Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

VORWÄRTS/750: Behinderte vom Platz stellen?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.27/28 2011 vom 22. Juli 2011

Behinderte vom Platz stellen?

Von Michi Stegmaier


Seit Jahren wird bei der IV auf dem Buckel der Schwächsten gespart. Nun plant der Bundesrat einen weiteren Angriff und Leistungsabbau. Betroffen sind dieses Mal Jugendliche mit Behinderung. Ihnen soll in Zukunft bei fehlender Produktivität die Berufsbildung verweigert werden.


Der Schweizer Bundesrat plant eine weitere akrobatische Sparübung, um die marode Invalidenversicherung zu sanieren. Einmal mehr ganz der Logik: "Zuerst der Profit - dann der Mensch" folgend, sollen die Hürden für die berufliche Ausbildung von Jugendlichen mit Behinderung hinaufgesetzt werden. Sie sollen eine Lehre nur noch dann finanziert bekommen, wenn eine gewisse Perspektive besteht, dass sie irgendwann einen Lohn erwirtschaften, der über der gesprochenen IV-Rente liegt. Zwei Drittel der heutigen Lehrlinge, die über die Invalidenversicherung als einmalige berufliche Massnahme eine Lehrstellen finanziert bekommen, können diese Bedingungen jedoch nicht erfüllen. Für die Direktbetroffenen und ihr soziales Umfeld ist das eine dramatische Entwicklung mit tief einschneidenden Folgen. Es ist inakzeptabel, dass Jugendlichen mit Behinderung aus reinen Rentabilitätsüberlegungen die Berufsbildung verwehrt wird. Gegen dieses behindertenfeindliche Ansinnen des Bundesrates formiert sich aber Widerstand. So haben die drei Organisationen insieme Schweiz, die Vereinigung Cerebral Schweiz und Procap Schweiz die Petition "Berufsbildung für alle - auch für Jugendliche mit Behinderung" lanciert. Mit der Petition fordern die drei Organisationen den Bundesrat auf, für Jugendliche mit einer Behinderung eine berufliche Grundausbildung zu garantieren, selbst wenn sie stärker beeinträchtigt sind und keine realen Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben.


Arbeit ist mehr als Geld verdienen

Jugendliche mit Behinderung haben Berufswünsche wie alle anderen auch. Sie möchten vielleicht im Gartenbau oder einem Restaurant arbeiten, vielleicht als Metallbaupraktiker oder Siebdruck-Assistentin. Wie alle anderen auch wünschen sich Jugendliche mit Behinderung eine vielfältige und interessante Arbeit, die sie fordert und in ihrem Selbstwertgefühl bestätigt. Ohne Ausbildung geht das nicht. Auch Jugendliche mit Behinderung benötigen eine Berufsbildung, die ihnen grundlegende Arbeits- und Sozialkompetenzen vermittelt, um ihre Berufswünsche zu realisieren. Als besonders stossend erachten die drei Organisationen, dass bereits im Alter von sechzehn bis achtzehn Jahren darüber entschieden werden soll, ob Jugendlichen mit einer Behinderung eine berufliche Ausbildung zu- oder abgesprochen wird. Und dies aufgrund von Abwägungen, ob die erbrachte Arbeitsleistung eines Tages ausreichend wirtschaftlich verwertbar sein wird oder nicht. Der Zeitpunkt sei viel zu früh, um einen definitiven Entscheid über die Berufslaufbahn eines jungen Menschen zu fällen, kritisieren die drei Behindertenorganisationen. Jugendliche mit Behinderung verdienen die Chance, sich wie andere Jugendliche persönlich und beruflich zu entwickeln, um so ihr Potential zu entfalten.

Seit Jahren jagt bei der IV eine Revision die andere. Gespart wird ausschliesslich bei den Betroffenen selbst. Statt adäquate und machbare Lösungen zu präsentieren und die Wirtschaft in die Pflicht zu nehmen, wird der Druck einfach auf die Schwächsten abgewälzt. Mit einer unappetitlichen Missbrauchsdebatte und Steuergeschenken an die Reichen lässt sich die Invalidenversicherung jedenfalls nicht sanieren.


Die Petition kann noch bis zum 1. September 2011
unterschrieben werden. Siehe auch:

www.berufsbildung-für-alle.ch


*


Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 27/28 2011 - 67. Jahrgang - 22. Juli 2011, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch

vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2011