Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

VORWÄRTS/749: Der "neue" Klassenkampf?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 27/28/2011 vom 22. Juli 2011

Der "neue" Klassenkampf?


sit. Der Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt ruft dazu auf, längere Arbeitszeiten einzuführen oder die Löhne zu kürzen. In Dornach kommt es zu einer Massenentlassung. Im Bauhauptgewerbe steht die Erneuerung des Gesamtarbeitsvertrags an, dem rund 100.000 ArbeitnehmerInnen unterstehen. Die Baumeister fordern einen massiven Abbau. Wie reagiert die Gewerkschaft Unia auf die Angriffe der Arbeitgeber?


"Wir gehen davon aus, dass sich in den nächsten Tagen und Wochen vermehrt Unternehmen melden werden, die die Arbeitszeit erhöhen wollen", wird Jonas Lang, Sprecher des Verbands der Maschinen- und Metallindustrie Swissmem, im Tagesanzeiger vom 13. Juli zitiert. Und: "Die Zahl der Anfragen steigt". Im Frontartikel mit dem Titel "Länger arbeiten bei gleichem Lohn ist keine Tabu mehr" kommt auch der neue Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt zu Wort: "Längere Arbeitszeiten bei gleichem Lohn sind in der aktuellen Situation für die Angestellten das kleinste Übel." Bereits in einem Interview in der "NZZ am Sonntag" vom 10. Juli hatte Vogt den Betrieben geraten, die wegen dem "starken Franken" in Schwierigkeiten sind, "die Arbeitsstunden zu erhöhen oder den Angestellten die Löhne zu kürzen". Vogt lieferte die Drohung gleich mit: "Für die Arbeitnehmer ist es besser, vorübergehend mehr zu arbeiten, als die Stelle zu verlieren." Die Gewerkschaften sind gefordert, genauer die Gewerkschaft Unia, wie die aktuellen Auseinandersetzungen beweisen: Ende Juni hat der Chemiemulti Lonza angekündigt, die Wochenarbeitszeit per sofort um zwei Stunden zu erhöhen. Wenige Tage später folgte die Hiobsbotschaft aus dem solothurnischen Dornach, dass die Swissmetal das Werk schliesst und 290 ArbeiterInnen auf die Strasse stellt. Hinzu kommt, dass per Ende Jahr der Gesamtarbeitsvertrag des Bauhauptgewerbes (LMV) ausläuft, dem rund 100.000 BauarbeiterInnen unterstehen. Der Schweizerische Baumeisterverband (SBV) will dies nutzen, um den Vertrag massiv zu durchlöchern. Der Ausgang beim LMV hat immer einen starken Einfluss auf den Abschluss des Gesamtarbeitsvertrages (GAV) der Metallindustrie. Dieser läuft im Juni 2013 aus und die Verhandlungen werden im Herbst 2012 beginnen. Wie antworten die Gewerkschaften auf die verschiedenen Angriffe der Arbeitgeber?


In der Defensive

Bei der Swissmetal in Dornach fordert die Unia in ihrer Medienmitteilung, dass die "Solothurner Regierung eingreifen muss" und "alles daran gesetzt wird, den Produktionsstandort Dornach und die Arbeitsplätze zu erhalten". Von Kampfmassnahmen ist nirgends die Rede. Auch dann nicht, als die Produktion nach einer kompletten Stilllegung teilweise wieder aufgenommen wurde und die Schliessung des Werks bereits angekündigt war.

Statt in die Offensive zu gehen, hat die Unia einen Brief an den Verband der Maschinen- und Metallindustrie Swissmem geschrieben. Darin fordert sie den Arbeitgeberverband auf, "bei der Vertragsfirma Swissmetal auf die Einhaltung des geltenden Gesamtarbeitsvertrages hinzuwirken".

Diese defensive Haltung der Unia erstaunt, denn die Swissmetal mit Martin Hellweg an der Spitze, der sich im 2009 für gerade mal fünf Monate Arbeit ein Salär und Boni in der Höhe von 1,4 Millionen Franken auszahlen liess, ist bei der Unia bestens bekannt. Hellweg war es, der anfangs 2006 die Massenentlassung im jurassischen Werk von Reconvilier durchführte. Er spielte in klassischer, kapitalistischer Weise die Werke Reconvilier und Dornach gegeneinander aus. Laut Swissmetal waren die 113 Entlassungen im Jura nötig, um die restlichen rund 200 Arbeitsplätze in Reconvilier zu sichern sowie jene im Werk Dornach. Hellweg sprach damals von einer nötigen Restrukturierung, die mit Investitionen von 75 Millionen Franken verbunden waren. Zur Erinnerung: In Reconvilier führten die ArbeiterInnen einen langen und harten Arbeitskampf. Die ganze Region solidarisierte sich mit den streikenden Swissmetal-ArbeiterInnen und der Streik war landesweit ein Thema. Die 130 Stellen konnten nicht gerettet werden, aber die ArbeiterInnen haben ihre Würde als Mensch und "Büezer" behalten. Wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft hat verloren.


