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VORWÄRTS/719: Revolution mit Gegenwind


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 13/14/2011 vom 8. April 2011

Revolution mit Gegenwind


mic. Noch sind sie da, die dunklen Gestalten. Der Ägyptischen Revolution bläst seit Mubaraks Abgang ein eisiger Wind entgegen. Die PessimistInnen werden sich bestätigt fühlen - doch der Schein trügt.


Der Abgang eines Diktators bedeutet nicht automatisch das Ende einer Diktatur, dessen waren sich in Ägypten wohl die meisten bewusst. Während der westliche Journalisten-Tross mit seinen schusssicheren Westen längst dem nächsten Ereignis nachhechelt, geht der revolutionäre Umbruch in Ägypten weiter. Spätestens mit der Ankündigung von drakonischen Strafen gegen Streikende und Demonstrierende, zeigte der Militärrat sein wahres Gesicht. In den Vortagen hatten die Demos wieder stark zugenommen. Es kam zu "wilden" Streiks, die ArbeiterInnen einiger Sektionen befinden sich seit Wochen im Streik. Das neue Gesetz, welches bis zu den angekündigten Parlamentswahlen im September gilt, sieht Bussen von 8.000 bis 15.000 Franken für den Fall vor, dass "Streiks und Demonstrationen die Arbeit in staatlichen Institutionen, Behörden und privaten oder öffentlichen Firmen stören oder zum Stillstand bringen". Gleichfalls strafbar ist der mündliche oder schriftliche Aufruf zum Protest. Bei einem monatlichen Durchschnittslohn von 50 Franken muten die Strafbeträge geradezu grotesk an.


Die Kettenhunde der alten Banden

In Alexandria und Kairo stürmten aufgebrachte Menschen anfangs März die Geheimdienstzentralen, um Akten vor der Zerstörung zu sichern. Das Regime antwortete postwendend: Nur einen Tag später wurde in Kairo eine koptische Kirche angezündet. Bei den nachfolgenden Protesten richteten "Unbekannte" mit Unterstützung der Militärpolizei ein Blutbad an. 13 koptische Christen wurden getötet. Die westlichen Medien berichteten nur kurz über die Geschehnisse. Dann schickte das Regime seine Kettenhunde: Ein paar hundert Frauen, die auf dem Tahrir-Platz den 8. März feiern wollten, wurden von einem wütenden Mob mit Steinen, Elektroschockern und Knüppeln angegriffen und über den Platz gejagt. Aktivisten vom Tahrir, die den Frauen zu Hilfe eilten, schlug man brutal zusammen. Verletzte waren die Folge. Frauen wurden bedrängt und begrapscht und auch die Militärpolizei prügelte auf sie ein. Am Tag danach stürmten Hunderte - mit Unterstützung der Militärpolizei - den Tahrir-Platz, um die letzte Gruppe der DauercamperInnen, die sich "die vom Tahrir" nennen, vom Platz zu prügeln. Das Camp wurde zerstört, Hunderte verhaftet und es kam zu schweren Übergriffen. Es sind die Ereignisse im Ägypten nach der Revolution.


Jungfräulichkeitstest und Foltervorwürfe

Besonders schlimm erging es den 19 Aktivistinnen, die am 9. März verhaftet wurden. Die Militärpolizei nahm sie wegen dem Verdacht auf Prostitution fest und verschleppte sie ins provisorische Hauptquartier beim Nationalmuseum. Unter dem Vorwurf, sich illegal prostituiert zu haben, demütigte man die Frauen auf schlimmste Art und Weise. In Berichten erzählen die Frauen von der entwürdigenden Untersuchung auf ihre Jungfräulichkeit und von der Misshandlung durch Elektroschocks und physische Gewalt. Man habe sie gezwungen, sich nackt auszuziehen und sie seien von einem Mann - im Beisein weiterer Soldaten - im Genitalbereich untersucht worden. Auch der bekannte Liedermacher Ramy Essam, der die inoffizielle Hymne der Revolution geschrieben hat, wurde gleichentags auf dem Tahrir verhaftet und in den Folterkeller geschleppt. Dort folterte ihn die Militärpolizei stundenlang. Trotz allem: Er und viele andere ÄgypterInnen setzen noch Hoffnung ins Militär, auch weil sie wissen, dass es innerhalb der Armee einen tiefen Riss zwischen der alten und der neuen Garde gibt.


