in U-Haft

Die Repression zeigte sich jedoch nicht nur bei den vorübergehenden Festnahmen: Bis zu Redaktionsschluss befanden sich drei politisch Aktive in Untersuchungshaft. Zwei davon wurden am 28. April, im Vorfeld des 1. Mai, verhaftet. Als Begründung wurde angegeben, es bestehe der Verdacht, dass sie sich an einem Farbanschlag auf eine Filiale der Credit Suisse am 1. Mai 2009 beteiligt hätten - reiner Zufall, dass die Verhaftungen - fast ein Jahr später - kurz vor dem 1. Mai erfolgten?

Dass Abschreckung durchaus die entscheidende Motivation für die Haft sein könnte, zeigt der Fall des dritten Verhafteten: Dieser wurde nach der gewalttätigen Auflösung der Nachdemo von einem Zivilpolizisten verhaftet. Dadurch, dass der Polizist auf den Demonstranten zugerannt ist, gab es einen Zusammenprall, bei welchem sich sowohl der junge Demonstrant als auch der Zivilpolizist verletzten. Die U-Haft wurde wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte beantragt. Dabei ist sogar in bürgerlichen Massstäben in rechtlicher Hinsicht in keiner Weise ersichtlich, inwiefern sich Untersuchungshaft rechtfertigen würde: eine Verdunkelungs- oder Fluchtgefahr besteht eindeutig nicht. "Hier wird der Grund für die Untersuchungshaft anderswo liegen: Mit dem juristischen Angriff soll uns allen Angst gemacht werden, ganz nach dem Motto: 'In Haft sind einige, gemeint sind wir alle!'", wird in der von zahlreichen Organisationen unterschriebenen Solidaritätserklärung mit den Verhafteten festgestellt. Übrigens ist das nicht die einzige Solidaritätsbekundung für die Gefangenen: Fast täglich werden für sie vor den jeweiligen Gefängnissen in Kloten, Pfäffikon und Zürich Feuerwerkskörper gezündet. Am Samstag wurde zusätzlich beim Flughafengefängnis in Kloten bei einem "Knastspaziergang" für die Freiheit der Inhaftierten demonstriert.

Die Gefangenen haben sich nicht brechen lassen: Sie verweigern allesamt vollumfänglich die Aussage. Und die Solidaritätsbewegung zeigt: auch der politischen Kampf, insbesondere, den öffentlichen Raum - speziell am 1. Mai - für seine Anliegen in Beschlag nehmen zu können, wird sich nicht durch Repression und Einschüchterungen brechen lassen. Da kann die Polizei so "konsequent durchgreifen" und so wild wegweisen wie sie will.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 18/19 - 66. Jahrgang - 14. Mai 2010, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2010