Bedenkliche Unterschiede

Auch bei der Auseinandersetzung mit der Lonza in Visp ist die Antwort der Unia widersprüchlich. Sie akzeptierte folgendes Verhandlungsresultat: Statt per 1. Juli wird die wöchentliche Arbeitszeit per 1. September um eineinhalb statt um zwei Stunden erhöht. Als "Gegenleistung" erhält die Gewerkschaft die Zusicherung, dass während "der Dauer der Vereinbarung (18 Monate) keine Kündigungen aus wirtschaftlichen Gründen ausgesprochen" werden dürfen. Weiter hat Lonza die Kündigung des Kollektivvertrags zurückgezogen. Ein Erfolg?

Dass solche Arbeitskonflikte einen anderen Ausgang nehmen können, haben die Tessiner KollegInnen der Unia bewiesen. Im März hatte die Firma Trasfor in Molinazza auch eine Erhöhung der Arbeitszeit beschlossen. Die Belegschaft und die Unia reagierten mit einem eintägigen Streik. Die erzwungenen Verhandlungen führten zum Resultat, dass das Arbeitsgericht zu entscheiden hatte, ob die Verlängerung der Arbeitszeit vertraglich haltbar sei. Das Gericht entschied gegen die Verlängerung der Arbeitszeit. Dank dem Streik wurde der Angriff abgelehnt und zwar ohne ein einziges Zugeständnis an die Arbeitgeber. Ein Erfolg!

Und im Bauhauptgewerbe? Auch hier zeigen sich bedenkliche Unterschiede in der Mobilisierungsfähigkeit der Gewerkschaft - zumindest in dieser ersten Phase des wichtigen Arbeitskampfs um die Erneuerung des LMV. Im Tessin streikten am Montag, 4. Juli über 1800 BauarbeiterInnen während dem ganzen Tag und legten über 100 Baustellen lahm. In der Deutsch- und Westschweiz waren verlängerte Mittagspausen auf einzelnen Baustellen das höchste der Kampfgefühle.


Kämpfe verbinden

Was tun? Halten wir zuerst mal fest, dass guter Rat teuer ist. Allgemein bekannt ist auch, dass ein Streik keine Sonntagsschule ist. Trotzdem: Arbeitszeitverlängerungen und Betriebsschliessungen kampflos zu akzeptieren, müsste für die grösste Gewerkschaft der Schweiz schlicht ein Tabu sein. Weiter fällt auf, dass die verschiedenen Arbeitskämpfe nie in einen Zusammenhang gestellt werden. Lonza bleibt Lonza, Dornach ist Dornach und der LMV eben der LMV. Sinnvoll und nützlich wäre es, die verschiedenen Arbeitskämpfe zu politisieren, sie in einem gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Aufzeigen, dass sie Teil des neoliberalen Angriffs sind, genau so wie der Abbau bei der Arbeitslosenversicherung und die Verschlechterung der Invalidenversicherung - um nur zwei Beispiele zu nennen. Die Politisierung der verschiedenen Arbeitskämpfe führt längerfristig zu einer besseren Mobilisierungsfähigkeit. Und diese zu erhöhen, muss dass Ziel der Gewerkschaft sein. Denn heute ist sie nur im Kanton Tessin so, wie sie sein muss, um dem herrischen Getue der Patrons stoppen zu können. Das reicht nicht! Beweis dafür sind Lonza und Swissmetal. Genau so wie die Lohnverhandlungen 2010 im Bauhauptgewerbe. Die Unia forderte 150 Franken mehr pro Monat, die Baumeister boten etwa 30 an. Es kam zu keiner Einigung und somit zu keiner generellen Lohnerhöhung. Die Gewerkschaft Unia steht vor schwierigen und wohl auch wegweisenden Wochen und Monaten.


*


Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 27/28/2011 - 67. Jahrgang - 22. Juli 2011, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77, Fax: 0041-(0)44/242 08 58
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch

vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2011