Mehrheit für Referendum

Am 20. März wurde das Referendum über eine Verfassungsänderung mit einer überwältigen Mehrheit von 77 Prozent Ja-Stimmen angenommen, doch kann bei der geringen Wahlbeteiligung von 41,2 Prozent kaum von einer Demokratie-Euphorie rund um die erste freie Abstimmung gesprochen werden. Viele ÄgypterInnen haben widerwillig ein Ja eingelegt, um so den Militärrat möglichst schnell loszuwerden. Das war auch eines der Hauptargumente der "Muslimbrüder", die sich zusammen mit der Regierungspartei NPD für ein Ja zur Verfassungsänderung einsetzten. Damit sollte der Weg für Neuwahlen im September geebnet werden. Der Jugendbewegung und den verschiedenen Oppositionsgruppen geht dies jedoch zu schnell. Sie werfen den Muslimbrüdern vor, gemeinsame Sache mit dem Regime zu machen, um so von baldigen Neuwahlen profitieren zu können, da sie momentan die einzigen organisierten politischen Kräfte darstellen. Am stärksten war der Widerstand gegen die neue Verfassung in Kairo und Alexandria, wo immerhin 40 beziehungsweise 31 Prozent der WählerInnen sie ablehnten.


Die Schrauben werden angezogen

Während die Menschen in Ägypten noch immer darauf warten, dass die Notstandsgesetze, die seit über 30 Jahren in Kraft sind, aufgehoben werden, zieht das Regime die Schrauben wieder an. Bereits wenige Stunden nachdem das "Anti-Demonstrationsgesetz" am 23. März beschlossen wurde, räumte man die besetzte Kairoer Universität gewaltsam. Am selben Tag gingen wieder Tausende spontan auf die Strasse um gegen das Vorgehen des Militärrats zu demonstrieren. Eiligst versicherte dieser, dass sich das neue Gesetz nicht allgemein gegen Demonstrationen und Streiks richte, sondern dass es nur dort zur Anwendung kommen solle, wo "Rowdys" der Wirtschaft und dem Allgemeinwohl schadeten. Auch den Vorfall um die gefolterten und belästigten Frauen vom 8. und 9. März wolle man untersuchen. Neben der alten Junta sind es vor allem die Salafisten, eine radikale islamistische Sekte, welche derzeit eine aggressive Kampagne gegen "Verwestlichung", Frauen ohne Kopftücher und koptische Christen führen und öffentlich zu Gewalt aufrufen.


Und die revolutionäre Jugend?

Die revolutionäre Jugend: Sie putzt, malt und flirtet. Sie geniesst die Freiheit. Trifft sich am Tahrir-Platz zum Flanieren. Wandert in kleinen Gruppen, mit Malkübeln bewaffnet, durch die Strassen der Städte. Sie bemalt Bordsteinkanten weiss, rot und schwarz. Selbst vor Bäumen, Laternen und gar dem ein oder anderen Auto kennt sie keinen Halt. Einige überstreichen die rostigen Gitterzäune eines Museums mit neuer Farbe, andere binden alle paar Meter kleine Abfalleimer und Parolenblättchen an Bäume. Es werden T-Shirts mit Fotos von Freunden, die während der Revolution ums Leben kamen, getragen. Drei blutjunge Aktivistinnen und ein nicht viel älterer Bursche regeln den Verkehr auf einem Platz - daneben steht ein junger Polizist hilflos und deplatziert. Diese Jugend besitzt eine Autorität und Eleganz, die Kairo wohl selten zuvor gesehen hat. Es ist das neue Ägypten, von dem man nur wenig hört, von dem kaum berichtet wird. Dahinter stehen ein neues Bewusstsein und Verständnis. Die Jugend wirft keinen Müll mehr auf den Boden, sie tut es nicht, weil sie Ägypten als "ihr Land" ansieht. Dazu hat man Aktionsformen gefunden, die es dem Regime schwer machen, weil sie kaum autoritär unterdrückbar sind. Die "Jugend vom Tahrir": Sie geniesst innerhalb der ägyptischen Gesellschaft einen unglaublichen Respekt. Wohl auch, weil sie in drei Tagen geschafft hat, wovon die Generäle dreissig Jahre träumten. Ägypten nimmt in der arabischen Welt wieder eine Vorreiterrolle ein. Manchmal ist die Geschichte ein prächtiger Meister der Ironie.


