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VORWÄRTS/699: Auf der Jagd nach Kleingeld


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 39/40/2010 vom 22. Oktober 2010

Auf der Jagd nach Kleingeld


sit. Zürich ist eine der reichsten Städte der Welt. Statistiken behaupten, dass es weltweit die Stadt ist mit der höchsten Lebensqualität. Doch was tun, wenn in "Zureich" das Geld für das Überleben nicht reicht?


Freitag, 8. Oktober 2010, 9.25 Uhr, Bahnhof Hardbrücke in Zürich. Ich kaufe mir am Kiosk die Zeitung, setze mich in der kleinen Bahnhofshalle hin und dreh mir eine Zigarette, da mein Zug erst in gut 10 Minuten abfährt. Ich bemerke eine kleine, alte Frau. Sie ist sicher 70 oder mehr Jahre alt und sehr chic gekleidet. Die Dame trägt einen modischen, braunen Hut, dazu passend eine Herbstjacke und einen Rock. Gut gewählt sind auch die Schuhe. In der rechten Hand hält sie eine blaue Einkaufstasche aus Stoff, ihre zum Hut passende Handtasche trägt sie auf Hüfthöhe. Die Dame steht hilflos vor den neuen Billettautomaten, die mich auch schon den letzten Nerv gekostet haben. Vorbei sind die Zeiten, in denen man an jedem Bahnhof an einem Schalter von einem Menschen bedient wurde. Die Technik fordert nun mal ihre menschlichen Opfer.


Die Hoffnung stirbt zuletzt

Ich will aufstehen und der alten Frau meine Hilfe anbieten, obwohl diese Monster der Technik überhaupt nicht meine Freunde sind. Da sehe ich, wie die Frau kurz nach links, dann nach rechts blickt, um dann schnell ihre Hand in den Schlitz zu führen, in den der Automat das Rückgeld ausspuckt. Sucht sie ihr Rückgeld? Die alte Frau geht an den zweiten Billettautomaten gleich nebenan. Gleicher Vorgang: Sie drückt wahllos am Bildschirm herum, Kontrollblick nach links, Kontrollblick nach rechts und schnell die Hand wieder in den Schlitz. Erneut kein Erfolg. Die Frau begibt sich zu den offenen Telefonkabinen. Sie betritt die erste, nimmt den Hörer in die Hand. Sie tut so, als ob sie telefonieren würde, doch ihre freie Hand huscht an die Stelle, an der das Telefon das Rückgeld gibt. Sie hängt den Hörer wieder auf und geht ans zweite Telefon. Sie sucht die Rückgabestelle des Kleingelds, findet diese aber nicht. Sie nimmt trotzdem den Hörer und tut so, als ob sie eine Nummer eingeben würde. Ihre andere Hand tastet immer noch das Telefon ab, doch vergebens, da dieser Apparat nur mit Karten funktioniert.

Die alte Frau begibt sich nun zum Getränke- und Snackautomaten. Sie tut so, als würde sie Geld reinschmeissen, das sie nicht hat. Sie drückt am Automaten herum und untersucht dann die Ausgabestelle nach etwas Münz. Wieder nichts. Die Frau geht zum Lift, nimmt den rechten und verschwindet.

Keine zwei Minuten später geht die Türe des linken Lifts auf. Heraus kommt die chic gekleidete, alte Frau. Sie schaut zu den Billettautomaten, die gerade benutzt werden. Sie geht Richtung Kiosk, aber immer mit dem Blick zu den Automaten. Als einer wieder frei wird, beeilt sie sich dort hin. Sie drückt auf den Bildschirm, Blick nach links, Blick nach rechts in der Hoffnung, dass jemand etwas Kleingeld im Automaten vergessen hat. Wieder nichts. Doch sie bemerkt, dass jemand am telefonieren ist... Ich muss auf den Zug. Wie oft wird es die alte Frau heute noch versuchen? Vier mal, zehn mal, fünfzig mal? Für eine Beute von vielleicht 80 Rappen oder einen Franken, wenn sie Glück hat? Nur gut, das wir in einem reichen Land leben!


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 39/40/2010 - 66. Jahrgang - 22. Oktober 2010, S. 9
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Januar 2011