Es geht weiter

Als für den Freitag des 1. Aprils zu Demonstrationen gegen die neuen Gesetze und Provokationen der letzten Wochen aufgerufen wurde, strömten wieder Hunderttausende auf den Tahrir-Platz. Es ist ein langer Weg zu einem anderen, neuen Ägypten. Momentan erkämpft und verteidigt die Bevölkerung verbissen Zentimeter um Zentimeter. Die Ägyptische Revolution passiert jetzt im Kleinen und im Alltag. Alte Denkmuster werden eingerissen, Autoritäten zerfliessen zu Sand und eine Gesellschaft definiert sich neu. Demokratische Wahlen sind da hinderlich oder gar kontraproduktiv. Trotzdem organisiert man sich. Es finden regelmässige Koordinationssitzungen der verschiedenen Jugendorganisationen und der religiösen Kräfte statt. Christen und Moslems debattieren gemeinsam, um eine Spaltung der Bewegung zu verhindern. Es wird klug gehandelt. Die Bewegung reizt die Freiräume geschickt aus und weiss auch, dass das Regime im Hintergrund noch immer die Fäden zieht. Es gibt ein Bewusstsein über das Doppelspiel, welches der Westen in den ersten Tagen der Revolution spielte. Die unbequemen Fragen an den Westen, sie werden früher oder später kommen.


Unterstützt die Freiheit!

Wie angespannt die Situation auch heute noch ist, zeigt die Tatsache, dass die Ausgangssperre noch in Kraft ist - auch wenn sie unlängst verkürzt wurde und nur noch von 2 Uhr bis 5 Uhr morgens gilt. Mehrere Universitäten sind geschlossen und der Spielbetrieb in der obersten ägyptischen Fussball-Liga ist seit fast drei Monaten eingestellt. Aus gutem Grund, denn die Rolle der Ultras (militante Fussballfans) während der ägyptischen Revolution ist nicht zu verachten. Der bekannte ägyptische Blogger El-Fatah formulierte gegenüber Al Jazeera Folgendes: "Die Ultras haben eine bedeutendere Rolle gespielt als jede andere politische Gruppe". Das erstaunt und ist ein weiteres Puzzlestück, das so gar nicht in westliche Denkmuster passen will. Auch nach 68 gab es bei uns nirgendwo revolutionäre Regierungen. Dennoch war unsere Weh danach nicht mehr dieselbe. So surreal es klingen mag: Die grösste Gefahr für die Revolutionen in Tunesien und Ägypten wäre das Ausbleiben der Touristen. Gerade auf das Markenprodukt "Revolution" wird viel Hoffnung gesetzt. Bleiben die Touristen aus, dann wird es die Revolution sehr schwer haben; dann werden die PessimistInnen sagen: "Was wollen wir mit Freiheit und Demokratie, wenn wir kein Brot zum Essen haben?" Dementsprechend lancierten verschiedenste Jugendgruppen anlässlich der Siegesfeier der Ägyptischen Revolution die Kampagne "Unterstützt die Freiheit - besucht Ägypten!". Es bleibt zu hoffen, dass die Touristen bald wieder kommen. Das aber setzt voraus, dass die Kombination "Demokratie&Islam" endlich als natürlich und widerspruchsfrei begriffen wird.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 13/14/2011 - 67. Jahrgang - 8. April 2011
Sonderbeilage Ökologie, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2011